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STANDPUNKT/328: Betäubt euch nicht gegen den Schmerz... (Junge.Kirche)


Junge.Kirche 3/2008
Unterwegs für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung
Focus dieses Heftes: Money, money, money

Betäubt euch nicht gegen den Schmerz einer unheilen Welt
1 Thessalonicher 5,1-10, Predigttext am 9. November 2008

Von Sylvia Bukowski


Die Hinwendung zu Jesus verändert auf heilsame Art das Leben, macht es aber nicht einfacher. Das haben auch die Mitglieder der ersten christlichen Gemeinde in Thessaloniki erlebt. Viele von ihnen hatten vorher heidnische Gottheiten verehrt, manche hatten auch mit dem Judentum sympathisiert, und in Apostelgeschichte 17,4 wird ausdrücklich erwähnt, es seien etliche vornehme Frauen unter ihnen gewesen.

Die Predigten des Apostels Paulus hatten sie alle sehr beeindruckt. Darin spürten sie nicht nur die Leidenschaft eines Menschen, der die radikal verändernde Kraft Jesu am eigenen Leib erfahren hat. Genauso bewegend fanden sie den Inhalt seiner Botschaft. Denn in ihrem Licht sah plötzlich vieles anders aus: die Welt, in der sie lebten, und auch die Rolle, die ihnen darin aufgegeben war.


Pax Romana

Thessaloniki war eine bedeutende Wirtschaftsmetropole im römischen Imperium. Sie besaß einen wichtigen Hafen und lag unmittelbar an der Via Egnatia, der direkten Verbindungs- und Handelsstraße zwischen Rom und Byzanz, die natürlich auch von militärischer Bedeutung war. Entsprechend ihrer verkehrsgünstigen Lage kamen Menschen aus allen Teilen des römischen Reichs nach Thessaloniki und gaben ihr ein multikulturelles und multireligiöses Gepräge. Aber das bunte Völkergemisch der Stadt war sozial eindeutig unterteilt. Es gab reiche römische Bürger, vor allem griechischer Herkunft, die immer reicher wurden, und Arme von überall her, die immer arm blieben. Denn die römische Eroberungsmacht paktierte bewusst mit den jeweiligen Honoratioren vor Ort, ließ ihnen ihre herausragende gesellschaftliche Stellung und gestand ihnen eine Reihe von wirtschaftlichen und politischen Privilegien zu. Das Kalkül dabei war, dass jene fortan auch im eigenen Interesse für den Erhalt des Status quo sorgen würden und garantierten, dass die geforderten Abgaben an Rom in vollem Ausmaß abgeführt wurden. Da sie außerdem als Großgrundbesitzer und Handelsunternehmen von der fortwährenden Expansionspolitik Roms profitierten, die ihnen immer neue billige Arbeitskräfte, Sklavinnen und Sklaven aus neu unterworfenen Völkern zuführte, unterstützten sie auch bereitwillig das überall präsente römische Militär.

Den Armen musste es angesichts dieses raffinierten Herrschaftssystems auch in Thessaloniki immer aussichtsloser erscheinen, sich der ungeheuren Macht des Imperiums zu widersetzen. Erst drei Jahre bevor Paulus in die Stadt gekommen war, waren die letzten Aufstände der Parther ganz in der Nähe blutig niedergeschlagen worden.

Es gehe schließlich um "Frieden und Sicherheit" (vgl. 1. Thessalonicher 5,3) für das ganze römische Reich. Diese Parole diente als Rechtfertigung für viele Schikanen der Mächtigen, mit ihr wurde sowohl die große soziale Ungerechtigkeit zementiert als auch der hohe Blutzoll schöngeredet, den der militärisch errungene und abgesicherte römische Frieden, den die viel gepriesene "Pax Romana" von vielen Völkern forderte. Von einem "goldenen Zeitalter", als das diese Periode römischer Herrschaft seit dem Kaiser Augustus von vielen römischen Dichtern überschwänglich besungen wurde, konnte aus der Perspektive der kleinen Leute und unterworfenen Völker jedenfalls keine Rede sein!

Das machen die wenigen kritischen Stimmen, die überliefert sind, sehr deutlich. So legt Tacitus dem Britannier Calgacus folgende Klage in den Mund:

Diese Räuber durchwühlen, nachdem sich ihren Verwüstungen kein Land mehr bietet, selbst das Meer, nicht der Orient, nicht der Okzident hat sie gesättigt, Plündern, Morden, Rauben nennen sie mit falschem Namen Herrschaft (imperium), und wo sie Öde schaffen, nennen sie es Frieden... Hab und Gut werden zu Steuern, der Jahresertrag der Felder zur Getreideabgabe, unsere Leiber aber und Hände beim Bau von Straßen durch Wälder und Sümpfe zerschunden... (Wengst, 70).

Aber die meisten Untertanen des römischen Imperiums hatten sich mit den Zuständen, so wie sie waren, wohl abgefunden: die, die davon profitierten, sicher ohne große Mühe, trotz ihrer umfassenden Abhängigkeit von der Zentralmacht in Rom. Und die anderen, die den Preis für die Ruhe im Reich und das Funktionieren des Systems zahlen mussten, ballten höchstens noch insgeheim die Faust oder ließen sich vielleicht von der strahlenden Propaganda selbst auch blenden.

Zudem boten die vielfältigen religiösen Kulte wirksame Ablenkung und Betäubung. In Thessaloniki war die Stadtgottheit der Kabirus, der in orgiastischen Feiern verehrt wurde. Eine ähnlich große Bedeutung hatte der Dionysoskult, in dessen Mittelpunkt gemeinsame Mahlzeiten standen, bei denen, wie könnte es der Gott des Weins anders wollen, der Alkohol reichlich floss. Und nicht selten wird sich der Rausch dieser Feiern mit sexueller Ekstase verbunden haben. Bei einer Ausgrabung ist man in Thessaloniki auf ein Bordell gestoßen, in dem die Weinkrüge einen Phallus als Ausguss hatten!

Über diese und sonstige in Thessaloniki vorhandenen Kulte hinaus wurde die Verehrung des römischen Kaisers als Repräsentanten der imperialen Macht immer stärker religiös aufgeladen und in allen Provinzen zum Test der Loyalität der Bürger gegenüber dem Staat.


Wie lange noch diese Gewalt?

In dieser Situation bekommt die Predigt des Paulus eine hohe politische Brisanz.

Über Zeiten und Fristen aber, liebe Brüder und Schwestern, braucht euch niemand zu belehren. Ihr wisst ja selber genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Wenn die Leute sagen: Friede und Sicherheit, dann wird das Verderben so plötzlich über sie kommen wie die Wehen über die Schwangere, und es wird kein Entrinnen geben.

Ihr aber, liebe Brüder und Schwestern, lebt nicht in der Finsternis, so dass euch der Tag überraschen könnte wie ein Dieb. Ihr seid ja alle Söhne und Töchter des Lichts und Söhne und Töchter des Tages; wir gehören nicht der Nacht noch der Finsternis. Lasst uns also nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein! Wer schläft, schläft des Nachts, und wer sich betrinkt, ist des Nachts betrunken, wir aber, die wir dem Tag gehören, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf Rettung. Denn Gott hat uns nicht dazu bestimmt, dass wir dem Zorn verfallen, sondern dass wir die Rettung erlangen durch unseren Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit wir alle miteinander, ob wir nun wachen oder schlafen, zusammen mit ihm leben werden.

Paulus behauptet, dass ausgerechnet einer der vielen, die von den römischen Machthabern als Aufrührer gekreuzigt wurden, der wahre Herr der Welt sei. Das bedeutet: Er, der auferstandene Jesus aus Nazareth, und kein anderer wird die Menschheit richten, und zwar nach genau den Maßstäben von Gottes Barmherzigkeit, die er selbst mit seinem Leben und Sterben erfüllt hat. Schon jetzt kann also nicht Macht und Erfolg über den Wert eines Lebens entscheiden, nicht die Anzahl von Siegen über andere den Rang eines Menschen bleibend bestimmen. Denn für Jesus zählt allein das Maß der Liebe, die andere Menschen aufbaut und ihnen Recht verschafft. Bei ihm werden die Letzten an die erste Stelle rücken, und die, die immer ganz unten waren, werden endlich aufgerichtet und zu ihrem Recht kommen. Und das alles wird nach der Überzeugung von Paulus sehr bald geschehen!

Kein Wunder, dass in der kleinen Gemeinde in Thessaloniki seither immer wieder die Frage auftaucht: Wann, wann wird das endlich sein? Wann kommt der Tag des Herrn? Und was ist mit denen, die inzwischen verstorben sind?

Und Paulus versteht die Dringlichkeit ihrer Fragen. Er weiß, in welchen Bedrängnissen die Gemeinde lebt, heute würden wir sagen: unter welchem Druck sie steht. Er hat es vielleicht sogar selber miterlebt. Denn Lukas berichtet in Apostelgeschichte 17, 5-8 von einer dramatischen Hetzjagd auf Paulus und Silas durch einen Mob, der von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde aufgestachelt worden sei, und von dem lebensgefährlichen Vorwurf, die Christen schürten Unruhe im ganzen römischen Reich, sie gefährdeten also "Friede und Sicherheit" und begingen Hochverrat, weil sie nicht den Kaiser verehrten, sondern "ihren König Jesus". Paulus selber erwähnt diese Vorfälle nicht. Er schreibt lediglich davon, dass die Gemeinde in Thessaloniki offenbar von ihrer heidnischen Umgebung Ähnliches erleiden muss wie die Christinnen und Christen in Judäa (2, 14), lässt aber offen, wie sich die Anfeindungen konkret äußern.

Deutlich ist in jedem Fall: die Gemeinde in Thessaloniki hat keinen leichten Stand. Trotzdem hat sie bis jetzt tapfer im Glauben durchgehalten und hat konsequent einen Umgang miteinander gepflegt, der die Hoffnung spiegelt, dass Solidarität und Menschenwürde unabhängig von allen sozialen Unterschieden letztlich mehr zählen als das, was einer gnadenlos auf Profit und den eigenen Vorteil ausgerichteten Gesellschaft wichtig ist.

Aber wie lange noch, bis aller Welt endlich auch deutlich wird, welche Werte in Wahrheit zählen und über das Leben entscheiden?


Seid nüchtern

Trotz dieser drängenden Frage lässt Paulus sich nicht dazu hinreißen, in seinem Schreiben irgendwelche zeitlichen Spekulationen zu nähren. Er bleibt dabei: der Tag des Herrn wird kommen wie der Dieb in der Nacht. Keiner kann den genauen Zeitpunkt berechnen. Das weiß die Gemeinde eigentlich auch. (5, 2) Aber um sie in der Zwischenzeit zu stärken, bestätigt Paulus ihr noch einmal sehr eindringlich: Ihr alle seid Kinder des Lichts! (5, 5) Und er ermutigt sie ausdrücklich, weiterhin die Welt und ihre Rolle darin in diesem Licht, dem Licht der uneingeschränkten Barmherzigkeit Gottes, zu entdecken. So wie sie es bisher schon getan haben, sollen sich die Mitglieder der Gemeinde weiterhin gegenseitig ermahnen und erbauen (5,11) und sich vereint den finsteren Machenschaften in ihrer Umgebung verweigern, mit denen Menschen eingeschüchtert und klein gehalten werden. Von niemandem sollen sie sich einreden lassen, politische Unfreiheit ließe sich mit sexueller Freizügigkeit wunderbar kompensieren. Und auch wenn es schwer auszuhalten ist, sollen sie die Augen vor Unrecht nicht verschließen und den Schmerz darüber nicht mit Alkohol betäuben.

Paulus ist wichtig, dass die kleine Gemeinde in Thessaloniki in jeder Hinsicht nüchtern bleibt, auch gegenüber der römischen Propaganda, die den klaren Blick auf die herrschenden Zustände vernebelt. Und er erinnert die Christinnen und Christen daran, dass sie im Vertrauen auf Jesus, den wahren Herrn der Welt, guten Grund haben, sich mit Glauben, Liebe und Hoffnung besser gerüstet zu wissen für einen nachhaltigen Frieden als die Soldaten, die ihn mit Waffengewalt zu sichern versuchen. Denn die Waffen haben zwar die Macht, Tod zu bringen und Menschen in Schach zu halten, aber sie vermögen nicht, wie die Liebe, Leben zu wecken! Die Pax Romana, der auf Gewalt gründende Sieg-Friede, hat keine Zukunft. Die Zukunft gehört dem Schalom Gottes, dem Frieden, in dem alle Feindschaft überwunden wird und Menschen befreit aufatmen können. Im Licht des Evangeliums kann die Gemeinde von diesem Frieden schon Spuren entdecken und solche Spuren auch selber legen (5, 10).

Wie eine Mutter, die ihre Kinder pflegt, und wie ein Vater, der seine Kinder ermahnt und tröstet, so ist Paulus nach eigenen Worten der Gemeinde in Thessaloniki begegnet (2, 7; 11) und in dieser Eindringlichkeit und Zärtlichkeit schreibt er ihr aus Korinth, um sie in ihrer Hoffnung und in ihrem neuen Umgang miteinander und anderen zu bestärken. Nicht zuletzt diese liebevolle, wertschätzende Art, diese Christinnen und Christen anzusprechen, verleiht seinen Worten eine besondere Kraft, eine Kraft, die sich gerade in Schwachheit bewährt und dem Anpassungsdruck des Imperiums standhalten lässt.

P.S. Wer über diesen Text am 9.11.2008 predigt, kann leicht eine Brücke zu den Ereignissen vom 9.11.1938, aber auch vom 9.11.1989 schlagen. Denn in beiden Fällen wird deutlich, wie wichtig es für christliche Gemeinden ist, nüchtern zu bleiben und sich nicht von Propaganda oder stofflichen Betäubungsmitteln abstumpfen zu lassen gegenüber staatlichem Unrecht bzw. skrupelloser wirtschaftlicher Ausbeutung. In Zeiten gefährlichen Missbrauchs der apokalyptischen Metaphorik von Licht und Finsternis sollte zudem klargestellt werden, dass wir als "Kinder des Lichts" keine andere Aufgabe haben, als allein "mit dem Panzer des Glaubens, der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung" dem Bösen zu widerstehen.


Sylvia Bukowski ist Pfarrerin an der Dietrich-Bonhoeffer-Kirche in Unterbarmen

Literaturhinweise:


Klaus Wengst, Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit. München 1986.
Chr. vom Brocke, Thessaloniki - Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus, WUNT 2.125, Tübingen 2001.


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Inhaltsverzeichnis - Junge.Kirche 3/2008

Focus: Money, money, money
- Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon / Vincenzo Petracca
- Was ist euer Leben / Peter Bukowski
- Eine Ethik des Profitierens? / Peter Scherle
- Wirtschaftsethik im 21.Jahrhundert / Ein Gespräch zwischen Sven Giegold und Nils Ole Oermann
- Aufruf: Fair teilen statt sozial spalten
- Argentinien 2008 / Arturo Blatezky
- Schuldnerberatung / Michael Zierz-Isaac
- Der eitle Mammon / Annette von Droste-Hülshoff, Gunther Schendel
- Solidarischer Lohn in der Kirche? / Gerhard Liedke
- Die Kirche im Stiftungsfieber / Gerard Minnaard
- Wie wird man Millionär? / Susanne Henser & Britta Möhring
- Pilotprojekt für Grundeinkommen / Birgit Pfeiffer
- Zschopautaler / Christian Schwerin
- Ist der Islam die Lösung? / Kilian Bälz
- Glaube und Kunst / Farbe aus Uganda
- Eine asiatische Stimme gegen den Mammon / Bas Wielenga

Zwischenruf
- Wer definiert Sicherheit? / Mechthild Gunkel

Forum
- 60 Jahre ÖRK (2) / Konrad Raiser, Barbara Rudolph, Geiko Müller-Fahrenholz,
   Olav Fykse Tveit, Gottfried Kraatz, Christoph Anders, Tim Kuschnerus
- 60 Jahre ÖRK - quo vadis Ökumene? / Paul Oestreicher
- Das ganze Land brennt / Bernd Kappes

Sozialgeschichtliche Bibelauslegung
- Betäubt euch nicht gegen den Schmerz einer unheilen Welt / Sylvia Bukowski

Predigt
- Von der Heilkraft "ergreifenden" Vertrauens / Magdalene L. Frettlöh

Buchseiten, Veranstaltungen
Impressum und Vorschau


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Quelle:
Junge Kirche, 69. Jahrgang, Nr. 3/2008, Seite 64-66
Herausgeber: Erev-Rav, Verein für biblische und politische Bildung
Redaktion: Junge Kirche, Luisenstraße 54, 29525 Uelzen
Tel. & Fax 05 81/77 666
E-Mail: verlag@jungekirche.de
Internet: www.jungekirche.de

Die Junge Kirche erscheint viermal im Jahr.
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Einzelheft 6,50 Euro inkl. Versandkosten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2009