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STANDPUNKT/317: "Feuchtgebiete" - Der Skandal des Körpers (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 11/2008

Der Skandal des Körpers
Woran der Roman "Feuchtgebiete" die Theologie erinnern sollte

Von Theresia Heimerl


Seit Monaten steht der Roman "Feuchtgebiete" an der Spitze der Bestsellerliste. Bisher von der Theologie ignoriert, könnte er ein Anstoß sein, sich unter den Bedingungen der Postmoderne mit dem Skandalon des Christentums erneut auseinanderzusetzen: der Inkarnation Gottes in einem menschlichen Körper.


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Charlotte Roche hat mit ihrem Roman "Feuchtgebiete" (2008) eine Lehrmeinung der postmodernen Kulturszene eindeutig widerlegt: Dass es heute schon fast unmöglich sei, noch einen Skandal zu provozieren. Ein in der Öffentlichkeit eines Krankenhauses platzierter blutverschmierter Tampon und jede Menge andere Körperflüssigkeiten reichen schon für den Ehrentitel "Skandalroman" des Jahres. Dabei enthält "Feuchtgebiete", nüchtern betrachtet, wenig Skandalträchtiges, wie es die Gegenwartsliteratur sonst prägt: Niemand wird bestialisch ermordet, keine Kinder oder Tiere zu Tode gequält, rein statistisch gibt es noch nicht einmal besonders viel Sex - jedenfalls weniger als bei Catherine Millet, die sich als letzte vor Roche mit ihrer Autobiographie "Das sexuelle Leben der Catherine M." (2001) den Titel "Skandalautorin" erwarb.

Die Protagonistin der "Feuchtgebiete", Helen Memel, Schülerin kurz vor dem Abitur, liegt mit einer Verletzung im Analbereich, die sie sich bei einer allzu gründlichen Intimrasur an ihren Hämorrhoiden zugezogen hat, in der Klinik. Dort lässt sie in lockeren Gedankenfetzen, in einer Art "innerem Monolog", den Leser und die Leserin an ihrer Abneigung gegen gängige Hygienevorstellungen teilhaben, lässt Episoden aus ihrem Sexualleben Revue passieren und hofft, durch eine weitere, bewusste Selbstverletzung ihre geschiedenen Eltern am Krankenbett wieder zusammenzubringen. Am Ende verlässt Helen, ohne dass ihre Eltern einander wiedergesehen hätten, mit dem Krankenpfleger Robin die Klinik und geht weg, heim zu ihm.

Der Skandal liegt offensichtlich nicht im banalen Plot. Der Skandal liegt da, wo früher die Theologie den Teufel zu orten pflegte: im Detail. Genauer in der detailgenauen Beschreibung aller ihrer Körperöffnungen, -vorgänge und -flüssigkeiten, die Helen dem Leser und der Leserin gibt. So viel Körperlichkeit wurde dem deutschen Lesepublikum schon lange nicht mehr zugemutet. Der weibliche Körper, millionenfach entblößt im Hörsaal der 68er, an Plakatwänden, in Film und Fernsehen, zuletzt sogar literarisch hundertfach "gef..." bei Millet, scheint in seiner realen Körperlichkeit eines der letzten Tabus zu sein.

Die Theologie, jahrhundertelang verlässlich mit Verurteilungen zur Stelle, wenn es um scheinbare oder tatsächliche Tabubrüche ging, schweigt zum Phänomen "Feuchtgebiete". Vielleicht peinlich betreten, vielleicht auch innerlich entrüstet, wahrscheinlich aber, weil sie das Buch für unter ihrer Würde erachtet.


Der Körper als religiöser und kultureller Bedeutungsträger

So gut die Theologie daran tut, sich endlich mit dem Indizieren von Literatur zurückzuhalten, so schade ist es, das Skandalon der "Feuchtgebiete" einfach zu ignorieren. Immerhin ist es genau jenes Skandalon, mit dem auch das junge Christentum für Aufmerksamkeit gesorgt hat: der Körper. Das Christentum ist eine sehr körperliche Religion. Im Zentrum seiner Lehre steht ein "Körper gewordener" Gott, die Hoffnung der Christen ist eine Auferstehung auch des Körpers als integraler Bestandteil des Menschen.

Das frühe Christentum weiß von Anfang an um die besondere Bedeutung des Körpers in den Symbolsystemen Religion und Gesellschaft. Die ersten Glaubenszeugnisse sind körperliche Zeugnisse, die Märtyrer bezeugen an und durch ihren Körper die Paradoxie des Christentums: Gerade ein auf seine ganze blutige, zerstörbare, vergängliche Körperlichkeit reduzierter Mensch bezeugt die Überlegenheit der Christin über den scheinbar mächtigen paganen Amtskörper in all seiner physischen Überlegenheit.

Vielleicht sogar noch verstörender sind die subtilen Demonstrationen der Asketinnen und Asketen, die ihren Körper mit minimalistischen Mitteln zum gegenläufigen Symbol in der Spätantike machen. Sich konsequent nicht zu waschen, die Haare wuchern zu lassen und zu fasten reichte aus, um für nachhaltige Irritation zu sorgen, wie die Vita des Heiligen Antonius nachdrücklich beweist (Athanasius, Das Leben des Hl. Antonius, PG 26).

Dass uns heute wieder ungewaschene Haut derartig irritiert, dass wir an vielen Stellen der "Feuchtgebiete" am liebsten zum Desinfektionsmittel greifen oder die "Heldin" des Romans in die Badewanne stecken möchten, wirft die Frage auf, was wir mit Deo überdecken, was wir mit Duschgel abwaschen wollen.

Himmlische und irdische Körper

Die Antwort lautet in der Spätantike wie heute: die Vergänglichkeit. Der Körper ist jenes memento mori, dem wir nicht entkommen können, egal wie antiseptisch wir leben. Der Körper erinnert uns immer daran, dass wir veränderlich, begrenzt, verletzlich, endlich sind. Der Körper ist der Kerker der Seele, wiederholt Platon mehrmals eine Vorstellung der Orphik. Nur der Körper hindert die Seele daran, den Göttern gleich schwerelos auf der himmlischen Rennbahn dahinzugleiten (Phaidros 246 b-c).

Die Seele ist der Kerker des Körpers, dreht der französische Philosoph Michel Foucault den Satz Platons um (Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 1977, 42). Die Seele oder das, was die Moderne von ihr übrig gelassen hat, formt den Körper, unterwirft ihn, konstruiert ihn neu, macht ihn zum Repräsentanten ihrer Ideale. Der Körper der (Post-)Moderne steht für das selbstbestimmte Subjekt, das alles nach seinem Willen formen kann. Sogar die Transzendenz und die Ewigkeit machen wir uns selbst, wir "verkörpern" sie von Licht umstrahlt, im Himmelsblau schwebend, in Werbespots für Diätmargarine oder Unterwäsche in Szene gesetzt. Der Körper der Postmoderne braucht keine große Erzählung von der Transzendenz mehr, er ist diese Erzählung: Freiheit und Schönheit in alle Ewigkeit verspricht er uns, erreichbar mit einem Einkauf im nächsten Drogeriemarkt. Was wir dort kaufen, sind nicht Seife oder Shampoo. Was wir uns erkaufen wollen, ist die Unvergänglichkeit.

Alles, was daran erinnert, dass der Körper Körper ist, Blut und Schleim und Feuchtigkeit und Galle, wie es der mittelalterliche Mönch Odo von Cluny sehr drastisch formuliert (Liber I collationum 8, PL 133), muss weg, darf gar nicht erst in den Blick kommen. 220 Seiten lang Blut und Schleim sind unerträglich für eine Gesellschaft, die ausgerechnet im Körper ihr Ideal der Ewigkeit zu verwirklichen sucht.

Den Sehnsuchthorizont nach einem ewig vollkommenen Körper hat uns das Christentum eröffnet. Niemand in der paganen Welt wäre auf die Idee gekommen, den Körper in die Ewigkeit mitnehmen zu wollen. "Eine Hoffnung, die geradezu für Würmer passend ist", ekelt sich der Philosoph Celsus im Dialog mit Origenes über die christliche Jenseitshoffnung (Origenes, Contra Celsum V,14, PG 11).

Die Vergänglichkeit und Begrenztheit des Körpers ist viel zu offensichtlich, auch wenn man sie in den römischen Thermen abzuwaschen versucht, den Körper für Volk und Vaterland diszipliniert - im Grunde sind das nur temporäre Maßnahmen. Das Christentum tritt in diesen Diskurs ein mit dem Menschenbild des biblischen Schöpfungsberichtes, der den Menschen als Mann und Frau, nicht aber als Körper und Seele kennt. Ein Leben des Menschen nach dem Tod muss ein Leben auch des Körpers sein. Ganz geheuer ist den ersten Theologen diese Vorstellung nicht, zu sehr ist auch für sie der Körper Ekel erregende Materie, blutendes, verfaulendes Fleisch, ein unvollkommenes Gefäß, dessen Ausscheidungsorgane man dem Schöpfer sei Dank wenigstens nicht ansehen muss und dessen Geschlechtsorgane so manchen Kirchenvater zur Verzweiflung treiben. Dennoch: Der Körper muss mit in den Himmel, zu sehr sehnt sich die Seele nach ihm und verlangsamt sogar ihren Weg dorthin, wie es Augustinus so eindrücklich formuliert (Genesiskommentar XII, 35 CSEL 28).

Der Körper wird im Christentum zum Dreh- und Angelpunkt der Soteriologie. Am Körper werden die Folgen des Sündenfalls sichtbar und erfahrbar: Sic est autem hoc peccatum, ut sit poena peccati, bringt Augustinus diese Logik auf den Punkt (De peccatorum meritis et remissione 22,36, CSEL 60). Am Körper soll auch die Erlösung sichtbar werden. Das Christentum lehrt die Erlösung des Körpers, nicht vom Körper. Diese Sehnsucht nach einem vollkommenen, unveränderlichen Auferstehungskörper, die das Christentum allen Vergänglichkeitsphobien der Spätantike entgegenzusetzen wusste, ist geblieben.

Nur unser Sehnsuchtshorizont ist bedeutend kleiner geworden, er hat sich auf das Hier und Jetzt reduziert. Das Unbehagen am Körper ist ebenso wenig mehr in eine große Erzählung von Schuld und Erlösung eingebettet wie die Sehnsucht nach Vollkommenheit. Geschichte wie Zukunft sind dem Körper abhanden gekommen in doppelter Hinsicht: Er darf keine Geschichte mehr haben, keine Narben und Falten, welche die ersten Theologen als unverzichtbares Zeichen einer christlichen Lebens- und Leidensgeschichte gerade auch an den Auferstehungskörpern der ersten Heiligen sehen wollten. Der Körper der Postmoderne darf auch keine Zukunft mehr haben, denn Zukunft bedeutet Veränderung. Der Körper erzählt nur mehr seine eigene Geschichtslosigkeit und gaukelt jene Transzendenz vor, die sich in ihrer eigenen Immanenz erschöpft.

Wer auf diesen Selbstbetrug hinweist, sagt nicht nur, dass der Kaiser nackt ist. "Feuchtgebiete" schreit uns ins Gesicht, dass der Körper endlich und vergänglich ist, blutig, schleimig, stinkend trotz aller Versuche, ihn von seiner Körperlichkeit rein zu waschen. Das ist für viele Blasphemie, eine Beschmutzung ihres letzten Ideals im wörtlichen wie übertragenen Sinn, oder zumindest ist es eine radikale Kult-Kritik am Tanz um den vergoldeten Körper.


Versuche autonomen weiblichen Sprechens

"Feuchtgebiete" setzt eine literarische Tradition fort, die mit Benoîte Groults Roman "Salz auf unserer Haut" 1988 begonnen hat und nur ein Jahr später mit Elfriede Jelineks "Lust" für die erste nachhaltige Verstörung dieser Art am Literaturmarkt sorgte: Die Selbstbeschreibung des weiblichen Körpers und weiblicher Sexualität in pornographischer Deutlichkeit. Der weibliche Körper war jahrtausendelang Objekt männlicher Beschreibung und Konstrukt männlicher Weltdeutung. Der weibliche Körper begegnet uns immer als der Körper der anderen, als Projektionsfläche für alle nur denkbaren Männerphantasien. Der weibliche Körper ist der Körper schlechthin, Materie ohne Stimme. Jene Distanz, die Männer an sich selbst erfahren, das Gefühl der eingekerkerten Seele oder zumindest eines unbotmäßigen Körpers, der sich dem männlichen Herrschaftswillen verweigert, wird Frauen nicht zugestanden. Sie sind ihr Körper, während Männer einen Körper haben.

Diese Sprachlosigkeit des weiblichen Körpers hat nicht wenige und nicht zuletzt auch Frauen(forscherinnen) dazu verleitet, Frauen als "körperbezogener", "ganzheitlicher", weniger von einem Körper-Geist-Dualismus verdorben anzusehen. Wie sehr damit jene Objekthaftigkeit des weiblichen Körpers fortgeschrieben wird, die Frauen zum Verfügungsgegenstand ohne Stimme degradiert, fällt den wenigsten auf. Das Sprachmonopol geht aber immer einher mit der Deutungshoheit: Frauen wurde gesagt, was ihr Körper sei, was er nicht sei, was für ihn gut sei und was schlecht, ja wie sie über ihren Körper zu sprechen hätten.

Frauen, so konstatierte die französische Literaturwissenschaftlerin Groult 1988, haben keine eigene Sprache für ihren Körper, sie können vornehm schweigen oder die Worte der Männer verwenden und damit deren Blick akzeptieren, und dieser ist im Wesentlichen ein wissenschaftlich-medizinischer oder ein pornographischer. Groult versucht sich in ihrem Roman 1988 an einer eigenen Sprache über den Körper, insbesondere die Geschlechtsteile. Es spricht nicht unbedingt für den Fortschritt des Geschlechterdiskurses, dass Charlotte Roche 2008 noch immer nach Worten sucht: "Meine Themen sind die, die alle beschäftigen, nur fehlen uns für diese Themen die Worte. Es gibt Frauen, die nicht einmal ein Wort für ihr eigenes Geschlechtsteil haben" (www.spiegel.de/spiegel/0,1518,537317,00.html).

Am meisten irritiert in diesen Versuchen autonomen weiblichen Sprechens über den eigenen Körper die Direktheit, die Deutlichkeit und die (Selbst-)Verachtung, mit der gesprochen wird. Bis zu Roches "Feuchtgebieten" gehörte der Schnitt in die eigene Vagina der "Klavierspielerin" (1983) Jelineks wohl zu den verstörendsten Szenen der deutschsprachigen Literatur, auch und gerade weil diese Selbstverstümmelung mit unverkennbarer sprachlicher Ironie erzählt wird, wie sie auch "Feuchtgebiete" auszeichnet: "Mit wenig Information über Anatomie und noch weniger Glück wird der kalte Stahl heran- und hineingeführt, wo sie eben glaubt, dass ein Loch entstehen müsse. Es klafft auseinander, erschrickt vor der Veränderung, und Blut quillt heraus. (...) Wie üblich tut nichts weh. SIE schneidet sich jedoch an der falschen Stelle und trennt damit, was Herr Gott und Mutter Natur in ungewohnter Einigkeit zusammengefügt haben" (Die Klavierspielerin, 110f.).

Gerade in diesen vordergründig masochistischen Szenen durchbrechen Frauen erstmals konsequent die männliche Interpretationsmacht über den Körper. Sie sprechen oder schreiben eben nicht so, wie Männer es erwarten, sie sind nicht ihr Körper, in dem sie sich wohl fühlen. Sie hegen und pflegen ihren Körper nicht in Erwartung männlichen Begehrens und Fortpflanzungswunsches, sie sind nicht die heile Welt, in die der Mann zurückkehren kann. Jelinek, Millet und Roche nehmen für sich in Anspruch, genauso sich von ihrem Körper distanzieren zu können, ihren Körper mit derselben klinischen Distanz sehen zu können wie Männer (Jelinek), ihn ebenso als bloßes Machtinstrument verwenden zu können (Millet, Roche), ja sie entstellen den männlichen Blick bis zur Kenntlichkeit, wenn sie in jener vulgären Direktheit von ihren Körperteilen sprechen, wie es Männer selbstverständlich tun.

Das von diesen Schriftstellerinnen entworfene Panorama weiblicher Körperlichkeit und Sexualität ist in gewissem Sinne tatsächlich postfeministisch. Es propagiert keine heile Gegenwelt ganzheitlicher Leiberfahrung, wie es gerade feministische Theologie oft so gerne tut. Es imaginiert auch keine Utopien jenseits des Patriarchats. Die genannten Autorinnen werfen einen mitleidslosen Blick auf den Körper nach dem Sündenfall in all seiner Unvollkommenheit, getrieben vom Begehren und den Spielregeln von Herrschaft und Demütigung.

So deprimierend dieser Blick auch sein mag, er ermöglicht erst einen ehrlichen Diskurs jenseits aller Versuchungen, den Körper schönzureden und weichzuzeichnen. Gerade indem Frauen ihren Körper zum Objekt der Literatur machen, zeigen sie die Ungeheuerlichkeit dieser Perspektive - die Entrüstung über die "pornographische Sprache", wie sie allen drei Werken entgegenschlug, ist das Ertapptwerden des eigenen unreflektierten Blicks beider Geschlechter.

Roche geht dabei vielleicht am weitesten, sie seziert den weiblichen Körper buchstäblich vor den Augen des Lesers und der Leserin: "Die Krankenschwestern nehmen jede eins meiner Beine und hängen sie in lange Gurte, die von der Decke runterkommen. (...) Meine Beine stehen gerade nach oben. Wie eine extreme Frauenarztstellung. Sodass alle gut in meinen Arsch reinkriechen können" (Feuchtgebiete, 179).


Der Leib ist das theologisch korrekte Gegenstück zum Hochglanz-Körper der Medienwelt

Die Theologie schweigt zum literarischen und gesellschaftlichen Phänomen "Feuchtgebiete" bisher. Vielleicht auch, weil der Roman der Theologie in ihrer Auseinandersetzung mit dem Körper denkbar ungelegen kommt. Er zeigt deutlich, dass die Theologie in ihrem Sprechen über den Körper zwei Versuchungen der Postmoderne erlegen ist: Jener des plakativen Ideals und jener der Normierung. Ganz im Zuge der Rationalisierung der Moderne schuf auch die katholische Moral (die protestantische natürlich ebenso) einen normierten Körper, dessen Funktionen bis ins intimste Detail kontrolliert werden sollten.

Ab wie viel Zentimeter nackter Haut oberhalb des Knies beginnt die schwere Sünde? Diese Frage, in Lehrbüchern der Moraltheologie bis zum Konzil Standard, will die Fehlbarkeit des Menschen in seiner Körperlichkeit nach dem Sündenfall mit dem Lineal messen und stellt den Körper damit in den Kontext des modernen Credos von mathematisch-technischer Machbarkeit und Korrigierbarkeit, die dem biblischen Menschenbild kaum mehr gerecht wird. Die Sünde verkommt in dieser Sicht nur allzu leicht zu einem quantifizierbaren Vergehen, einer komplexen Liste von "Dos" und "Don'ts".

Der Körper wird zum Gegenstand eines Herrschaftsdiskurses, den die Kirche gegenüber der Moderne, in deren Sprachspiele sie sich damit begeben hat, zwangsläufig verlieren musste. Jeder theologische Versuch, über die Normierung von Körper und Sexualität zu sprechen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt und der Lächerlichkeit preisgegeben in einer Welt, die diese Normierung viel gekonnter und smarter betreibt, indem sie ihre Normen wieder in einen Kontext scheinbarer Heilsversprechen verpackt, der dem theologischen Normierungsversuch heute fehlt.

Aus dieser Erkenntnis heraus sind Teile der Theologie der anderen Versuchung in Bezug auf den Körper erlegen: Sich einen schönen Ideal-Körper zu schaffen, fernab aller Sünde und Fehlbarkeit - den Leib. Der Leib ist das theologisch korrekte Gegenstück zum Hochglanz-Körper der Medienwelt: heil, ganz, Wohlfühlen und erfülltes Sexualleben versprechend. Beide Körper-Bilder werden der real erfahrenden Körperlichkeit nicht gerecht. Ausgerechnet Autorinnen wie Elfriede Jelinek, Catherine Millet und Charlotte Roche verweisen wieder radikal auf die ganze Gebrochenheit und Widerspenstigkeit des Körpers trotz aller scheinbaren Normierungen und Befreiungen hin. Erlöster müssten sie doch eigentlich aussehen, frei nach Nietzsche, die heutigen Körper, nach all den verbrannten BHs und Leibübungen in kirchlichen Bildungshäusern.

Die Theologie kann sich nur dann von den konsequent körperlichen, blutenden, schwitzenden Körpern der genannten Romane abwenden, wenn sie auch gleich ihren Existenzgrund aufgibt: Die Menschwerdung Gottes, seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung. Das Skandalon des frühen Christentums ist wieder zum Skandal geworden: Eine Welt, die nicht in ihrer Scheintranszendenz des imaginierten Idealkörpers durch die Erwähnung von Menstruationsblut gestört werden will, ist mit einer Vorstellung eines schwitzenden, blutenden, verletzten Gottes am Kreuz völlig überfordert, sogar die Autorin der "Feuchtgebiete": "Wir müssen hier in Köln immer an der Agneskirche vorbei, und da hängt so ein großes Kreuz mit Jesus. Er sieht leidend aus, und meine Tochter hat Angst vor ihm. Ich habe ihr erzählt, dass der sich nur festhält, weil er sonst runterfällt" (www.tagesspiegel.de Zeitung/Sonntag; art 2566,2482027).


Die zentralen Aussagen des Christentums neu buchstabieren

Vielleicht gilt es, die zentralen Aussagen des Christentums neu zu buchstabieren, anstatt alte Kämpfe in Sachen Körper zu kultivieren, deren Sinn außer ein paar theologischen Veteranen keiner mehr versteht. Wir glauben an einen Körper gewordenen Gott, der doch tatsächlich "die Finger (...) mit Blutreste[n] unter den Nägeln (...) dreckige Kinderspielhände" (Feuchtgebiete, 141) berührt, der am Kreuz verblutet und an die Auferstehung des Fleisches. Glauben wir das wirklich noch? Und trauen wir es uns zu sagen?

Die Literatur ist längst keine ancilla theologiae mehr. Autorinnen wie Roche und Millet tragen keine Verletzungen durch die katholische Tradition der Normierung des Körpers (anders als Jelinek, die im katholischen Österreich aufgewachsen ist), bestenfalls durch deren völlig säkularisierte Überreste. "Feuchtgebiete" kann kein Behelfsmaterial für die Theologievorlesung sein, sondern ein Anstoß, sich mit dem Skandalon des Christentums unter den Bedingungen der Postmoderne erneut auseinanderzusetzen: dem Körper. Im Vergleich zu "Feuchtgebiete" ist die Inkarnation, konsequent zu Ende gedacht, der wirkliche Skandal. Etwas mehr Mut zu diesem Skandal täte der Theologie ganz gut.


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Theresia Heimerl (geb. 1971), Studium der Deutschen und Klassischen Philologie und Katholischen Theologie in Graz und Würzburg, Dr. phil 1998, Dr.theol. 2002. Habilitation 2003 über den "Körper in Patristik, Gnosis und Manichäismus", seit 2003 ao. Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Graz. Der Text ist die wesentlich überarbeitete Fassung eines Beitrags im Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (www.theologie-und-kirche.de).


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 11, November 2008, S. 562-566
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2009