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STANDPUNKT/297: Erzähltextanalyse der Evangelien (Bibel und Kirche)


Bibel und Kirche 3/2007 - Organ der Katholischen Bibelwerke
in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Die Bibel unter neuen Blickwinkeln
Erzähltextanalyse der neutestamentlichen Evangelien

Von Andreas Leinhäupl-Wilke


Die Erzähltextanalyse / "narrative Analyse" stellt eine Möglichkeit dar, die Evangelientexte selbstständig und gleichzeitig methodisch reflektiert zu lesen. Der folgende Beitrag zeigt Entwürfe und Grundsätze in der Geschichte der Entwicklung dieses Forschungsansatzes, sowie konkrete Methodenbausteine, mit deren Hilfe sich die erzählerische Organisation sowie die Funktion der eingesetzten Erzählfiguren erheben lässt.


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Vladimir Propp und die russischen Zaubermärchen

Als Gründungsvater der formalistischen Erzähltextanalyse gilt Vladimir Propp, der bei der Untersuchung von russischen Zaubermärchen festgestellt hat, dass alle diese Märchentexte stereotype Handlungsfunktionen erkennen lassen(1). So wird beispielsweise der Held zum Aufenthaltsort der entführten Zarentochter geschickt, tritt mit seinem Gegner in einen Zweikampf, wird verwundet, besiegt dennoch den Gegenspieler und rettet die Zarentochter. Damit wird das anfängliche Unglück gutgemacht, der Held kehrt zurück und erhält als Belohnung die Zarentochter zur Frau. An diesem Ausschnitt aus der proppschen Typologie wird deutlich, dass sich festgelegte Handlungskreise für die agierenden Figuren ergeben. Propp kommt auf sieben solcher Handlungskreise: 1. Held (Auszug, mit dem Ziel etwas zu suchen), 2. Gegenspieler (Schädigung bzw. Kampf mit dem Helden), 3. Schenker (Ausstattung des Helden mit einem Zaubermittel), 4. Helfer des Helden (Unterstützung des Helden), 5. Zarentochter, gesuchtes Familienmitglied (Stellung der schweren Aufgabe), 6. Sender (Sendung des Helden), 7. falscher Held (ebenfalls Auszug, jedoch mit negativem Resultat). Diese Prinzipien werden im Laufe der Zeit in verschiedenen Erzähltexttheorien weiterverarbeitet - vgl. u. a. Gerd Theißens Initiative, auf dieser Basis ein Kompositionsgefüge der Motive in urchristlichen Wundergeschichten zu erstellen(2) - sie bilden eine plausible Folie, auf deren Grundlage sich biblische Erzähltexte analysieren lassen.

Im Blick auf die Evangelientexte ergeben sich etwa folgende Fragen: Welche Figuren treten in den Erzählungen auf? Welche Funktionen werden ihnen zugeschrieben? Welche Rollen übernehmen sie für den Gang der jeweiligen Handlung? Sind diese Rollen typologisch? Übernehmen sie in anderen Episoden eines Evangeliums eine ähnliche Funktion? In welcher Beziehung stehen die einzelnen Erzählfiguren zueinander?


Analyse von Handlungssequenzen (C. Bremond)

Für die Analyse der Erzählökonomie ist das Modell von C. Bremond weiterführend(3): Er legt das Gewicht seiner Analyse auf so genannte Knotenpunkte in einer Erzählung. An bestimmten Knotenpunkten werden dem Leser verschiedene Alternativmöglichkeiten für den weiteren Verlauf der Handlung angeboten. Die Erzählung selbst realisiert natürlich nur jeweils eine der Fortsetzungsvarianten, für den Leser entstehen aufgrund von Leseerfahrungen und vergleichbaren Erzählungen alternative Deutungsmuster. Dieses Analyseverfahren hebt die im Text angelegte Bedeutung von Entscheidungsmöglichkeiten und den damit verbundenen Sinnkonstruktionsvarianten hervor.


Das "Aktantenmodell" (A. J. Greimas)

In der Literatur wird immer wieder das so genannte "Aktantenmodell" verarbeitet, das auf Algirdas Julien Greimas zurückgeht und das in den Texten nach verschiedenen Klassen von Handlungsrollen Ausschau hält(4). Greimas reduziert im Vergleich zu Propp die Zahl der Aktanten auf drei Paare:

Subjekt
Sender
Helfer
-
-
-
Objekt
Empfänger
Widersacher

Mit diesen drei Aktantenpaaren werden die Beziehungen der handelnden Personen innerhalb einer Erzählung beschrieben und zwar im Blick auf drei Aktionsebenen: Betrachtet man die syntaktischen Zusammenhänge der Sätze eines Textes, stößt man [1] zunächst auf den Zusammenhang von "Subjekt" und "Objekt". Mit dem Gegensatzpaar "Sender - Empfänger" ist [2] die Ebene der Kommunikation in einem Text angesprochen. Eher inhaltlich ausgerichtet zeigt sich [3] die Ebene der Umstände einer Handlung, die das Gegensatzpaar "Helfer - Widersacher" verkörpert.


Der "implizite" Leser (W. Iser)

Um die Unterscheidung zwischen textlicher und außertextlicher Realität beschreiben zu können, müssen wir schließlich auf die unterschiedlichen Autor-Leser-Instanzen in einer Erzählung hinweisen, die in der Erzähltextforschung eine immense Karriere beschritten haben(5): Auf der textexternen Ebene sind der reale Autor und der reale Leser zu nennen, sie sind historische Personen. Auf der textinternen Ebene wird differenziert zwischen der expliziten Autor-Leser-Instanz, die sich als fiktive Größe in der Welt des Textes ausweisen lässt (z. B. Ich-Erzähler) und dem so genannten impliziten Autor und Leser, die sich als Summe sämtlicher im Text vorhandener Angebote zur Sinnkonstituierung darstellen. Das Konstrukt des impliziten Lesers geht zurück auf Wolfgang Iser, der mit Hilfe dieser Größe die Schaltstelle zwischen Wirklichkeit und Fiktion anhand sogenannter "Leerstellen" ausgemacht hat, die den Leser dazu herausfordern, in die Sinnkonstitution des Textes einzusteigen(6).


Methodische Annäherungen(7)

Das Handlungsgerüst

Das narrative Gerüst einer Erzählung ist von vielen verschiedenen Faktoren und Aspekten bestimmt(8):

Anfang und Ende

Anfang und Ende einer Erzählung sind entscheidende Punkte für die Lektüre. Zu Beginn einer Geschichte wird der Leser in eine Welt und ihre Gesetze verwickelt, mit unterschiedlichen Figuren konfrontiert, erhält Leseanweisungen. Mit diesem Paket erlebt er die Geschichte bis zum Ende mit, stößt auf Bekanntes und Unbekanntes, erhält Lösungen oder wird im Unklaren gelassen, trifft auf traditionelle Klischees oder findet zum Schluss ein alternatives Programm - kurz: die Rahmenpassagen einer Erzählung bilden die äußeren Pole des Verstehens, sie sind von besonderer Bedeutung für die konzeptionelle und inhaltliche Konsistenz einer Geschichte.

Das lässt sich auf den Gesamtzusammenhang z.B. des Johannesevangeliums beziehen, wo der Leser im Prolog die notwendigen Leseanweisungen für die Lektüre des Buches erhält und zum Schluss in den Kapiteln 20 und 21 die Zusammenfassung und die Perspektivierung der im Buch erzählten Inhalte. Aber auch für einzelne Erzählungen wie die Kana-Episode aus Joh 2 sind diese Rahmenteile interessant: Zu Beginn steht ein Problem, das im Laufe der Geschichte gelöst wird.

Handlungsstruktur

Innerhalb dieser Pole entwickelt sich die strukturelle Anlage der Erzählung, d. h. aus einzelnen Handlungselementen entsteht ein Gesamtkunstwerk - allerdings nach bestimmten Regeln. Der klassische Aufbau setzt sich aus fünf Elementen zusammen:

1. Exposition (Ausgangssituation, die das Thema, die Problemstellung, die Hauptfiguren, Zeit- und Ortsangaben enthält - Joh 2,1-2).

2. Steigende Handlung (Die Logik der Erzählung wird langsam aufgebaut, Handlungsstränge verdichten sich - Joh 2,3-6).

3. Wendepunkt (Hier schlägt die Handlung um; die Hauptfigur muss eine Entscheidung treffen - Joh 2,7f.).

4. Fallende Handlung (Nach dem Wendepunkt ergibt sich die Spannung in der Geschichte daraus, wie sich die Handlung weiterentwickelt, bzw. wie das Handlungsgewirr entflechtet werden kann - Joh 2,9f.).

5. Schluss (Hier sind entweder alle Probleme gelöst - oder unlösbar geworden - Joh 2,11).

Spannungskurve

Die Spannungskurve einer Erzählung verläuft entweder von einer Mangelsituation bzw. einer Problemlage hin zur Aufhebung dieser Mangelsituation oder genau umgekehrt von einer ausgeglichenen Situation ins Unglück - zwei Grundoptionen, mit denen die Evangelientexte kreativ umgehen.

Die Kana-Episode beginnt mit einer ausgeglichenen Situation (Hochzeitsfest). Durch die Feststellung der Mutter wird eine Mangelsituation aufgezeigt (es gibt keinen Wein mehr), die im Laufe der Geschichte durch Jesus und die Diener aufgelöst wird.

Handlungssequenzen

Im Verlauf einer solchen Spannungskurve lassen sich als elementarste Größen innerhalb der Erzähltextanalyse so genannte Erzählsequenzen ausmachen. Solche Sequenzen ergeben sich aus dem Zusammenspiel der Erzählfiguren. Bei genauem Hinsehen besteht eine Erzählung sehr vereinfacht aus Entsprechungsverhältnissen wie "fragen - antworten", "suchen - finden", "geben - nehmen", "befehlen - ausführen", also kurz gesagt aus einer Aneinanderreihung von Aktion und Reaktion. Biblische Erzählungen sind sehr oft auf der Grundlage einer solchen Schematik aufgebaut. Es sei allerdings erwähnt, dass man dort, wo man eine solche Regelmäßigkeit durchbricht, besondere Akzente lancieren kann. So fehlt z. B. manchmal der zweite Handlungszug (offene Sequenz) oder einer der beiden Handlungszüge wird verdoppelt.

Es sei eigens darauf hingewiesen, dass Sprechhandlungen in dieses Ordnungsmuster hineingehören. Im Hintergrund steht dabei der sprachlich-philosophische Ansatz der Sprechakttheorie, die im Kern besagt, dass das, was gesprochen wird, als spezielle Form gesellschaftlichen Handelns zu verstehen ist(9).

Handlungstypen und -verknüpfungen

Hat man das Erzählgerüst strukturell herausgearbeitet, bieten sich weitergehende Differenzierungen innerhalb der Erzählung an:

So können sich die Handlungszüge im Blick auf die Erzählökonomie statisch oder dynamisch entwickeln. Statische Momente lassen sich beispielsweise bei der Beschreibung von Eigenschaften (von Personen) oder Zuständen (von Erzählinventar) feststellen (für die Kana-Episode ist etwa der Speisemeister und sein System zu nennen - er bewegt sich gar nicht), dynamische Momente bringen die Handlung voran (wie etwa die Diener, die die Handlung der Geschichte deutlich vorantreiben). Was die Verflechtung der Handlungszüge angeht, so können wir verschiedene Formen der Beziehung ausmachen: Handlungen können kausal verknüpft sein, d. h. sie unterliegen einem Ursache-Wirkungszusammenhang; sie können final zusammenhängen, d. h. das Ziel des Handlungsverlaufes steht von vorne herein fest und ist von einer höheren Macht bestimmt; eine weitere Möglichkeit ist die kompositorische Verknüpfung, etwa dort, wo gattungsspezifische Gegebenheiten die Handlungsstruktur bestimmen.

Zeitkonzept

Im Blick auf die zeitliche Struktur einer Erzählung unterscheidet man gewöhnlich zwischen "Erzählzeit" (die Zeit, die der Erzähler für seine Geschichte benötigt) und "erzählter Zeit" (Dauer der erzählten Geschichte). Im Anschluss an das Verhältnis dieser beiden Größen ergeben sich weitere Fragen in Bezug auf das Zeitkonzept: Wie genau sind die Zeitangaben in der Erzählung festgelegt? Fasst der Erzähler in seinem Erzählvorgang zusammen oder dehnt er bestimmte Handlungsabläufe aus? Werden Rückblenden oder Vorausblicke verwendet, um den Gang der Handlung produktiv zu unterbrechen? Wird das Erzähltempo an verschiedenen Stellen gedehnt oder beschleunigt? Welche Rolle spielt die Erzählfrequenz, d. h. werden Ereignisse mehrfach erzählt?

Die Kana-Episode beginnt mit einer expliziten Zeitangabe ("am dritten Tag"). Die erzählte Zeit dieser Geschichte ist sehr stark gerafft, der Autor beschränkt sich auf das Wesentliche und verschärft an den entscheidenden Stellen (z.B. in der Gesprächssequenz zwischen Jesus und den Dienern) das Erzähltempo.

Raumkonzept

Neben den expliziten Angaben zum Ort, an dem die Erzählung situiert wird (für unsere Geschichte wird "Kana in Galiläa" als Ort des Geschehens angegeben), können verschiedene räumliche Faktoren eine Rolle für die narrative Gestaltung einer Erzählung spielen: Wird die Beschreibung eines Raumes für einen Handlungsvorgang genutzt, oder eher für die Herstellung von Atmosphäre bzw. Stimmung? Sind die Raumstrukturen deckungsgleich mit den Handlungsstrukturen? Lassen sich Parallelen zwischen den beschriebenen Räumen und den Charakterzügen der Figuren erkennen? Ist die Beschreibung des Raumes realistisch? Sind die Teilräume einer Erzählung aufeinander bezogen oder stehen sie nur unverbunden nebeneinander? Überwinden Figuren Raumgrenzen?

Erzählsituation

Schließlich ist auf den Modus der Erzählung einzugehen, also auf die Frage, aus welcher Perspektive erzählt wird. Dabei unterscheidet die Erzähltextforschung drei Standpunkte(10):

1. Die auktoriale Erzählsituation, die sich durch einen allwissenden Erzähler auszeichnet. Der Erzähler gehört nicht zum Kreis der handelnden Personen und schaltet sich hin und wieder durch Kommentare in die erzählte Welt ein.

2. Der personale Erzähler, der die Welt der Erzählung mit den Augen einer der Erzählfiguren betrachtet; hierzu gehört auch die Perspektive des Ich-Erzählers.

3. Erzählung aus der Außenperspektive, bei der ein Erzähler aus der neutralen Außensicht erzählt, wobei man allerdings weniger erfährt, als die Figuren der Erzählung wissen.

Die Kana-Episode ist grundsätzlich aus der auktorialen Erzählperspektive erzählt. Der Autor kennt seine Figuren und weiß mehr über sie als der Leser und auch mehr als die Figuren in der Geschichte übereinander wissen. Besonders interessant sind zwei explizite Einschaltungen des Autors: in V 6 informiert er seinen Leser darüber, dass sechs steinerne Tonkrüge vorhanden sind und in V 11 fasst er die erzählten Ereignisse unter theologischer Perspektive (Zeichen, Offenbarung, Herrlichkeit, Glauben) zusammen.

Die Charakterisierung der Erzählfiguren

Die handelnden Figuren übernehmen in den Erzählungen bestimmte Funktionen. Wie bei Propp und Greimas deutlich wurde, lassen sich ihnen unterschiedliche Rollenprofile zuweisen, die entweder sehr konkret (Held, Gegenspieler, usw.), oder aber eher abstrakt (Subjekt, Objekt usw.) darstellbar sind.

Ähnlich wie wir es im Fall der Handlungsverläufe sahen, können auch die Figuren statisch oder dynamisch gezeichnet sein, sie können in ihrer Rolle eindimensional oder mehrdimensional wirken, sie können in ihrer Funktion für die Erzählung völlig definiert, aber auch sehr offen erscheinen.

Die Figur der Mutter Jesu erkennt das entstandene Problem und ergreift die Initiative. Sie steckt trotz der Zurückweisung durch ihren Sohn nicht auf, sondern handelt weiterhin mit großem Einfluss und Erfolg (auf ihre Initiative hin gehorchen die Diener den Befehlen Jesu). Offensichtlich weiß sie mehr (über die Möglichkeiten ihres Sohnes) als jede andere Figur der Erzählung. Jesus macht einen eher ambivalenten Eindruck. Er reagiert zunächst nicht auf die Anfrage der Mutter, steigt dann allerdings relativ schnell und mit einer gewissen Autorität in die Handlung ein - und sorgt damit natürlich für den Umschwung. Die Diener sind folgsam, sie "wissen" und haben als Einzige einen Einblick in Dinge, die sich um die Wasserkrüge ereignet haben. Sie erhalten dadurch einen Vorsprung gegenüber den Figuren der erzählten Welt wie auch gegenüber dem Leser. Der Speisemeister zeichnet sich durch seine vermeintliche Erkenntnis hinsichtlich des ihm vorgesetzten Weines aus - bleibt aber mit seinem Erklärungsversuch in seinen traditionellen Denkstrukturen verhaftet.

Die Figurenkonstellation

Hat man die einzelnen Figuren mit Hilfe solcher Kriterien identifiziert, gilt es die Figurenkonstellation ausfindig zu machen. Dabei können wir unterscheiden zwischen Paarkonstellationen und Dreiecks- bzw. Mehreckskonstellationen. Die klassische Konstellation ist sicher das Kontrastpaar oder auch das Korrespondenzpaar, wo zwei Einzelfiguren in Handlung oder Diskurs miteinander in Beziehung gesetzt werden. In vielen Erzählungen bildet allerdings gerade die Integration der Einzelrollen bzw. der Kontrastpaare in Mehreckskonstellationen die Grundlage für besonderes Spannungspotenzial.

Die Zusammenstellung der Figuren der Kana-Episode zeigt sich zunächst als Mehreckskonstellation: Die Mutter tritt mit Jesus und den Dienern in Kontakt; Jesus gibt Befehle an die Diener weiter; die Diener bringen das zu Wein gewordene Wasser zum Speisemeister, der seinerseits mit einer interpretierenden Reaktion aufwartet. Im Mittelpunkt dieser Konstellation stehen Jesus und die Diener, die das Weinproblem der Hochzeitsfeier lösen und die beiden Außenpole (Mutter - Speisemeister) in Verbindung bringen. Offensichtlich werden zwei gegensätzliche Formen von Wissen gegenübergestellt: Auf der einen Seite steht der Speisemeister mit seinem klassischen (unbeweglichen) Normenkodex, auf der anderen Seite steht das Wissen der Mutter, die sich trotz Widerspruchs mutig und engagiert zeigt und darauf verlässt, dass durch die Anwesenheit Jesu die Problemlage gelöst wird.

Das Identifikationsangebot

All diese Beobachtungen, die sich zunächst rein auf die innertextliche Ebene beziehen, sind auszuwerten und zu ergänzen im Blick auf die "Mitarbeit des Lesers": Der Leser füllt die Rollen innerhalb der Erzählung mit seinem außertextlichen Wissen, malt sie aus, denkt sie weiter und wird diesbezüglich im Verlauf der Erzählung bestätigt oder widerlegt, vielleicht sogar enttäuscht. Wie auch immer - über die Handlungsrollen und die Figurenkonstellation setzt der Text ein hohes Maß an Identifikationspotenzial frei, das letztlich ganz entscheidend ist für das Verstehen des Textes und seine Bedeutung für die jeweilige Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft.


Anmerkungen:

(1) Vgl. Vladimir Propp, Morphologie des Märchens, Stuttgart 1975.

(2) Vgl. Gerd Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Untersuchung der synoptischen Evangelien, Gütersloh 1998 (7. Aufl.)

(3) Vgl. Wilhelm Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg 1987, Seite 123f

(4) Vgl. Egger, Methodenlehre, 125f.

(5) Hannelore Link, Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Berlin ²1980.

(6) Vgl. Wolfgang Iser, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München ²1979.

(7) Zur narrativen Analyse vgl. grundlegend (in Auswahl): Egger, Methodenlehre 119-123; Claudia Kahrmann/Gunter Reiß/Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse. Eine Einführung mit Studien- und Übungstexten, Königsstein 1986; Seymour Chatman, Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, New York (NY) 1978; F. Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, Trier 2004.

(8) Vgl. zur Terminologie sowie zur praktischen Umsetzung Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas. Band I: Israels Hoffnungen und Gottes Geheimnisse (UB 455), Stuttgart 1997.

(9) Vgl. John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay (stw 485), Frankfurt a. M. 1994 (6. Aufl.).

(10) Das dreiteilige Konzept der Erzählperspektiven geht zurück auf G. Genette, Die Erzählung, München ²1998.


Der Autor:

Dr. Andreas Leinhäupl-Wilke arbeitet am Seminar für Exegese des Neuen Testaments der Katholisch-theologischen Fakultät in Münster und habilitiert sich dort zum Thema "Herrenmahl und Gruppenidentität".
Seine Adresse lautet: Kleiststraße 1, 59227 Ahlen
E-Mail: leinhaeupl-wilke@arcor.de


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Quelle:
Bibel und Kirche - Organ der Katholischen Bibelwerke in Deutschland,
Österreich und der Schweiz, 62. Jahrgang, 3. Quartal 2007, 3/2007,
Seite 180-184
Herausgeber: Dr. Franz-Josef Ortkemper, Dipl.-Theol. Dieter Bauer,
Österr. Kath. Bibelwerk Klosterneuburg
Redaktion: Dr. Bettina Eltrop, Dipl.-Theol. Barbara Leicht
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2007