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LATEINAMERIKA/058: Bolivianische Kirchen bemühen sich um Überwindung von Gewalt (ÖRK)


Ökumenischer Rat der Kirchen - Feature vom 5. August 2009

Inmitten tiefgreifender Veränderungen und politischer Spannungen bemühen sich die bolivianischen Kirchen um Überwindung von Gewalt


Je radikaler soziale und politische Veränderungen sind, desto wahrscheinlicher ist, dass sie Spannungen zwischen den gesellschaftlichen Akteuren aufbrechen lassen. In einem solchen Kontext bemühen sich die bolivianischen Kirchen um Überwindung von Gewalt, erfuhr die Delegation "Lebendiger Briefe", die vor kurzem Bolivien besucht hat.

Das Schlüsselwort zum Verständnis der Gewalt in Bolivien ist "Veränderung", erklärte Jaime Bravo, Mitglied der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Santa Cruz de la Sierra Mitgliedern des Teams der Lebendigen Briefe [1] , die aus Deutschland, Norwegen, Bolivien, Argentinien, Brasilien und Kenia stammten.

Lebendige Briefe sind kleine ökumenische Teams, die ein Land besuchen, um den Menschen zuzuhören, aus ihren Erfahrungen zu lernen, miteinander über Konzepte und Herausforderungen bei der Überwindung von Gewalt und in der Friedensarbeit zu sprechen und gemeinsam für den Frieden zu beten. Die Besuche finden im Rahmen der ÖRK-Dekade zur Überwindung von Gewalt [2] statt und dienen zur Vorbereitung auf die Internationale ökumenische Friedenskonvokation [3] , die im Mai 2011 in Kingston, Jamaika, stattfinden soll.

Santa Cruz de la Sierra ist die gröáte bolivianische Stadt und liegt im Osten des Landes. Landwirtschaft, Erdgasgewinnung und Erdölförderung haben die Stadt und ihre Umgebung zum reichsten Landesteil gemacht und eine kleine Elite von Groágrundbesitzern und Geschäftsleuten in die Lage versetzt, eine Separatistenbewegung anzustoáen.

Bravo zufolge hat sich Bolivien in den vergangenen Jahren tiefgreifend verändert. Die Demokratie des Landes wurde gefestigt und kommt nun auch der Bevölkerungsmehrheit - 36 indigene Völker, darunter die Aymara, die Quechua und die Guarani - zugute, die zuvor von der Regierung vernachlässigt worden war.

Eine neue Verfassung, die der indigenen Bevölkerung mehr Land- und Identitätsrechte einräumt, wurde im Januar in einem Referendum von sechzig Prozent der Abstimmenden befürwortet, von einer Minderheit aus vorwiegend reichen städtischen Eliten jedoch abgelehnt. Die politische Polarisierung zwischen den beiden Lagern war so stark, dass sie Bolivien 2008 an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht hat, sagte Bravo.

Pfarrer Luis Cristobal Alejo, dem Präsidenten der Evangelisch-Lutherischen Kirche zufolge gibt es in Bolivien wirtschaftliche, ethnische und geschlechtsbedingte Gewalt - sogar in den Kirchen. Alejo, der einer Kirche vorsteht, die sich zu achtzig Prozent aus Ureinwohnern zusammensetzt, traf zusammen mit anderen kirchenleitenden Verantwortlichen mit dem Team der Lebendigen Briefe in der bolivianischen Verwaltungshauptstadt La Paz zusammen.

Abraham Colque, Rektor der Ökumenischen Theogischen Hochschule der Anden (ISEAT), erklärte, Bolivien gründe auf der ethnischen und kulturellen Diskriminierung der indigenen Völker. Es sei heute an der Zeit, gemeinsam neue Symbole zu schaffen, die für ein politisches Projekt stehen könnten, das in den sozialen und indigenen Bewegungen verortet sei.

Bischof Jorge Rojas von der Evangelischen Methodistischen Kirche zufolge ist das bolivianische Volk seit 2003, als die sozialen Proteste Präsident Gonzalo Sanchez de Lozada zum Rücktritt zwangen, auf dem Weg zur "Neugründung Boliviens für ein neues Millennium".

Rojas, dessen Kirchenmitglieder in der Mehrzahl aymarischer Abstammung sind, begrüáte Evo Morales' Projekt eines plurinationalen Staates. Morales, der selbst Aymara ist, wurde im Dezember 2005 zum ersten indigenen Präsidenten des Landes gewählt.

In diesem Kontext politischer Spannungen konzentriere sich die Kirche auf die Probleme im Zusammenhang mit ethnischer und geschlechtsbedingter Gewalt, mit der Kluft zwischen Arm und Reich sowie der Plünderung bolivianischer Bodenschätze, die auch eine Form von Gewalt sei, so Rojas.

Die Delegation der Lebendigen Briefe fragte ihre Gastgeber, was sie von der Ökumenischen Erklärung zum Frieden erwarteten, die auf der Internationalen ökumenischen Friedenskonvokation angenommen werden soll. Ines Panoco und Noemi Soto, Mitarbeiterinnen des Frauenhauses in Santa Cruz, meinten, die Erklärung solle an die Regierungen appellieren, in ihren Worten und Taten folgerichtig zu sein. Ferner solle sie zu Verteilungsgerechtigkeit in der Wirtschaft aufrufen, zu Gesetzen zum Schutz der Menschenrechte, zu Veränderungen der politischen Strukturen und zu einer neuen globalen Wirtschaftsarchitektur.

Überwindung der Gewalt gegen Frauen

Das Frauenhaus befindet sich in Plan 3000, einem Armenviertel am Rand von Santa Cruz. Die Mehrzahl der Einwohnerinnen und Einwohner ist indigener Abstammung. Das Frauenhaus bekämpft häusliche Gewalt, indem es den Frauen Hilfe anbietet, Obdach und Rechtshilfe zur Verfügung stellt und Geschlechterbewusstsein vermittelt. Das Frauenhaus hat auch eine Radiostation. Laut Noemi Soto ist geschlechtsbedingte Gewalt auf Intoleranz und Rassismus zurückzuführen wie auch auf wirtschaftliche und politische Faktoren.

Für Alcira Agreda, Koordinatorin der ISEAT-Zweigstelle in Santa Cruz, leiden Frauen unter der vorherrschenden patriarchalischen Mentalität in der Gesellschaft, deren Folgen von früher Schwangerschaft bis zum Selbstmord reichen. Andererseits, fügte Bertha Uturunco, die stellvertretende Präsidentin der Evangelisch-Lutherischen Kirche, hinzu, schrecken Frauen oft davor zurück, über ihre Probleme zu reden. Das erschwere es ihnen, ihre Selbstachtung zurückzugewinnen und ihre Situation als ein Geschlechterproblem zu begreifen. Bildung sei der Weg zur Überwindung von geschlechtsbezogener Gewalt, sagte Uturunco.

In der Nachbarstadt von La Paz, El Alto, besuchte das Team der Lebendigen Briefe das Frauenhaus Suma Jakaña. Es handelt sich um eine unabhängige Einrichtung, die von Mitgliedern der Lutherischen Kirche ins Leben gerufen wurde. Sie bietet Frauen und Kindern, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, Zuflucht und veranstaltet Workshops, in denen die Frauen ihre beruflichen Möglichkeiten entdecken können.

"Wir müssen einen Wandel in der Spiritualität von Frauen und Männern fördern und zu einer theologische Reflexion anregen, die die Bedeutung der Gottebenbildlichkeit vertieft", meinte Pfarrerin Verena Grüter aus Deutschland, die dem Team der Lebendigen Briefe angehörte.

ÖRK-Mitgliedskirchen in Bolivien:
http://www.oikoumene.org/de/mitgliedskirchen/regionen/lateinamerika/bolivien.html

Besuch der Lebendigen Briefe in Uruguay und Bolivien:
http://gewaltueberwinden.org/de/konvokation/lebendige-briefe/uruguay-and-bolivia.html

Fotogalerie:
http://gewaltueberwinden.org/de/news-events/fotos/visit-to-uruguay-and-bolivia.html

Die Meinungen, die in ÖRK-Features zum Ausdruck kommen, spiegeln nicht notwendigerweise die Position des ÖRK wider.

Der Ökumenische Rat der Kirchen fördert die Einheit der Christen im Glauben, Zeugnis und Dienst für eine gerechte und friedliche Welt. 1948 als ökumenische Gemeinschaft von Kirchen gegründet, gehören dem ÖRK heute mehr als 349 protestantische, orthodoxe, anglikanische und andere Kirchen an, die zusammen über 560 Millionen Christen in mehr als 110 Ländern repräsentieren. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche. Der Generalsekretär des ÖRK ist Pfr. Dr. Samuel Kobia, von der Methodistischen Kirche in Kenia. Hauptsitz: Genf, Schweiz.


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Quelle:
Feature vom 5. August 2009
Herausgeber: Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
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Internet: www.wcc-coe.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2009