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STANDPUNKT/300: Die Welt nicht freiwillig räumen (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 12/2007

Die Welt nicht freiwillig räumen
Alfred Delps Anstöße für eine Theologie des politischen Engagements

Von Andreas Lob-Hüdepohl


Die Kirche und die Christen in ihrer Verantwortung inmitten menschlicher Geschichte und Gegenwart - das war das große Thema Alfred Delps, des Jesuitenpaters, der in diesem Jahr seinen hundertsten Geburtstag begangen hätte. Sein emphatischer Appell an die Kirchen, sich wieder in den bedingungslosen Dienst an der Menschheit zu stellen, ist aktueller denn je.


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Kurz vor Weihnachten 1944 wendet sich Alfred Delp aus der Haftanstalt in Berlin-Tegel in einem emphatischen Appell an die christlichen Kirchen: Deren Schicksal, so ist er überzeugt, wird abhängen von ihrer bedingungslosen Rückkehr zum Dienst am Menschen, zur Diakonie: "Damit meine ich das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Situationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen, ohne anschließend irgendwo eine Spalte und Sparte auszufüllen. Damit meine ich das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein genau und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben. 'Geht hinaus' hat der Meister gesagt, und nicht: 'Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt'. Damit meine ich die Sorge auch um den menschentümlichen Raum und die menschliche Ordnung. Es hat keinen Sinn, mit einer Pfarrer- und Prälatenbesoldung zufrieden die Menschheit ihrem Schicksal zu überlassen. Damit meine ich die geistige Begegnung als echten Dialog, nicht als monologische Ansprache und monotone Quengelei."

Die Leidenschaftlichkeit dieses aufrüttelnden Appells ist sicherlich nur angemessen zu verstehen vor dem Hintergrund der zugespitzten Situation, in der sich beide Kirchen unter dem Terrorregime des Nationalsozialismus befanden. Und er gewährt einen bezeichnenden Einblick in die äußerst zugespitzte Situation Alfred Delps selber: Seit einigen Monaten verhaftet, wartete er um die Jahreswende 1944/1945 mit weiteren Mitgliedern des so genannten Kreisauer Kreises auf seinen Prozess vor dem Volksgerichtshof, der ihn Anfang Januar 1945 unter seinem Vorsitzenden Roland Freisler endgültig den Henkern des Naziregimes auslieferte und ihn am 2.2.1945 in Berlin-Plötzensee hinrichten ließ.

Die Texte, Briefe und Meditationen, die Delp aus der Haft nicht zuletzt durch die Leiterin der Katholischen Sozialen Frauenfachschule, Marianne Pünder, herausschmuggeln lassen konnte, spiegeln in ihrer Dichte, Schnörkellosigkeit und Unerschrockenheit die extreme Grenzerfahrung eines Widerständlers wider, der jederzeit mit seinem gewaltsamen Tode rechnete.


Querkopf, weltfremder Idealist, dilettierender Sozialwissenschaftler

Knapp vierzig Jahre später edierte Roman Bleistein Delps gesammelte Schriften. Karl Rahner - zwischen 1927 und 1929 kurze Zeit Delps Lateinlehrer - steuerte der Edition die Einleitung bei. Darin schlug er vor, Delps OEuvre heute als geistliches Vermächtnis eines Mannes zu lesen, "der das, was in diesen Texten ausgesprochen wird, durch eine sechsmonatige Kerkerhaft und durch seinen Tod durch Erhängen, dem er vermutlich hätte entrinnen können, besiegelt hat" (Alle Zitate aus: Alfred Delp, Gesammelte Schriften, 4 Bde. Hrsg. v. Roman Bleistein, Frankfurt a. M. 1984ff.).

Rahners behutsamer Vorschlag zu einer spezifischen Lesart von Delps Schriften kam nicht von ungefähr. Natürlich wusste Rahner um die verbreitete Skepsis, mit der man dem "Querkopf" Delp Zeit seines Lebens und darüber hinaus selbst von wohlmeinender Seite in seinem Orden wie in der (kirchlichen) Öffentlichkeit begegnet(e). Bei aller Hochachtung vor der Unerbittlichkeit seines Widerstands als Christ kam etwa Walter Dirks - selbst Widerständler - mit Blick auf Delps fachliche Beiträge zur Gesellschaftspolitik nicht umhin, ihn nur als weltfremden Idealisten sehen zu können: "Nichts von Soziologie, schon gar nichts von konkreter, nichts von der katholischen Sozialtradition. (...) Alfred Delp hatte nicht die geringste konkrete Vorstellung von dem, was ein halbes Jahr nach seinem Tod beginnen musste."

Etwas zurückhaltender, aber in der Sache gleichsinnig äußerte sich auch Delps Mitbruder Oswald von Nell-Breuning: Delp, so sein Urteil, teile mit Blick auf sozialethische oder gesellschaftspolitische Fragen "die weitverbreitete Meinung, darüber könne man mit Allgemeinwissen ohne jede Fachkenntnis sachverständig sich ein Urteil bilden und verantwortlich mitreden." Delps durchaus lobenswertes politisches Verantwortungsbewusstsein habe ihn offensichtlich dazu verführt, den Rahmen seiner Fachkompetenz deutlich zu überschätzen.

Und auch Rahner stellt fest, dass Delps neuscholastische Theologie oder seine recht unkritisch argumentierende Naturrechtslehre mindestens heute verstaubt klingen müssen. Gleichwohl, als geistliche Zeugnisse gelesen, könnten sie, davon ist Rahner überzeugt, "gerade in ihrer uns ungewohnten und manchmal naiv anmutenden Unmittelbarkeit uns etwas zu sagen haben."


Das Gottesbekenntnis bewährt sich in seelsorgender Diakonie

Delps emphatischer Appell an die Kirchen, sich wieder in den bedingungslosen Dienst an der Menschheit zu stellen und sich so als Sakrament, also als Werkzeug der Heilsgeschichte zu bewähren, dieser Appell zur Rückkehr in die Diakonie scheint jedoch gerade nicht das Schicksal zu teilen, für uns heute ungewohnt oder von naiv anmutender Unmittelbarkeit zu sein. Im Gegenteil, seit den großen Konzilsdekreten über das dogmatische Wesen der Kirche und ihren pastoralen Auftrag in der Welt von heute wissen wir: Die Kirche sieht ihr Wesen tatsächlich als Sakrament, also als Zeichen und Werkzeug für die heilsame Zuwendung Gottes zum Menschen (LG 1). Deshalb teilt sie alle "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art" (GS 1).

Dass die liebende Zuwendung zum Nächsten in Gestalt von Diakonie und Caritas unmittelbarer Ausfluss der Liebe Gottes zu uns Menschen und deshalb für die Kirche unverzichtbar ist, und dass diese Caritas wirklich ohne Hintergedanken zu erfolgen hat, also ohne die heimliche Absicht, nach gewährter Hilfe irgend eine Spalte oder Sparte auszufüllen, diese 'absichtslose Absicht' praktizierter Nächstenliebe hat Benedikt XVI. in seiner Antrittsenzyklika "Deus caritas est" erneut eindrücklich in Erinnerung gerufen.

Freilich kennen wir in unseren Kirchen und Diözesen auch gegensätzliche Tendenzen. Nahezu unwidersprochen können neuerdings in Deutschland Wirtschaftsberatungsgesellschaften eine Neustrukturierung von Bistümern oder Kirchengemeinden empfehlen, die sich auf die vermeintlichen Kernkompetenzen von Kirche konzentriert; nämlich auf die Wortverkündigung, auf die Liturgie oder auf das seelsorgerische Gespräch, das die Gottesfrage in unserer Gesellschaft und das Verlangen nach dem wirklich Erlösenden wachhält.

Im Umkehrschluss heißt das: Rückzug aus dem diakonalen Weltauftrag. Nur so könne das Alleinstellungsmerkmal christlicher Kirchen zur Geltung gebracht und deren Schicksal positiv gewendet werden. Solche Empfehlungen à la McKinsey verkennen jedoch elementare Einsichten moderner Lebenswelten und die Sinnspitze der Frohbotschaft Gottes gleichermaßen: Trost, Heil, ja Erlösung werden nicht neben den bedrängenden Situationen des Lebensalltags ersehnt und erhofft, sondern gerade inmitten jener konflikthaften Lebenslagen und sozialen Lebensnöte, die Menschen immer neu zu bewältigen und zu bestehen haben.

Die privilegierten Orte christlicher Gottesrede und Gottesbekenntnisse sind folglich weniger die Kanzeln und Katheder. Privilegierte Orte sind stattdessen jene öffentlichen Hecken und Zäune moderner Gesellschaften, an denen über Gott und die Welt räsoniert wird - und zwar um deren humaner, 'menschentümlicher' (Delp) Gestaltung willen.

Die Lebenskraft solcher Gottesbekenntnisse bewährt und bewahrheit sich zudem gerade im "stummen Zeugnis der helfenden Tat", also in der Form diakonaler Seelsorge oder besser: seelsorgender Diakonie. Entscheidend ist deren Grundausrichtung: Die Sorge um das Heil der Menschen treibt hinaus in die Lebenslage und die Lebenswelt dessen, dem die christliche Sorge gilt. Oder in den Worten Delps: Sie treibt hinaus zum Nachgehen auch in die Situationen äußerster Verstiegenheit und Verlorenheit, um dann ganz bei ihm und ganz da zu sein; um sie ihm meistern zu helfen und ihm wieder eigenständige Schritte zu ermöglichen auf gesichertem Terrain.

Dieses Sich-Gesellen zu den versehrbaren und je schon versehrten Menschen begründet eine Weggemeinschaft inmitten alltäglicher Lebenswelten. Diese Weggemeinschaft muss möglichst nah an ihrem Alltag sein, wenn die Seelsorgenden wirklich 'Da-Sein' sein sollen, sobald den in Not Geratenen Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben. Diese Form seelsorgender Weggemeinschaft ist eher unauffällig und unspektakulär; sie eignet sich selten zur inszenierten Symbolhaftigkeit organisationsspezifischer Alleinstellungsmerkmale. Das Da-Sein alltagsweltlicher Seelsorge möchte das heilsame Da-Sein Gottes für uns Menschen zur Geltung bringen; es ist die wenigstens fragmentarische Präsenz des Heiligen inmitten alltäglicher Profanität, es ist eine Form alltagsweltlicher Sakramentalität von Kirche.


Die Welt ist nicht der unwirtliche Warteraum für den Himmel

Die Kirche und die Christen in ihrer Verantwortung inmitten menschlicher Geschichte und Gegenwart - das ist das große Thema Alfred Delps, um das viele seiner Gedanken und Appelle, Meditationen und Traktate kreisen. Gegen die oftmals praktizierte Entgegensetzung von Christ und Gegenwart, von Kirche und Gesellschaft, von Heilsgeschichte und Weltgeschichte, gegen diese Haltung, die beinahe zwangsläufig "zufrieden die Menschheit ihrem Schicksal" überlässt, beharrt Delp darauf: Die Welt ist nicht der unwirtliche Warteraum für den Himmel, sondern "ein Transparent des Überirdischen gerade in und durch ihre echte Irdischheit".


Der bürgerliche Spießer lässt sich nicht mehr zum Menschen machen

Seit dem "Segenswort, das Gott am Weltenmorgen über seine Schöpfung sprach", und dem "Sendungsbefehl" und den "Verheißungen, die Gott seiner Kirche auf ihren Gang durch die Menschheitsgeschichte mitgab", wird nicht nur die Kirche, sondern jeder Mensch in seiner bekennenden wie Welt gestaltenden Biographie "zum Begegnungsort zwischen dem Innerweltlich-Geschichtlichen und dem Überweltlich-Ungeschichtlichen". Er ist "an seinem Ort Träger des ganzen Auftrages zur 'imago Dei'. Von diesem ersten Ansatz her ist die Geschichte sich entfaltender Schöpfungstag. Jede Stunde ist Beitrag zu dieser Entfaltung und hat es soweit unmittelbar mit der Repräsentation Gottes zu tun." In jeder menschlichen Biographie wirkt der geheime Imperativ, "das Bild Gottes durch immer neue menschliche Möglichkeiten darzustellen".

Was auf den ersten Blick sehr vertraut und gewohnt klingt, entbirgt seine eigentliche Sprengkraft, wenn man Delps zeitdiagnostische Warnungen dagegen liest. Delp sieht die große Gefahr, dass sich Christen immer neu ihrer Gestaltungsverantwortung für die Welt entziehen - sei es durch ihre Scheu, sich Wind und Wetter der Geschichte auszusetzen, sei es durch eine mindestens latente Weltverachtung: "Geschichte wird nicht mehr zum Ort des [Gottes] Reiches, sie ist beinahe von Übel. (...) Man wird irgendwie denkmüde und wegmüde, will getragen sein von Gott bis in die letzte Wirklichkeit des Denkens und Entscheidens. (...) Daß Kirche Welt ist und ihr Gesetz einstweilen das Gesetz der Wanderung und der Geschichte ist und daß das Staub und Anstrengung bedeutet, das wird nicht sehr betont. Das bedeutet aber in einer anderen Form die Auswanderung aus der Zeit. Die Erde wird gleichsam freiwillig geräumt."

Solche freiwillige Räumungen der Erde verlaufen nicht spektakulär und aufregend; sie verlaufen eher schleichend, in satter Selbstzufriedenheit, ja im Gewand bürgerlicher Wohlanständigkeit und innerkirchlicher Wohlaufgeräumtheit. Längst werden selbst äußerlich noch christentümliche Gegenden unserer Alltagswelt zum Missionsland. Selbstkritisch geben sich 1941 Delps adventliche Fragen an seine Kirche: Läuft sie nicht Gefahr, "eine Kirche der Selbstgenügsamkeit zu werden, die ihre Gesetze und Büros und Verordnungen, ihre Klugheit und Taktik hat, ihren Bestand wahrt, von ihrer Vorsicht überzeugt ist? Und damit zugleich zu einer Kirche der splended isolation zu werden, der beziehungslosen Oasenhaftigkeit"? Und dann: "Warum haben wir dem Leben nichts zu sagen oder besser, da wir was zu sagen haben, warum sagen wir ihm nichts?"

Delps Kritik an der Selbstgenügsamkeit seiner Kirche endet nicht bei jenen, die über eine Predigt- und Religionserlaubnis oder eine Pfarrer- und Prälatenbesoldung verfügen. Sie trifft alle Christen, die sich mit der Welt, wie sie ist, abgefunden oder sich in ihr gemütlich eingerichtet haben. Seine Meditation zu den Gestalten der Weihnacht von 1944 nutzt Delp zu einer barschen Kritik an den "so unerschütterlich-sicheren 'Gläubigen'". Würde sich die Geschichte der Heiligen nochmals wiederholen, so dürften auch sie - wie die Amtskirche - an der Krippe des zur Welt gekommenen Gottes fehlen. "Sie glauben an alles, an jede Zeremonie und jeden Brauch, nur nicht an den lebendigen Gott."

"Man muß", gibt Delp durchaus zu, "bei diesen Gedanken sehr behutsam sein, nicht aus Angst, sondern aus Ehrfurcht. Aber es stehen so viele Erinnerungen auf an Haltungen und Gebärden gegen das Leben. Im Namen Gottes? Nein, im Namen der Ruhe, des Herkommens, des Gewöhnlichen, des Bequemen, des Ungefährlichen. Eigentlich im Namen des Bürgers, der das ungeeignetste Organ des Heiligen Gottes ist." Nur ein Mensch, der sich in steter Grenzüberschreitung und Befreiung vom Gewohnten übt, wird als freier Mensch zu sich selber kommen. "Den Rebellen", resümiert er einige Wochen später zu Epiphanie 1945 seinen Argwohn gegen jede Form bürgerlicher Wohlanständigkeit, "kann man noch zum Menschen machen, den Spießer und das Genießerchen nicht mehr."

Heute wird man manche Zuspitzungen Delps als hellsichtigen Vorgriff auf theologische Einsichten und Formulierungen lesen, die uns aus den Theologien Rahners oder von Johann Baptist Metz mittlerweile sehr geläufig sind. Selbst kirchenoffizielle Dokumente atmen gelegentlich den Geist, der uns durch Delps Meditationen und Notizen entgegenweht.


Beißende Kritik an Selbstgenügsamkeit und Selbstzufriedenheit

"Der Gott unseres Glaubens", so konstatierte die Gemeinsame Synode der westdeutschen Bistümer vor gut dreißig Jahren, "ist der Grund unserer Hoffnung, nicht der Lückenbüßer für unsere Enttäuschungen." Sie ist eine Hoffnung, die sich nicht anpassen lässt an die allzu menschliche Sehnsucht des Menschen nach Ruhe, Ordnung und lebenstötender Behaglichkeit. Christliche Hoffnung, die sich aus der Verheißung des Reiches Gottes speist, kann niemals "gleichgültig sein gegen das Grauen und den Terror irdischer Ungerechtigkeit und Unfreiheit, die das Antlitz des Menschen zerstören". Stattdessen fordert sie von Christen "eine gesellschaftskritische Freiheit und Verantwortung, die uns vielleicht nur deswegen so blaß und unverbindlich, womöglich gar so 'unchristlich' vorkommt, weil wir sie in der Geschichte unseres kirchlichen Lebens so wenig praktiziert haben".

Ganz offensichtlich hat Delp mit seiner beißenden Kritik an der Selbstgenügsamkeit und Selbstzufriedenheit den Kern eines christlichen Weltverständnisses getroffen, das die zentrale Perspektive einer Theologie politischen Engagements eröffnet. Die biblische Aufforderung an Christen, Rechenschaft abzulegen von der Hoffnung, die in ihnen lebt (1 Petr 3,15), bezieht das letzte Konzil ausdrücklich auf die kontinuierliche Umgestaltung der "Strukturen des Weltlebens" (LG 35). Deshalb erschöpft sich die Implementierung christlicher Hoffnung gerade nicht darin, in den vorfindlichen weltlichen Gegebenheiten zu bestehen und vielleicht noch einen privaten Raum in sich gekehrter Religiösität und Frömmigkeit freizuhalten.

Sie umfasst vielmehr die dauernde Umbildung der Strukturen des alltäglichen profanen Lebens. Karl Rahner scheint gleichermaßen die Intuition des Konzils wie Alfred Delps aufzugreifen, wenn er den Kern christlicher Hoffnung eben nicht in der "Legitimation eines Konservatismus" ausmacht, "der - alles versteinernd - angstvoll die sichere Gegenwart einer unbekannten Zukunft vorzieht, nicht das Opium des Volkes, das im Gegenwärtigen beruhigt", sondern umgekehrt als "Ermächtigung und Befehl" charakterisiert "zu einem immer wieder aufgenommenen, vertrauenden Exodus aus der Gegenwart in die (auch innerweltliche) Zukunft."


Ein risikobereites Weltengagement

Das unverkennbare Profil des Christen zu Geschichte und Gegenwart ist also ein aufbrechendes, wagendes, kreatives Weltengagement; ein Weltengagement aber auch, das durchaus risikobereit ist, das sich auf Ungewissheiten einlässt, das auf letzte Sicherheiten verzichtet. "Bewußt leben", so Delp nüchtern, "heißt immer am Rand des Abgrunds laufen." Es ermöglicht allerdings eine kritische Zeitgenossenschaft, deren fortwährender Exodus nicht aus der Welt hinaus-, sondern immer neu in sie hineinführt.

Kritische Zeitgenossenschaft ist in einem doppelten Sinne eine Zumutung: Sie traut Christen den Mut zu, engagiert das Soziale und Politische "menschentümlich" (Delp) zu gestalten. Zugleich erfordert sie nicht selten den Mut zu beherzter Kritik am Bestehenden und damit den Mut, sich erheblichen Anfeindungen auszusetzen. Sie fordert gelegentlich sogar den Mut zur Rolle eines Propheten in seinem urbiblischen Verständnis; eines politisch ambitionierten Akteurs nämlich, der sich schroff gegen die Mehrheitsmeinungen einer Bevölkerung oder die Machtgewohnheiten einer politischen Elite exponiert und sich damit in tödliche Gefahr begibt.

Max Weber verdanken wir die Einsicht, dass die Propheten des antiken Judentums keine politischen Parteigänger mit konkreten politischen Interessen waren. Ebenso wenig bemühten sie sich, ihre sozialethisch orientierten politischen Ideale etwa durch Beratung der Machthaber in die Praxis umzusetzen. Gleichwohl waren sie für Weber politisch hoch ambitionierte "Demagogen und Publizisten", die konsequent die Umsetzung der Gebote Jahwes im konkreten Lebensalltag einforderten. Sie haben zwar die Inhalte ihrer gesellschaftskritischen Botschaft nicht erfunden. Ihre Sozialkritik appellierte - erinnert sei hier besonders an Amos oder Hosea - "nur" an die Plausibilität jener sozialethischen Infrastruktur einer Gesellschaft, die wenigstens die elementaren Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens für alle ihre Mitglieder sichern will und deshalb von allen respektiert werden müsste.

Gleichwohl waren die Propheten des antiken Judentums so etwas wie die "Erfinder der Praxis der Gesellschaftskritik" (Michael Walzer), deren Art und Weise des Wirkens auch für moderne Gesellschaften und für eine moderne Theologie des politischen Engagements aufschlussreich sind.


Weihnachten ist politisch

Selbstverständlich muss sich jede Gesellschaftskritik argumentativ ausweisen können. Auch prophetische Kritik darf sich nicht hinter dem Bollwerk verschanzen, sie spreche doch im Namen Gottes. Und dennoch hat die genuin prophetische Gesellschaftskritik nach wie vor eine unverzichtbare Rolle. Denn sie vermag gegen die schweigenden Mauern einer Mehrheitsgesellschaft die Schubkraft jenes für prophetisches Reden so typischen "heiligen Zorns" zu bündeln, angesichts des oftmals erdrückenden Unrechts und Leidens von Millionen von Menschen auch unbequeme und anstößige Wahrheiten auszusprechen - damit die Welt nicht ersticken muss an den Worten, die um der Gerechtigkeit und der Solidarität willen auszusprechen sich ansonsten niemand mehr wagt.

Weil der Begriff des Demagogen - anders als bei Max Weber - heute eindeutig negativ als Volksverhetzer besetzt wäre, verbietet es sich, den Publizisten Alfred Delp auch nur in die Nähe eines Demagogen zu platzieren. Nicht verbietet sich hingegen, ihn im urbiblischen Sinne des Wortes als zeitgenössischen Propheten zu charakterisieren.

"Die Tugend der Unermüdlichkeit", notiert Delp in seiner Meditation zur Weihnacht 1944, "ist anstrengend. Aber sie erst macht den Menschen gottesfähig. Und öffnet ihm auch die Augen für die eigentliche Wirklichkeit Gottes." Denn: "Gott wird Mensch."

Weihnachten ist so besehen politisch. Weihnachten formuliert keine politischen Maßnahmen, aber es setzt durch die Menschwerdung Gottes, durch seine Solidarität mit dem Lebensschicksal seiner Geschöpfe, Maßstäbe für die "menschentümliche" Gestaltung von Politik und Gesellschaft. "Gott wird Mensch. Der Mensch nicht Gott." Auch das gehört für Delp zur Botschaft von Weihnacht. Dass Menschen eben nicht Gott werden, schützt sie vor den Allzuständigkeitsgefühlen einer auf Machbarkeit und Effizienz gedrillten Geschäftigkeit, die nicht selten von Politik und sozialem Weltengagement erwartet wird.

Alles soziale und politische Weltengagement, alle Bemühungen um eine bessere und "menschentümlichere" Welt werden keinen "Himmel auf Erden" kreieren. Aber die Botschaft von Weihnachten, die Botschaft von der "Eingeschichtlichung Gottes" (Delp) begründet wenigstens die Zuversicht und die Hoffnung, dass alle Anstrengungen in diese Richtung letztlich nicht vergeblich, nicht sinnlos sind. "Hoffnung", so ist Václav Havel zuzustimmen, "ist eben nicht Optimismus: Sie ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn macht - ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht."

Alfred Delp hat diese Hoffnung durch sein Martyrium authentisch bezeugt, bewährt und bewahrheitet; eine Hoffnung, die aus der Weihnacht lebt: "Lasst uns dem Leben trauen", weist seine Weihnachtsmeditation an ihrem Ende über alle Anfechtungen irdischen Daseins hinaus, "weil wir es nicht allein zu leben haben, sondern Gott es mit uns lebt."


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Andreas Lob-Hüdepohl (geb. 1961), Professor für Theologische Ethik, ist Gründungsmitglied des Berliner Instituts für christliche Ethik und Politik sowie seit 1997 Rektor der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2007, S. 619-624
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Februar 2008