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LATEINAMERIKA/051: Was wird aus der "kontinentalen Mission"? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 8/2008

Was wird aus der "kontinentalen Mission"?
Eine Zwischenbilanz zur Rezeption der Bischofsversammlung von Aparecida

Von Hans Czarkowski


Seit der V. "Generalkonferenz" der lateinamerikanischen Bischöfe im brasilianischen Aparecida (vgl. HK, Juli 2007, 343ff) ist über ein Jahr vergangen. Die katholische Kirche Lateinamerikas bemüht sich inzwischen um eine Umsetzung der Perspektiven von Aparecida für die einzelnen Länder. Dabei wird überall das Projekt einer "kontinentalen Mission" angegangen, aber auch neu über das politische Engagement der Kirche nachgedacht.


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In die katholische Kirche Lateinamerikas ist neue Bewegung gekommen. Das Dokument der Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe vom 13. bis 31. Mai 2007 hat schnell seinen Weg in die Ortskirchen des Kontinents gefunden. Seit der Veröffentlichung durch Benedikt XVI. am 29. Juni 2007 und der Präsentation bei der 31. Ordentlichen Versammlung und der damit verbundenen Neuwahl der CELAM-Spitze in Kuba vom 4. bis 13. Juli 2007 ist dieser programmatische Entwurf für das theologische Denken und pastorale Handeln der katholischen Ortskirchen in Lateinamerika maßgebend wirksam.

Wenn man die offiziellen Initiativen der Kirche in Lateinamerika ein Jahr nach Aparecida im Vorgang der Umsetzung untersucht, wird erkennbar, dass die Konferenz und ihr Dokument einen kontinental umfassenden Reflexions-, Planungs- und Aktionsprozess in Gang gebracht hat. Er wird schrittweise in den 22 Bischofskonferenzen mit fast 800 Diözesen mit zusammen 481 Millionen Katholiken (das sind 42,56 Prozent von 1,13 Milliarden Katholiken weltweit) in über 31.000 Pfarreien mit zehntausenden mit diesen verbundenen Kapellen- und Basisgemeinschaften (CEBs - "comunidades ecclesiales de base") umgesetzt.

Wie, das ist kurzfristig quantitativ kaum sachgerecht abzuschätzen und zu bilanzieren. Die Wirkung des Dokuments wird daher von außen leicht unterschätzt. Längst sind zentrale Botschaften in Liedern, Slogans, Symbolen, Texten und Radiobotschaften popularisiert. Aparecida 2007 hat einen Raum mittelbarerer Ausstrahlung in die katholische Kirche der USA und von Kanada mit zusammen rund 260 Diözesen gefunden: über die Kooperationskonferenzen der Bischöfe von Nord- und Südamerika sowie der Karibik, durch den hohen Anteil "Hispanics", der Migranten, die mit und ohne Legalisierung aus Lateinamerika im Norden des Kontinents oft als engagierte Christen leben, über die Karibik als kulturelles Bindeglied zwischen Nord und Süd.


Neuer Schwung in der Karibik

Die V. Konferenz der lateinamerikanischen und karibischen Bischöfe in Aparecida hatte bewusst den Titel "Lateinamerika und Karibik" unterstrichen. Die Bischofskonferenz der Antillen (AEC) war daher in Aparecida präsent und wurde vom damaligen Vorsitzenden der AEC, dem Erzbischof von Kingston (Jamaika), Lawrence Burke, vertreten. Bei ihrer Vollversammlung vom 27. bis 30. März 2008 und bei ihrem Ad-Limina-Besuch in Rom vom 31. März bis 7. April 2008 hat sich die Kirche der Antillen dafür entschieden, in Zusammenarbeit mit der Kirche in den USA die in Aparecida ausgerufene "kontinentale Mission" praktisch umzusetzen.

Schwerpunkte sollen sein ein neues Engagement für geistliche Berufe unter der Jugend der Antillen und die Erschließung vitaler Begegnungen mit Christus, gerade auch für die Jugendlichen. Die Katechese soll zu einem "lebenslangen Lernprozess" ausgebaut werden. Die Erwachsenenkatechese müsse die religiöse Bildung der Kinder und Jugendlichen begleiten. Begrüßt wurde, dass mit Michael James ein Diakon zum Sekretär der AEC in Trinidad & Tobago mit Sitz in St. James bestellt wurde. Der Nachfolger von Erzbischof Burke in Kingston, Erzbischof Donald Reece, will als neu gewählter Vorsitzender der AEC die pastorale Arbeit nach den Aparecida-Beschlüssen in den Antillen voranbringen.

Es wurde vom AEC auch darauf hingewiesen, dass die Bischofskonferenzen von Haiti, von Kuba und von Puerto Rico eigene Programme zur Realisierung von Aparecida gestalten werden. Die kubanischen Bischöfe bieten eine Website an, die Strukturen und Informationen über den Besuch von Johannes Paul II. im Januar 1998 aufzeigt, aber bislang erst wenig Material zu Aparecida anbieten kann. Die Bischofskonferenz der Dominikanischen Republik hat nach dem methodischen Dreischritt "Sehen, Urteilen, Handeln" eine sehr kritische Analyse der eigenen pastoralen Situation in Diözesen des Landes vorgenommen und in einem neuen Pastoralplan Lösungswege aufgezeigt, die Aktionen der Kirche missionarisch effektiv zu machen. Mit Hilfe animierter Grafiken sollen die Verantwortlichen in Kursen lernen, diese neuen Akzente für einen missionarischen Einsatz den Pastoralkräften zu vermitteln.


Initiativen in Mittelamerika

Die in der SEDAC (Secretariado de América Central) locker zusammengeschlossenen mittelamerikanischen Bischofskonferenzen bemühen sich um eine eigenständige nationale Umsetzung von Aparecida, tauschen sich aber auf der SEDAC-Ebene aus. Im Vordergrund der Kooperationskonferenz vom 30. November 2007 in Nicaragua standen die Förderung der geistlichen Berufe in Mittelamerika und Panama.

Der Weihbischof von San Salvador, Gregorio Rosa Chávez, und der Weihbischof von San Pedro Sula in Honduras, Romulo Emiliani, forderten bei dem Treffen noch mehr Effektivität des mittelamerikanischen Mediennetzwerks, um das Verständnis von Aparecida bei der Bevölkerung zu vergrößern. Es wurde davon gesprochen, dass auf diese Weise geholfen werden könnte, den starken Migrationswunsch der Menschen in Richtung USA durch die Überwindung der Armut zu verringern.

Auf den Websites der Bischofskonferenzen von El Salvador, von Costa Rica und von Nicaragua werden ausführlich die Nachrichten und Arbeitshilfen des CELAM vorgestellt und wird zu den Weiterbildungsangeboten von ITEPAL (Instituto Teológico para América Latina) sowie des Bibelzentrums CEBIPAL (Centro Bíblico Pastoral para América Latina) nach Bogotá in Kolumbien eingeladen.

Von Honduras aus ist Kardinal Oscar Rodríguez Maradiaga, Erzbischof von Tegucigalpa, auf nationaler und internationaler Ebene ein engagierter Anwalt für die Menschen Lateinamerikas aus der Perspektive von Aparecida. Er repräsentiert auch die Vorstellungen der honduranischen Bischöfe. Auf dem Katholikentag in Osnabrück forderte Kardinal Rodríguez im Mai 2008 eine aktivere Rolle der Kirche in Politik und Gesellschaft: "Gerade in Lateinamerika sind große Veränderungen notwendig. Wir als Kirche müssen das Evangelium und die Katholische Soziallehre in die Politik unserer Länder einbringen", so Rodríguez bei der von Adveniat und Misereor veranstalteten Podiumsdiskussion "Ein Jahr nach Aparecida" im Eine-Welt Zentrum des Katholikentages in Osnabrück.

Die Bischöfe in Mexiko wollen die neue Evangelisierung im Lichte des Dokumentes von Aparecida vertiefen und umsetzen, um auf die Herausforderungen des Landes im Geist von Aparecida eine Antwort zu finden. Sie wollen eine "Kirche von Jüngern und Missionaren sein". Mit ihrer programmatischen "Botschaft an das Volk Gottes" in Mexiko hat sich die 85. Vollversammlung der mexikanischen Bischofskonferenz Ende März 2008 unter ihrem Vorsitzenden Carlos Aguiar Retes, Bischof von Texcoco - einer der Vizepräsidenten des Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in der vergangenen Periode - ganz auf Aparecida eingelassen.

Zwar sei die Lage im Lande gleichsam "grau", aber sie wollten eine Neuorientierung der pastoralen Strukturen und Methoden erreichen. Sie betonen mit Aparecida, dass sich in Mexiko der "Wandel einer Epoche" vollziehe, zumal sich in den Zonen der Gewalt und der Armut immer mehr eine Kultur des Todes durchsetze. Sie vertrauen auf Gott, den Herrn der Geschichte, der der Kirche den Weg zeige. Dazu gehöre es, die "Trennung von Glauben und Leben in Mexiko zu überwinden", mit erneuerter Kraft die bevorzugte Option für die Armen umzusetzen und eine "Kirche von Jüngern und Missionaren Christi" zu werden.


Aufmerksamkeit für die indigenen Kulturen

Die bolivarianischen Andenländer, Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien haben sich zwar kirchlich nicht zu einer organisierten Subgruppe zusammengefunden, wie Mittelamerika mit Panama (das früher zu Kolumbien gehörte) in der SEDAC. Sie sind geografisch in ihrer Kombination zu unterscheiden von der durch den Präsidenten Venezuelas, Hugo Chávez, ins Leben gerufenen politischen Vereinigungsinitiative "Alternativa Bolivariana" mit Venezuela, Kuba, Nicaragua und Bolivien. Doch es gibt unter den Bischöfen zahlreiche Kontakte und kirchlich gleichartige Prioritäten, allein schon durch den hohen Anteil der Indígena-Bevölkerung in Ecuador, Peru und Bolivien. So spielt unter den Horizonten von Aparecida thematisch die Besinnung auf die indigenen Kulturen eine größere Rolle als in anderen Ländern.

Die politischen Umschichtungen durch die Wahlergebnisse in Ecuador und Bolivien zugunsten eines verstärkten Einflusses der indianischen Gruppierungen, insbesondere der Quetchua und Aymara, haben diese gemeinsamen Perspektiven noch bewusster gemacht. Andererseits macht die Verbindung von pro-indigener Politik und sozialistischen Gesellschaftskonzepten es der Kirche nicht leicht, ihre Werte und Konzepte politisch wirksam umzumünzen. Es fällt auf, wie gerade im Medienbereich im Bezug auf Aparecida von kirchlicher Seite auf moderne elektronische Medien gesetzt wird, auch mit eigener Software, die über das zentrale Informationsnetz RIIAL vertrieben wird.

Die Bischofskonferenz von Bolivien gibt auf ihrer Website den aktuellen Angeboten des CELAM im Bereich der Fortbildung nach Aparecida zentralen Raum, greift aber auch die Anregungen der V. Konferenz auf, in aktuellen Fragen zu mehr Zusammenarbeit zwischen den Ortskirchen benachbarter Länder zu finden. Vom 17. bis 19. Juni 2008 kamen die Bischöfe der Nachbardiözesen von Brasilien und Bolivien in Guajará-Mirim im Bundesstaat Rondonia in Brasilien zu ihrer 10. Begegnung zusammen. In einer gemeinsamen Botschaft verurteilten sie Drogenhandel und Gewalt in den Städten der Grenzregion, forderten einen Prozess umfassender Transformation in der Region und verwiesen auf die Botschaft des Evangeliums, die den Menschen Hoffnung gibt, "die den Armen nahe sind". Gemeinsame Schwerpunkte der Pastoral seien der Ausbau der Basisgemeinden sowie die Hilfe für die Migranten ohne Dokumente. Die in Aparecida in Gang gebrachte kontinentale Mission werde sich - so hoffen sie - positiv auf die kirchliche Entwicklung der Grenzregion auswirken.

Die Brasilianische Bischofskonferenz (CNBB) hatte ihre bereits für die Vollversammlung des Jahres 2007 vorbereiteten "allgemeinen Leitlinien für die evangelisierende Aktion" wegen des "Ereignisses von Aparecida" um ein Jahr verschoben und sie im April 2008 nach eingehender Beratung unter Berücksichtigung des Aparecida-Dokumentes verabschiedet. Sie gelten bis zum Jahr 2010. Der Generalsekretär der CNBB und Weihbischof von Rio de Janeiro, Dimas Lara Barbosa, unterstreicht in dem einführenden Text, dass diese Leitlinien die Beschlüsse für Brasilien anpassen (vgl. Dokument von Aparecida, Ziffer 431).

In 216 Artikeln wird herausgearbeitet, wie die Kirche in Brasilien die vom Leben der Gesellschaft Ausgeschlossenen in einer solidarischen, gerechten und geschwisterlichen Weise integrieren kann. Die Leitlinien laden die brasilianischen Katholiken ein "mit Courage, Enthusiasmus und Kreativität die gültige Botschaft des Evangeliums weiterzugeben" und das "neue Leben in Christus zu entwickeln". Der "persönlichen Begegnung mit Christus" wird daher größte Bedeutung zugemessen. Aus der Kraft ihrer Taufe sollen die Gläubigen zu Jüngern und Missionaren Jesu Christi werden. "Jede Diözese soll eine 'missionarische Gemeinschaft' werden. Sie soll beseelt werden von einer Spiritualität der Gemeinschaft und Teilhabe".

Im weiteren Verlauf werden die aktuelle brasilianische kirchliche und gesellschaftliche Situation einer Analyse unterzogen, die Leitlinien eingehender begründet und konkrete Schritte des Handelns aufgezeigt. Unschwer ist der Dreischritt "Sehen, Urteilen, Handeln" als roter Faden zu erkennen. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass die katholische Kirche Brasiliens nach innen wie nach außen missionarisch ist. So werde Brasilien an der großen kontinentalen Mission mitwirken, "ihr aber ein brasilianisches Gesicht geben".


Wichtige theologische Beiträge

Auf diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Präsident der brasilianischen Caritas und Bischof von Jales (Sao Paulo), Demetrio Valentini, in einem Pressegespräch bei der 46. Vollversammlung durchaus selbstbewusst festgestellt hatte: Aparecida habe Lateinamerika und insbesondere Brasilien seine pastorale und missionarische Identität wiedergegeben. Systematisch wendet der Bischof - exemplarisch für viele seiner rund 300 Bischofskollegen in Brasilien - die Beschlüsse von Aparecida als Leitlinien in seiner Diözese auf Pastoralkonferenzen und in Weiterbildungskursen an. Er verweist darauf, dass Aparecida den kirchlichen Basisgemeinden "Bürgerrechte in der Kirche" gegeben habe, auch wenn es anfänglich manche Reserven bei den Bischöfen gegeben habe.

Es ist ein wichtiger Beitrag für die Integration, dass sich auch führende brasilianische Theologen am Prozess von Aparecida beteiligen. Der Missionstheologe Paulo Suess hat in einem viel beachteten "Dicionário de Aparecida" 40 Schlüsselworte für eine pastorale Lektüre des Dokumentes von Aparecida aufgezeigt (vgl. Editorial Paulus, Sao Paulo, 2008). Die 40 Begriffe decken sich mit den Stichworten der "diretrizes" der CNBB, straffen sie aber auf zentrale Perspektiven wie Inkulturation, interreligiösen Dialog, Ökumene, Identität, Geschichte, Kirche, Heiliger Geist, Arme, um nur einige zu nennen.

Suess ordnet die Schlüsselbegriffe nach sechs Hauptkategorien: 1. Ausgangspunkte der Diskussion, 2. theologische Grundlagen, 3. Subjekte der Evangelisierung, 4. Praxis, Haltungen und Ergebnisse, 4. Mittel, 5. Instrumente und Strukturen sowie 6. Horizonte. Der Autor möchte mit dem kleinen Lexikon für den "Wald der 240 Seiten des Textes von Aparecida" ein semantisches Netz anbieten, das eine transversale Lektüre ermöglicht: für eine Ansprache, für eine Vorlesungsreihe, für eine schnelle persönliche Orientierung.

Die Rolle der Frau im Prozess von Aparecida kommt in einer Stellungnahme der Konferenz der Ordensleute Brasiliens (CRB) stärker zur Geltung. Die Theologin Vera Bombonato vertiefte zum Beispiel bei einer regionalen Studienkonferenz in Brasilia am 31. Mai 2008 die Positionen von Aparecida zum geistlichen Leben und Schwester Rosali unterstrich, dass Frauen und Schwestern an Orte gehen können, wohin andere nicht kommen können. Das geistliche Leben fordert dazu heraus alternative Räume zu schaffen, in denen sich die "Ausgeschlossenen und Eingeschlossenen" begegnen können, damit die "Excluidos" lernen, Protagonisten ihrer eigenen Geschichte werden zu können.

Vor und während der V. Konferenz in Aparecida war Kardinal Francisco Javier Errázuriz, der Erzbischof von Santiago de Chile, Präsident des Lateinamerikanischen Bischofsrates. Seine ausgleichende Moderation hat Vorbereitung und Verlauf dieses fünften kontinentalen Treffens entscheidend mitgeprägt. Als Leitmotiv war entscheidend der Satz "Wir brauchen ein neues Pfingsten und eine Kirche ohne Grenzen", den er am 19. Juni 2008 bei einem Familienkongress in Santiago de Chile formuliert und damit auch die Umsetzung von Aparecida für die verschiedenen Zielgruppen der katholischen Kirche Chiles signalisierte.

Bereits am 9. Juli 2008 hat die Chilenische Bischofskonferenz die "neuen pastoralen Leitlinien für die nächsten fünf Jahre" veröffentlicht. Sie greifen die Beschlüsse von Aparecida auf und machen sie für die pastorale Praxis des Landes verbindlich: Gefördert werden soll die persönliche Begegnung mit Christus im Wort Gottes, beim Einsatz für die Armen und Ausgeschlossenen. Das soll im Kontext der aktuellen Wirklichkeit des chilenischen Volkes in pastoralen Schwerpunktfeldern erfolgen. Hervorgehoben wird die Rolle der "constructores de la sociedad", also der Verantwortlichen für die Gesellschaft aus den Reihen der Arbeiter, Unternehmer, den sozialen Initiativen, der Akademiker, Studenten, Politiker und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Medien.


Deutliche gesellschaftskritische Akzente

Zahlreiche Publikationen und Sendungen in chilenischen Hörfunk- und Fernsehprogrammen befassen sich mit Aparecida. Die "Editorial Tiberiades" veröffentlicht eine Serie von 25 Arbeitsheften in einer "einfachen pastoralen Sprache", in denen die Hauptthemen von Aparecida erschlossen werden sollen. Das erste Heft hat Kardinal Francisco Javier Errázuriz selbst verfasst. Er greift Stichpunkte wie missionarische Berufung, Pfarrei und kirchliche Basisgemeinden, Volksfrömmigkeit, Ämter und Dienste in der Kirche, katholische Erziehung sowie den Bereich der Kultur und Bildung auf.

Zur Rolle der Frau in der Kirche im Zusammenhang von Aparecida äußerte sich beim Katholikentag in Osnabrück die chilenische Theologin Loreto Fernández, eine von 25 weiblichen Teilnehmern an der V. Konferenz. Sie hob hervor, dass die Frauen ihre Anliegen in das Schlussdokument hätten einbringen können: "Die Dinge gehen Schritt für Schritt, aber sie gehen voran". So hätten die Bischöfe in ihrem Schlussdokument auf die besondere Dringlichkeit des Einsatzes für die benachteiligten Frauen hingewiesen. Dass die Schlussbotschaft ausdrücklich von "Jüngerinnen und Jüngern" spreche, sei ein wichtiges Signal an die Frauen Lateinamerikas.

Ganz anders setzt Argentinien an. War schon in dem Bericht des Erzbischofs von Buenos Aires, Kardinal Jorge Mario Bergoglio, in Aparecida zur Lage in Argentinien ein scharfer gesellschaftskritischer Akzent zu spüren, so hat offenbar Aparecida die Kirche in Argentinien bestärkt, sich mit eigenen Positionen in die gesellschaftliche Situation des Landes einzumischen. Das Schlussdokument wurde am 3. September 2007 einer breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit in Buenos Aires präsentiert und war der Auftakt zu gezielten politischen Stellungnahmen, zum Beispiel für den innergesellschaftlichen Dialog, für die Wahrung christlicher Positionen in der Sexualerziehung und in der Bildungspolitik generell. Die Kirche in Argentinien hat sich aus dem "Offizialismus" unterschiedlicher peronistischer Strömungen in Argentinien emanzipiert.


Die Rolle des CELAM

Argentinien strahlt hinaus in die kleineren Länder des Mercosur, nach Uruguay und nach Paraguay, die sich aber auch abgesetzt von den beiden großen Nachbarn um ein eigenes Profil bemühen. Das Dokument von Aparecida wurde in Paraguay in einer eigenen Edition von der Bischofskonferenz herausgegeben und verbreitet. In Paraguay spielt die Volksfrömmigkeit des Wallfahrtsortes Caacupé eine große Rolle. Dort suchen jährlich Millionen von Katholiken geistliche Erfahrung und persönliche Orientierung. Aparecida hat diesen Weg der Volksfrömmigkeit bestätigt.

Die Kirche in Uruguay findet neue spirituelle Wege, um die Säkularisierung zu überwinden. In beiden Ländern hoffen die Bischöfe im Sinne von Aparecida, dass sich katholische Laien aus der Zivilgesellschaft in die Politik des Landes in verschiedenen Parteien einsetzen, nachdem sich zunächst in Uruguay und dann in Paraguay sozialdemokratisch und sozialistisch orientierte Parteien gegen die bisherigen "oficialistas", also gegen die jahrzehntelang herrschenden "Colorados", in anerkannt seriösen Wahlen durchgesetzt haben. Demgegenüber zeichnet sich eben ein Aufbrechen des "Oficialismo" durch die Opposition in Argentinien noch nicht ab, auch wenn die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner neue sozialpolitische Akzente zu setzen sucht.

Obwohl die Umsetzung von Aparecida primär in den einzelnen lateinamerikanischen Ländern mit ihren Ortskirchen geschieht, kommt dem lateinamerikanischen Bischofsrat CELAM (Consejo Episcopal Latinoamericano y del Caribe) eine wichtige, Impuls gebende und koordinierende Rolle zu. Dabei ist zu beachten, dass die V. Konferenz kirchenrechtlich eine Versammlung gewählter, delegierter und vom Vatikan bestätigter lateinamerikanischer Bischöfe mit Gästen und Experten war. Dem CELAM war zuvor die Vorbereitung übertragen worden. Die V. Konferenz in Aparecida hatte demgegenüber ihre eigene Leitung und Strukturen, die nur zum Teil mit dem CELAM identisch waren. Es war das Ziel, wie Kardinal Francisco Javier Errázuriz, einer der drei Präsidenten der V. Konferenz und zugleich Präsident des CELAM, sie "ohne Zwangsjacke" als offenen und transparenten Vorgang zu gestalten.

Das soll auch für die Umsetzung gelten. So bietet der Lateinamerikanische Bischofsrat mit seinen Strukturen substanzielle Hilfen an. Zu nennen sind insbesondere die theologisch und pastoral qualifizierenden Bildungsangebote von ITEPAL und von CEBIPAL, dem Bibelzentrum. Hinzu kommt die Vermittlung praktischer Arbeitshilfen, insbesondere eines didaktisch aufbereiteten "Werkstattmodells für das Dokument von Aparecida" sowie weitere Medien und die digitale Vernetzung durch RIIAL.

Für die in Aparecida beschlossene "kontinentale Mission" wurden vom CELAM eine eigene Kommission und ein eigener Programmstab geschaffen. Insgesamt arbeiten an der Umsetzung insgesamt 50 Personen. Zentrale Verantwortliche sind der in Kuba im Juli 2007 neu gewählte Präsident, Raymundo Damasceno Assis, Erzbischof von Aparecida, und der Generalsekretär, Weihbischof Victor Sánchez von Mexico-City. In CELAM-Texten wird betont, dass die "kontinentale Mission" durch die Arbeit in den Ortskirchen längst begonnen hat, aber durch die zentrale Eröffnung beim Kontinentalen Missionskongress in Quito im August 2008 einen Schub nach vorn und in die Breite erhalten soll.


Perspektiven für den ganzen Kontinent

Diese Streiflichter über die Geografie der Kirche Lateinamerikas lenken nach der Methode im Dreischritt des "Ver-Juzgar-Actuar" (Sehen - Urteilen - Handeln) des Dokumentes von Aparecida den "Blick auf die Realität", auf den beurteilenden Kontext des "Lebens und der Botschaft Jesu Christi" und auf die "Initiativen für das Leben Jesu Christi für unsere Völker".

In der Tat hat sich der Blick der Kirche in Lateinamerika auf die Realität des Kontinents in dem einen Jahr nach Aparecida verschärft, ist es zu Präzisierungen in den politischen Erklärungen gekommen. Die Ergebnisse von Aparecida wurden weitgehend in die nationalen Pastoralpläne aufgenommen, wobei das mit vielen Details besonders in Brasilien gelungen ist. Die Bischöfe in ganz Amerika begrüßen, dass Aparecida bereits im Arbeitspapier, bei den Diskussionen und bei der Umsetzung im zurückliegenden ersten Jahr, die methodische Arbeitsweise in der gesellschaftlichen und in der pastoralen Reflexion von Medellin (1968) und Puebla (1979) im Unterschied zu Santo Domingo (1992) wieder aufgenommen hat.

Der Dreischritt "Sehen, Urteilen, Handeln" wird auf die kirchliche, soziale, wirtschaftliche und politische Situation des jeweiligen Landes angewandt. Stärker werden dabei die in Aparecida von den Vorsitzenden der Bischofskonferenzen vorgetragenen Analysen aufgegriffen und präzisiert, wie dies in politischer Hinsicht, vor allem in Argentinien, Venezuela und Ecuador ansteht. In Paraguay wird nach der Wahl von Fernando Lugo zum neuen Präsidenten mit einem Stimmenanteil von über 40 Prozent noch vorsichtig abwartend, aber nicht mehr negativ reagiert, und es werden erste Kontakte für einen Dialog geknüpft.

Überhaupt kommt das Verhältnis von Staat und Kirche in Lateinamerika neu in den Blick. Es wird offenkundig, dass die neuen sozialistisch orientierten Präsidenten und Regierungen die Trennung von Staat und Kirche noch deutlicher betonen, zumal, wenn sie aus einem kirchlichen Kontext kommen. Das führt vor allem in den Bereichen einer angewandten christlichen Ethik für die Werte des Lebens und in der Anerkennung kirchlicher Nicht-Regierungsorganisationen und in den Bereichen Bildung und Sozialpastoral (Caritas) zu merkbaren Spannungen. Offene Konflikte zwischen Staat und Kirche gibt es vor allem in Venezuela.

Die Kirche fordert übereinstimmend in den einzelnen Ländern - abgestimmt auf die jeweilige Situation - weiterhin die Überwindung der Korruption, gerade auch bei den Wahlen, und die Beseitigung der Ursachen der Gewalt und einer Kultur des Todes durch den Drogenhandel und -konsum, von dem vor allem Jugendliche, insbesondere junge Männer, betroffen sind. Konfliktiv verlaufen die Auseinandersetzungen zu ökologischen Themen, wie den Schutz der Regenwälder und der Produktion von Biotreibstoffen. Getragen wird die Arbeit der Kirche in diesen Bereichen durch eine wachsende Zahl ausgesprochen mutig arbeitender zivilgesellschaftlicher Initiativen, die "transversal", also in unterschiedlichen politischen Strömungen aktiv sind, wie es Aparecida als Antwort auf den "Wandel der Epoche" gefordert hatte.

Eindeutig wird die bevorzugte Option für die Armen und die Integration der gesellschaftlich Ausgeschlossenen, der "excluidos", gefordert, die das Handeln in Politik und Gesellschaft bestimmen müsse. Die Kirche vermeidet es dabei, sich auf einzelne Parteien oder politisch agierende Gruppen festzulegen. Wichtig ist es, dass Adveniat und Misereor, gerade auch auf dem Katholikentag in Osnabrück 2008, diese Vorgaben von Aparecida als Kriterien ihrer Projektpolitik bestätigt haben. Aparecida ist nicht in erster Linie theologische Theorie, sondern ein Lebensprozess, der in alle Bereiche hineinragt: in den politischen Alltag der Parteien, in die zivilgesellschaftlichen Gruppen, in den breiten Sektor der katholischen Bildung, der Kollegien und katholischen Universitäten, das kulturelle Umfeld der Urbanität, vor allem in den Metropolen mit ihrem "Areopagen" einer globalen und postmodernen Wirtschaft und Medienpräsenz.

Zu beobachten bleibt, wie sich das Verhältnis von kirchlichen Basisgemeinden und neuen geistlichen Gemeinschaften, insbesondere auch charismatischen Bewegungen, in Lateinamerika weiterentwickelt, und wie sich beide Strömungen in die Ortskirchen integrieren und gegenseitig ergänzen.

Es bleibt spannend abzuwarten, ob durch den missionarischen Aufbruch von Aparecida der Prozess der zahlenmäßigen Entwicklung verändert werden kann und ob die Katholikenzahl in Lateinamerika wieder stärker zunimmt. Es kann aber auch sein, dass es nach Aparecida nicht primär quantitativ um Wachstumsraten der Katholikenzahlen, sondern qualitativ um eine Vitalisierung des Glaubenslebens der Katholiken aus der Begegnung mit Jesus Christus geht. Daraus kann eine stärkere Wirkung des christlichen Zeugnisses erwachsen, das verändernd in Gesellschaft und aufbauend in die Kirche hineinwirkt, um Verantwortung für die weltweite Sendung der Kirche zu übernehmen.


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Hans Czarkowski (geb. 1941), Dr. phil., nach Tätigkeit bei Missio und im Generalsekretariat des ZdK von 1987 bis 2003 Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und Pressesprecher von Adveniat; seit 2003 freiberuflich als Journalist in Lateinamerika tätig.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 8, August 2008, S. 417-423
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2008