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STANDPUNKT/312: Politische Theologie - ein Projekt der Zukunft? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 9/2008

Gott vermissen
Ist die Politische Theologie ein Projekt der Zukunft?

Von Magnus Striet


Die Theologie muss eine Theologie der Welt sein und gleichzeitig radikal eschatologisch ausgerichtet bleiben auf den kommenden Gott. Daran erinnert zu haben, ist das Verdienst von Johann Baptist Metz, der Anfang August seinen 80. Geburtstag gefeiert hat.


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Der Begriff der Politischen Theologie war historisch belastet, als er Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts von Johann Baptist Metz zum theologischen Programmwort erhoben wurde. Historisch sensiblen Intellektuellen wie Hans Maier mussten die Ohren klingeln, als nun ausgerechnet dieser Begriff revitalisiert wurde, um an die politischen Dimensionen des Christentums zu erinnern, und sie meldeten sich verständlicherweise auch sehr schnell zu Wort.

Der Begriff war und ist bis heute zumindest auch mit dem Namen Carl Schmitt verknüpft: Wer von Politischer Theologie redet, steht unter Erklärungs- und jedenfalls dann, wenn er ein konstruktiv-affirmatives Verhältnis zur neuzeitlichen Freiheitsgeschichte sucht, auch Abgrenzungszwang. Unmissverständlich hat deshalb Maier gefragt, ob es überhaupt sinnvoll sein könne, für das Metzsche Anliegen ausgerechnet "den missverständlichen Begriff der politischen Theologie zu bemühen" (Kritik der politischen Theologie [1969], in: Hans Maier, Politische Religionen. Gesammelte Schriften, Band II, München 2007, 15-73, 21).

In der Frage, was das Recht als Recht begründet, vertrat der Staatsrechtler Carl Schmitt eine berühmt-berüchtigte These. Das Recht bezieht ihm zufolge seine Geltung aus der Legitimität des über es verfügenden Souveräns, was wiederum die Frage aufwirft, was den Souverän zum Souverän macht. Schmitts Antwort: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" (Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München 1934, 11). Dem vom Souverän verfügten Recht ist eben deshalb, weil es von ihm gesetzt ist, absoluter Gehorsam entgegenzubringen. Die Ähnlichkeit zu einer theologischen Denkform, die sich aus einem heteronomen göttlichen Imperativ bestimmt, liegt auf der Hand. Dem politischen Souverän ist deshalb absoluter Gehorsam zu leisten, weil er Souverän ist, sowie der Autorität der Offenbarung Gehorsam zu leisten ist, weil sie göttlichen Ursprungs ist.


Die Theodizee-Frage wird zur theologischen Frage schlechthin

Der als absoluter Souverän gedachte Gott findet seinen Widerhall im absoluten politischen Souverän, so dass gilt: Wer den politischen Souverän nicht akzeptiert, wird zum Staatsfeind erklärt. Schmitts Hintergrundannahme lautete, dass "alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre (...) säkularisierte theologische Begriffe" seien (49).

Metz hingegen ging es darum, ein konstruktives Verhältnis der Theologie zu den neuzeitlichen Emanzipationsbewegungen zu entwickeln. Zugleich sollte mit dem Begriff der politischen Theologie das gesellschafts- und kulturkritische Korrektiv des biblischen Ein-Gott-Glaubens in Erinnerung gebracht werden. Er wollte sensibilisieren für die offenen oder heimlichen Unterdrückungsmechanismen, die die gesellschaftlichen und sozialen Systeme durchziehen. Es gibt eben keine neutralen Orte menschlichen Zusammenlebens, sondern immer nur bereits politisch gestaltete Orte, die auf ihren ideologischen und menschenverträglichen Gehalt hin überprüft werden wollen. Und es gilt nicht nur, sie zu analysieren, sondern sie ethisch sensibel zu gestalten. Aufgrund der historischen Belastung hat Metz bereits Ende der sechziger Jahre sein Projekt unter den Begriff der "neuen politischen Theologie" gestellt.

An seiner grundsätzlichen theologischen Überzeugung aber veränderte sich nichts: Glaube und Theologie geschehen in der Welt, oder aber sie setzen sich in einer Welt, die sozial zerrissen ist, dem Ideologieverdacht aus. Theologisch revoltiert dieses Denken gegen alle Begriffe, die ihren geschichtlichen Zeitindex zu verbergen suchen. Das apokalyptische Denken, die Rede vom "Ende der Zeit" werden akzentuiert, um den Begriffen ihre geschichtliche Unschuld zu nehmen. "Unterbrechung" wird eine der wesentlichen Kategorien, mit denen Metz operiert. Nur der Begriff bewahrt sein Recht, der sich den Leiden der geschichtlichen Subjekte aussetzt und sich nicht mit dem Rücken zu den Opfern der Geschichte entfaltet.

Hier setzte die Kritik von Metz an der Theologie ein. Unberührt von den Menschheitstragödien schien die Theologie den Gang durch die Zeit zu nehmen. Aber Theologie ist immer auch Biographie. Endgültig in dem Moment, da Metz begann, die Barbarei, für die heute vor allem der Name Auschwitz steht, ins Zentrum seines theologischen Nachdenkens zu rücken, mussten sich ihm die Begriffe verändern. Die Theodizee-Frage wird nun zu der theologischen Frage schlechthin. Das zum Himmel schreiende Unrecht macht die Frage nach der Gegenwart Gottes unausweichlich: Wo bleibt Gott?

Nicht der Geist Athens mit einem Denken des Göttlichen, das den Bezug zur realen Geschichte verweigert, sondern der Geist Jerusalems wird erinnert: Der Geist, der die "memoria passionis" in sich bewahrt und sich auf die Zukunft ausstreckt, der Geist, der von dem kommenden Gott Gerechtigkeit und Trost ersehnt. Daher auch der Widerstand von Metz gegen den gegenwärtig so "verbreiteten Postmodernismus der Herzen mit seinem Hang zur unmittelbaren Affirmation" (Zum begriff der neuen politischen Theologie, Mainz 1997, 173). Theologie verrät die biblische Rede von Gott, wenn sie "eine postmoderne Religion der psychologisch-ästhetischen Seelenverzauberung" vertritt (172).


Gerechtigkeit für die unzähligen Opfer der Geschichte

Das Stichwort der "Seelenverzauberung" wirft ein erhellendes Licht auf viele religiöse Phänomene der Gegenwart. Will der Glaube nicht nur der Befriedigung religiöser Bedürfnisse dienen, sondern den Menschen beanspruchen, ja erhebt Gott selbst einen Anspruch auf die Glaubenden, so zeigt sich, wie aktuell die Zeitdiagnose von Metz ist.

Unübersehbar ist der gegenwärtige Hang, Religion und Glaube bedarfsgerecht zu individualisieren. Einem solchen subjektiven Belieben müssen universale Ansprüche fremd bleiben; ein solcher Glaube läuft auf eine Verdoppelung des faktisch gelebten Lebens hinaus. Mit der Prophetie Israels jedenfalls hat eine individualisierte und privatisierte Bedürfnisreligiosität nichts mehr zu tun.

Und auch wenn Metz die Negativität der menschlichen Rede von Gott betont, so hat dies nichts mit einer Subjektivierung zu tun. Gott ist bei Metz nicht das schlechthin Transzendente, über das deshalb nichts zu sagen ist, was ihn nicht sogleich verfehlen müsste. Sondern die Metzsche negative Theologie ist eine Theologie des Vermissens Gottes. Ihr Thema ist der Gott, der Zukunft für den Menschen hat und der Gerechtigkeit für die Ausgegrenzten und Gedemütigten, für die unzähligen Opfer der Geschichte verheißt. Bestimmter kann nicht von Gott geredet werden. Ohne diese bestimmte, sich an seinen geoffenbarten Namen knüpfende Hoffnung könnte Gott nicht vermisst werden. Wo ist der Gott, der die Bitte des Menschen, das Schreien der Unzähligen hört, und der dennoch nicht mit starkem Arm in den Geschichtsverlauf eingreift? Der den Mördern nicht das Messer entreißt? Wo ist der Gott, der in seiner Namenskundgabe Treue versprochen hat?

Die zeitdiagnostisch brisante Gegenwartsfrage lautet, ob dieser Gott wirklich noch vermisst wird. Ist noch das Leiden an einem Gott zu spüren, der so seltsam abwesend ist, an einem Gott, der der Natur ihren ungezügelten Lauf lässt? Stattdessen scheint die aktuelle mediale Erfolgsstory des Religiösen besonders mit der Anspruchslosigkeit zu tun zu haben, die für sie kennzeichnend ist. Wirklich vermisst wird Gott hier nicht. In der Gegenwartsliteratur häufen sich die abgründigen Fragen nach Gott, markiert der ersehnte Gott immer noch eine trostlose Leerstelle. Es stimmt nachdenklich, dass das biblische Vermissen Gottes, die Klage und der Zweifel, ausgerechnet da ausfallen, wo man sich religiös besonders begeistert zeigt.


Wenn alles "normal" wird

Die Religion als Seelenverzauberung ist Teil eines größeren, gesamtgesellschaftlichen Prozesses. Thomas Assheuer spricht von der "Normalisierungsmoderne" (Diskrete Religion, in: Tiemo Rainer Peters/Claus Urban, Über den Trost. Für Johann Baptist Metz, Ostfildern 2008, 19-22, 20): Die gottlos gewordene Moderne verträgt keine Dissonanzen, keine verstörende Unruhe. Sie hat die Erwartung Gottes verloren, und darüber droht ihr die Verzweiflung. Die Normalisierungsmoderne reagiert auf diese Befindlichkeit durch Problembeseitigung: Sie verhindert die Unruhe, indem sie alles als normal erklärt und das Aufbegehren gegen die Negativität pathologisiert.

Assheuers These von der Normalisierungsmoderne lässt sich nirgends sonst so präzise studieren wie an dem einzigen Faktum, dessen wir uns hundertprozentig gewiss sind, dem des kommenden Todes. Der Tod wird gesellschaftlich nicht einfach verdrängt. Der Soziologe Armin Nassehi spricht von einer regelrechten "Geschwätzigkeit des Todes" (vgl. Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Frankfurt 2003, bes. 287-304). Was sich gesellschaftlich verändert, ist etwas anderes. Man hadert nicht mehr mit dem Tod. Selbst eine ritualisierte Erinnerungskultur ist nicht davor gefeit, zu normalisieren - und darüber zu vergessen. Nur wenn das entsetzliche Schicksal der unzähligen Gepeinigten und Gemordeten eine bleibende Traurigkeit hinterlässt, das mögliche Verschweben geschichtlich gewordener Identitäten in die unendlichen Weiten des Kosmos unruhig bleiben lässt, wird menschlich erinnert.

Die Vorstellung einer künftigen Gesellschaft, die kein Ringen des Menschen mit dem möglichen Gott mehr kennt, die in der Nennung des Namens Gottes nicht mehr solidarisch bleibt mit den namenlos Gewordenen, ängstigt. Hat eine solche Gesellschaft noch ein menschliches Antlitz? Assheuer ist merkbar beunruhigt von der Frage, was mit dem Menschen - seinem Begriff von sich selbst, seinem humanen Selbstverständnis - geschieht, wenn erst einmal die moderne "Tröstungsindustrie" mit ihrem "trostlosen Trost", "ihren symbolischen Anästhesien, die letzten und vorletzten Fragen immer schon zum Schweigen gebracht haben" (Diskrete Religion, 21), das Leiden an der Endlichkeit beschwichtigt hat.

Erst stirbt Gott und dann der Mensch. So Metz. Für ihn hat die "Rede von Gott, die nicht namenlos ist und unbestimmt, sondern die durch jüdische Namen von Abraham bis Jesus gekennzeichnet ist", "auf revolutionierende Weise die Geschichte des Denkens" geprägt (Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in moderner Gesellschaft. In Zusammenarbeit mit Johann Reikerstorfer, Freiburg 2006, 54). Der Name Gottes hat die Normalisierung dessen, mit dem man sich nicht abfinden kann, verhindert, die Sensibilität für das Nichtidentische und Ungetröstete bewahrt und Erwartungen wach gehalten. Ein sich in dieser Gottesrede verankernder Glaube kann deshalb auch nie nur trösten. Auch Assheuer betont dies. Vorsichtig kommt er auf das zu sprechen, was eine diskrete Religion genannt werden könnte "die einen Trost gewährt, der nicht tröstet" (Diskrete Religion, 22).

Für eine solche diskrete Religion bleiben die Kategorien von Erzählung und Erinnerung grundlegend. Erzählen heißt Erinnern, das Vergangene als das Nicht-Vergangene in die Gegenwart hineinholen, es als das Nicht-Vergangene zu vergegenwärtigen. Das Erinnern verstört bleibend, und es sensibilisiert zugleich für das ethisch Prekäre der Gegenwart. Diese Sensibilisierung geschieht nicht auf Kosten der vergangenen Leiden, sondern führt in eine Haltung der anamnetischen Solidarität, die die Generationen unlösbar verbindet und den Individuen ihre Individualität belässt. Der letzte Feind des Menschlichen ist das Vergessen, ein Feind, der "zu siegen nicht aufgehört" hat (Walter Benjamin). Geschichte zu erinnern, ist deshalb auch etwas grundlegend Anderes als abstrakt von der Geschichtlichkeit des Daseins zu dozieren. Einem "Brief über den Humanismus" (Martin Heidegger) muss der Schrecken der Geschichte anzulesen sein oder aber er ist kein Brief über den Humanismus.


Widerstand gegen eine Stilllegung der Zeit

Die ursprüngliche Faszination der neuen politischen Theologie beruhte sicherlich auch darauf, dass die gesellschaftliche Öffentlichkeit im Gefolge der 68er-Bewegung politisiert war. Begriffe wie Subjektwerdung und Emanzipation waren in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen von allein plausibel. Auch wenn die Zukunft "ihre Bedeutung als Projektionsfläche künftiger Selbstverwirklichung eingebüßt" (Peter Bürger) zu haben scheint, so gibt es bis heute unzählige Menschen, die sich aus ihrem Glaubensbewusstsein heraus gegen diese Stillstellung der Zeit zur Wehr setzen. Gegen diese Zukunftslosigkeit können nur Subjekte einstehen, die sich selbst in ihren konkreten Erfahrungskontexten als Subjekte wollen. Die Theologie hat deshalb für das Subjektprinzip einzustehen.

Gerade deshalb sind bezogen auf die fundamentaltheologischen Debattenlagen der Gegenwart aber auch theoretische Tiefenschärfungen anzumahnen. Die Selbstverständlichkeit, mit der Metz einen Subjektbegriff theologisch beansprucht, ohne diesen im Kontext der Debattenlagen der Neuzeit und Moderne philosophisch zu gründen, muss überraschen. Der (gleichzeitig) immer wieder geäußerte Idealismusverdacht gegenüber dem Freiheitsbegriff der Neuzeit ist in seiner Pauschalität kontraproduktiv. Sollte das Denken der Freiheit keine schmerzenden Narben kennen, würde die endliche Freiheit wirklich nur als verrechnetes Moment an der Selbstwerdung des Absoluten gedacht, so wäre der Vorwurf des Idealismus nachvollziehbar. Aber wen präzise soll dieser Vorwurf treffen? Müsste nicht zumindest differenziert werden?


Sich von Habermas fordern lassen

Unbestreitbar ist doch, dass, mit der Philosophie Kants beginnend, Argumente gegen die Verächter und Harmlosredner der menschlichen Freiheit vorgetragen wurden, die bis heute nichts an ihrer Bedeutung verloren haben. Wer der schleichenden Naturalisierung der Lebenswelten theoretisch etwas entgegenhalten will, der Reduktion von "Schuld" auf einen Störfall der Natur etc., der wird faktisch auf Freiheitsargumente rekurrieren, die sich auf Kant, Fichte und Kierkegaard zurückführen. In den Naturalismusdebatten unserer Tage bedarf es eines ausgearbeiteten Begriffs der Freiheit. Oder aber es steht nur Meinung gegen Meinung, was dann, wenn es um die grundlegendste Verständigung des Menschen über sich selbst geht, reichlich dürftig ist.

Wohl niemand wird sich von einem Argument dazu bewegen lassen, die Würde seiner Freiheit zu übernehmen oder gar die Würde anderer Freiheit anzuerkennen. Das stimmt. Aber wenn es gilt, im politischen Raum um die Würde aller Menschen zu streiten, bedarf es klarer und ausgearbeiteter Argumentationen. Es muss denkbar bleiben, dass die um ihre geschichtliche Würde ringenden Subjekte überhaupt freie Subjekte ihres Ringens sind. Bei Naturalismusvertretern wie dem Gießener Biologen Ulrich Kutschera ("Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn außer im Licht der Biologie") wird der Glaube daran, dass Subjekte um ihre Würde streiten, längst zur puren Fiktion erklärt. Nicht die Politik wird zunehmend zum Totalen, wie noch bei Schmitt, sondern die Biologie.

Auch der umstrittene Begriff der Autonomie sollte deshalb nicht leichtfertig vernachlässigt werden. Denn das Denken der Autonomie arbeitet gerade nicht dem abgründigen Hang des Menschen zu, Herrschaft über andere ausüben beziehungsweise die Lust des eigenen Lebens hemmungslos ausagieren zu dürfen. Sondern Autonomie meint, sich selbst an einem ethischen Maßstab zu orientieren, der den anderen Menschen in seiner Freiheit unbedingt achtet - und gerade darin sich selbst und so dem geglaubten Willen Gottes zu entsprechen.

Schließlich wird man fragen müssen, ob die Intentionen der neuen politischen Theologie in einer Öffentlichkeit, die sich immer stärker pluralisiert und ausdifferenziert, in der religiöse, agnostische und atheistische Selbstbeschreibungen nebeneinander stehen, die keine auch nur relativ homogene Religiosität mehr kennt, überhaupt noch unvermittelt Gehör finden. Es ist zwar höchste Zeit von Gott zu reden, wie es kürzlich Kardinal Walter Kasper formulierte. Aber es ist nicht mehr so einfach von Gott zu reden, wie dies selbst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch möglich war, da die gesellschaftlichen Verhältnisse sich radikal wandeln und pluralisieren.

Der Glaube an den Gott Abrahams und Jesu ist beunruhigt, gesellschaftlich strittig geworden. Philosophisch, weil die gesellschaftliche Plausibilität dieses Gottes zunehmend wegbricht. Existentiell, weil der Glaube an den der Geschichte mächtigen Gott ein enormes Enttäuschungspotenzial vorhält. "Bittet, so wird Euch gegeben werden" (Mt 7,7). Bei Unzähligen löst dieses biblische Wort nur noch Kopfschütteln aus. Der zu beobachtende Trend einer Apersonalisierung des Göttlichen und die schleichende Auswanderung gerade der für religiöse Fragen Sensiblen in die Geisteswelt Indiens dürfte viel mehr mit Erschütterungen des Glaubens an den in die Geschichte eingreifenden Gott zu tun haben als dies erahnt wird. Um so dringlicher wird es vor diesem Hintergrund, anthropologisch zu streiten. Es gilt anthropologisch zu argumentieren, dass im Glauben Abrahams und Jesu ein Gott zu weltgeschichtlicher Bedeutung kam, über den hinaus kein größerer Gott zu denken ist. Und dass dieser Glaube auch dann noch das dem Menschen höchst Mögliche ist, wenn die Erfahrung seine Existenz zu bestreiten scheint, diesen Glauben immer wieder bitter ernüchtert.

Zwischen Metz und Jürgen Habermas ist es immer wieder zu Gesprächen gekommen, die bis heute zu denken geben. Die mediale Dominanz der Begegnung zwischen Habermas und Kardinal Joseph Ratzinger in der Münchener Akademie im Jahr 2004 verdeckt ein wenig die Debattenlagen, die für die Begegnung von säkularer Vernunft und Glaube womöglich zumindest gleichbedeutend sind. Habermas hat in einem Festvortrag anlässlich des 60. Geburtstages von Metz die Frage gestellt: Israel und Athen oder wem gehört die anamnetische Vernunft? (in: Vom sinnlichen Eindruck, Frankfurt 1997, 98-111) und die These zurückgewiesen, nur die religiösen Traditionen hätten die Sensibilität für das gegenwärtige und vergangene Unrecht bewahrt. Auch die säkulare Vernunft sei sensibel für das Unabgegoltene, sie bewahre ein Bewusstsein von dem, was fehlt, jedoch bleibe sie - trotz aller Sehnsucht und Verzweiflung - religiös unmusikalisch.

Interessant sind die neuesten Wendungen von Habermas bezogen auf das Religionsthema. Zwar bleibt der Glaube, wie Habermas jüngst formuliert hat, "für das Wissen etwas Opakes". Aber gerade darin "spiegelt sich das Unabgeschlossene der Auseinandersetzung einer selbstkritischen und lernbereiten Vernunft mit der Gegenwart religiöser Überzeugungen." (in: Michael Reder/Josef Schmidt, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt 2008, 26-36, 29). Deshalb fordert er die säkulare Vernunft auch nachdrücklich auf, religiösen Überzeugungen nicht a priori ihre interne Rationalität abzusprechen.


Das Verhältnis von Religion und Politik bleibt prekär

Für die humane Fortentwicklung der Zivilgesellschaft könnte es von vitalem Interesse sein, dass Religiöse und Nichtreligiöse ihre gegenseitigen Rationalitätsansprüche erörtern und anerkennen lernen, um so auf einem gemeinsamen Fundament für die egalitäre Menschenwürde aller in ihren konkreten Verhältnissen, in ihren Beschädigungen und Nöten einzutreten. Eben weil es Zeit ist von Gott zu reden, gilt es, "mit allen Menschen guten Willens" sich entschieden auf die Welt zu verpflichten.

Das Verhältnis von Religion und Politik wird gleichwohl prekär bleiben, die historische Erfahrung zeigt dies zur Genüge. Nicht deshalb, weil gesellschaftliche Systeme dazu neigen, ihre Zustände zu verschweigen. Sondern auch, weil die Frage virulent bleiben wird, inwieweit die historisch generierten und bis heute vitalen Religionskonzepte dazu neigen, sich totalitär aufzuspreizen.

Auf ein zentrales, faktisch auch gegen Carl Schmitt anzuwendendes Argument, das in der Logik des christlichen Glaubens die notfalls gewalttätige Durchsetzung des "Reiches Gottes" in den irdischen Verhältnisses verbietet, hat Metz bereits Ende der sechziger Jahre aufmerksam gemacht. Die Notwendigkeit politischen Engagements wird zwar betont, aber die konkrete Praxis wird unter ein relativierendes Kriterium gestellt. "Gerade um der Transzendenz und Freiheit dieser göttlichen Herrschaft willen ist die theologische Rede von der Herrschaft Gottes der Beginn der Säkularisierung und Relativierung jeder bestehenden politischen Herrschaftsform" und damit Kritik an jenen "politischen Herrschaftsformen, die sich selbst als 'absolut', d. h. als der menschlichen Freiheitsgeschichte entzogen und ihr vorausliegend" begreifen (Johann Baptist Metz, "Politische Theologie" in der Diskussion, in: Stimmen der Zeit 184 [1969] 289-308, 291ff.).

Bereits der so genannte "eschatologische Vorbehalt" weist somit jede die Herrschaft Gottes verdiesseitigende menschlich-politische Praxis in die Schranken. Der im Totalitarismus endende Terror im Namen Gottes verbietet sich, weil er nicht mehr an die in seiner Zukunft liegenden Möglichkeiten Gottes glaubt und sich selbst vergötzt. Es kann deshalb auch nie darum gehen, "das politische Bewusstsein selbst (...) theologisch zu bevormunden", sondern darum, "Kirche und Theologie ihrerseits auf jene Freiheitsgeschichte der menschlichen Gesellschaft zu beziehen, die zum inhärierenden Fundament der neuen politischen Ordnungen geworden ist und von der das Christentum aufgrund der Inhalte seiner Botschaft nicht beliebig abstrahieren kann" (290).

Trotz aller Dialektik der Freiheitsgeschichte ist aus der absoluten Freiheitswertschätzung des Evangeliums die Konsequenz zu ziehen, dass einzig und allein die demokratische Zivilgesellschaft und eine von ihr garantierte Rechtsstaatlichkeit theologisch gewollt sein können. Kein anderes System kann den Forderungen allgemeiner Menschenrechte besser entsprechen als das der Demokratie.

Wie freilich Gerechtigkeitsansprüche in einer Gesellschaft austariert werden können, Politik die Rechte zumal derjenigen innovativ stützt, die selbst nur leise die Stimme erheben können, muss immer wieder neu erkundet werden. Auch die Theologie kennt hier keine unmittelbaren Handlungsanweisungen oder gar einfache Lösungen. Die Welt ist Welt, komplex ausdifferenziert, vielfache Unwägbarkeiten sind in sie eingezogen, und sie befindet sich in einem ständigen Entwicklungsprozess.

Theologisch nicht verhandelbar ist jedoch, dass überhaupt nach Gerechtigkeit gesucht wird und die Achtsamkeit besonders denen gilt, die am Rande stehen. Demokratiefähig ist ein solches theologisch motiviertes politisches Engagement schon deshalb, weil es mit einem ethischen Imperativ konvergiert, der sich allein aus den Quellen säkular sich verstehender Vernunft speist. Einen jeden potenziellen Menschen nicht nur als Zweck an sich selbst betrachten, sondern "befördern" (Kant) zu sollen, meint nichts anderes als das, was der barmherzige Samariter lebt. Über das, was zu tun ist, ist zwischen Menschen guten Willens kein Wort zu verlieren; es ist höchstens bei gegenläufigen Interessen abzuwägen, was wie machbar ist. Aber dass etwas fehlt, ansteht, ist unstrittig.

Ist die Theologie politisch, so macht sie aus ihrem Bewusstsein heraus aufmerksam auf das, was fehlt. Ist sie nicht politisch, so verrät sie den Gerechtigkeit wollenden Gott. Auch insofern ist Theologie politisch nie unschuldig. In der Welt ist sie immer Teil der Welt, hat sie Anteil an den Sehnsüchten von Menschen und den herrschenden Mechanismen. Auch deshalb gibt es keine politisch neutralen Begriffe. Dies eingeklagt zu haben, die Theologie daran erinnert zu haben, Theologie der Welt zu sein und gleichzeitig radikal eschatologisch ausgerichtet zu bleiben auf den Gott, der kommt, ist das Verdienst von Johann Baptist Metz, der am 5. August 2008 seinen 80. Geburtstag gefeiert hat.


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Magnus Striet (geb. 1964) ist seit 2004 Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Gotteslehre, Theodizee und Eschatologie, Fragen der theologischen Anthropologie.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 9, September 2008, S. 455-460
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2008