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STANDPUNKT/342: Prophetinnen damals und heute (Bibel heute)


Presseinformation zu "Bibel heute"
Zeitschrift des Katholischen Bibelwerks e.V. Stuttgart - Heft 3/2009

Prophetinnen damals und heute
Wer sie nicht ernst nimmt, liegt daneben

Von Dr. Ina Praetorius


Die meisten Menschen stellen sich Propheten als eine Art Hellseher vor. Das ist aber nur ein Aspekt von Prophetie. Ein Blick in die Geschichte schärft den Blick für die Gegenwart: Prophetinnen und Propheten gibt es auch heute!


In meiner Kindheit nannten wir den kleinen Löffel, der beim Mittagessen am oberen Tellerrand lag, einen Propheten. Denn dieser Löffel sagte uns, es werde einen Nachtisch geben. Noch lange Zeit war ich überzeugt, die wesentliche Aufgabe und Kunst eines Propheten bestehe darin, die Zukunft vorauszusagen, eine Prophetin sei also eine Art Hellseherin. Erst im Theologiestudium lernte ich, dass, biblisch verstanden, die Zukunftsschau nur ein Teil des prophetischen Amtes ist, und zwar keineswegs der wichtigste.


Was war der Auftrag von Prophetinnen und Propheten?

In ihrem Buch über die biblischen Prophetinnen schreibt die Alttestamentlerin Irmtraud Fischer, wahre Prophetie diene dazu, "das Erste Gebot, die Alleinverehrung JHWHs ... durchzusetzen". Und da JHWH als Stifterin der Tora, also der bindenden Weisung gelte, bedeute Prophetie konkret "immer auch Aktualisierung der Tora". Prophetinnen und Propheten sind also Menschen, die berufen sind, mit Autorität den Willen Gottes in eine bestimmte Situation hinein auszulegen, und dazu kann je nachdem auch eine Aussage über die Zukunft gehören. So beschimpft zum Beispiel der Prophet Amos im Namen Gottes das Volk, das zwar fleißig Gottesdienst feiert und Opfer darbringt, aber vergessen zu haben scheint, dass JHWH vor allem Gerechtigkeit will:


Ich hasse, ich verachte eure Feste!
Eure Versammlungen kann ich nicht riechen.
Auch wenn ihr für mich Brandopfer darbringt,
gefallen mir eure Opfergaben nicht,
und euer Mastkälberopfer sehe ich nicht an.
Lass mich mit dem Lärm deiner Lieder in Ruhe!
Den Klang deiner Harfen mag ich nicht hören.
Es wälze sich heran wie Wasser das Recht
und Gerechtigkeit wie ein starker Strom.


(Amos 5,21-24)


Prophetinnen und Propheten erinnern daran, dass Gott seinen Willen deutlich kundgetan hat, zum Beispiel in den Zehn Geboten: Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst deine Eltern ehren ... Und dass es Aufgabe der Gläubigen ist, diesen Willen in die Mitte ihres Lebens zu stellen.

Prophetie ist manchmal eine recht undankbare Aufgabe, denn Menschen, die sich begeistert einer bestimmten Sache hingeben, zum Beispiel dem Opfern, dem Profit, dem Krieg, dem Fortschritt, der Karriere, dem Machismo oder dem Konsum, lassen sich nicht gerne sagen, dass sie falsch liegen und etwas anderes tun sollten.


Gibt es heute noch Prophetinnen und Propheten?

Was die Zukunftsschau angeht, vertraut man im einundzwanzigsten Jahrhundert eher den Prognostikern und Trendforscherinnen. Sie werten am Computer Daten aus, die Statistiker in aufwendigen Erhebungen oder Sozialwissenschaftlerinnen in Befragungen zusammengetragen haben. Ziel ist es, möglichst genau zu sagen, was geschehen wird, egal, ob es gut oder schlecht ist. Die amtliche Wettervorhersage zum Beispiel gehört für viele Menschen längst zum Alltag. Aber auch der Börsenbericht wird uns seit einigen Jahren präsentiert wie ein Naturereignis, das sich anhand von wissenschaftlichen Datenerhebungen berechnen und entsprechend genau prognostizieren lässt. Es scheint, man wolle uns mitteilen, die Wallstreet und der DAX seien ebenso natürlich wie Schnee und Nebel. Warum will man, dass wir das glauben? Damit wir aufhören, dumme Fragen zu stellen? Zum Beispiel danach, für wie viele Menschen die geheimnisvoll auf- und absteigenden Kurven Arbeitslosigkeit oder gar Elend und Tod bedeuten? - Prophetisch im biblischen Sinne wäre wohl eine, die genau solche klugen dummen Fragen stellen würde, und zwar in aller Öffentlichkeit: Was bedeutet Finanzspekulation eigentlich für Leute, die mit einem Dollar am Tag leben müssen, oder mit gar keinem? Dürfen Leute, die in Kauf nehmen, dass täglich Tausende von Kindern verhungern, sich noch Christinnen und Christen oder "christliches Abendland" nennen? Warum sagen die Kurven, die man uns allabendlich präsentiert, nichts aus über das Verhältnis von Börsenkursen und einem guten Leben für alle sechseinhalb Milliarden Würdenträgerinnen und Würdenträger? Sollen wir uns wirklich freuen auf eine Zukunft, in der Geldbesitzer immer noch mehr Geld haben werden und andere Leute gar nicht mehr vorkommen?

Gibt es heute noch Menschen, die Gottes Weisung so mit unserer Gegenwart in Beziehung bringen? Ja, es gibt sie, aber man nennt sie nicht Prophetinnen, sondern: Spinner, Romantikerinnen, Utopisten, Querulanten, Gutmenschen, Störenfriede, naiv, weltfremd, blauäugig...


Prophetinnen und Propheten werden lächerlich gemacht

Dass Prophetinnen und Propheten ausgelacht werden, ist nicht neu:

Der Ewige, die Gottheit ihrer Vorfahren, hatte zu ihnen durch seine Botinnen und Boten gesandt - schon früh und immer wieder - denn sie hatte Mitleid mit ihrem Volk... Aber sie (die Leute) verspotteten ihre Prophetinnen und Propheten, bis der Zorn des Ewigen gegen sein Volk anstieg, bis es keine Heilung mehr gab.
(2 Chronik 36,15f)


Heute werden, zum Beispiel, Frauen belächelt, die darauf beharren, dass zu einer realistischen Weltsicht nach wie vor die Kritik an patriarchalen Verhältnissen gehört. Solche Frauen sagen, dass es beispielsweise für die Frage, wie es zur gegenwärtigen Wirtschaftskrise kommen konnte, nicht gleichgültig ist, ob in den Chefetagen der Banken Männer oder Frauen sitzen. Es gibt nämlich Untersuchungen, die belegen, dass Frauen vorsichtiger mit Geld umgehen als Männer, und zwar nicht, weil sie Brüste, Gebärmütter und ein kleineres Hirn haben, sondern weil man sie jahrhundertelang daran gewöhnt hat, konkrete Verantwortung für ihre Familien zu tragen. Frauen können sich weniger als Männer darauf verlassen, dass andere reparieren werden, was sie kaputt schlagen. Und deshalb sind sie eher geneigt, aufzupassen, bevor es zu spät ist.

Wer aber auf solche Zusammenhänge verweist, wer sagt, dass wir Gerechtigkeit nur erreichen können, wenn wir die Geschlechterfrage nicht zum Tabu machen, wird überhört, gemaßregelt oder verspottet. Als im Magazin des Zürcher "Tagesanzeiger" vom 6. März 2009 eine gut recherchierte Reportage über Frauen und Männer im Bankwesen erschien*, hagelte es in Leserbriefen Hohn und Häme, zum Beispiel so: "Dieser Artikel war so absehbar wie das Amen in der Kirche und so überflüssig wie Schnee im März."

Ob man auch in biblischen Zeiten die Prophetinnen besonders ausgiebig abgekanzelt hat, können wir leider nicht wissen, denn man hat sie uns, bis auf wenige Ausnahmen, verschwiegen. Die historisch-kritische Bibelforschung hat inzwischen herausgefunden, dass es in Israel viele Prophetinnen gab, vielleicht sogar mehr Prophetinnen als Propheten (Klara Butting). Aber diesen Befund mussten die Forscherinnen mühsam erschließen, denn die Bibel präsentiert uns ein anderes Bild: Prophetie ist hier fast ausschließlich Männersache. Frauen kommen allenfalls zu Wort, wenn die Verhältnisse ganz chaotisch geworden sind, wenn die kompetenten Männer geflohen oder tot sind.

Allerdings leitet uns die Bibel auch immer wieder an, den Rand zur Mitte zu machen: Jesus z. B. wurde nicht in einem Palast in Jerusalem geboren, und schon gar nicht in Rom, sondern in der unbedeutenden Kleinstadt Betlehem. Wer also nur dorthin schaut, wo Masse und Macht sich konzentrieren, verpasst das Wesentliche. Das könnte auch für unseren Umgang mit den Prophetinnen damals und heute zutreffen: Wer sie nicht ernst nimmt, liegt daneben.


Prophetinnen erkennen und ehren

Zum Glück gibt es in unserer pluralistischen Gegenwart, im Zeitalter der Blogs und Newsletter, keine Instanz mehr, die die Wahrheit zentral verwalten und abweichlerische Wahrheitssucherinnen zum Schweigen bringen könnte. Im Prinzip jedenfalls nicht. Prophetinnen und Mystikerinnen müssen heute nicht mehr wie im Mittelalter zum Papst nach Rom fahren, um sich den Wahrheitsgehalt ihrer Visionen bestätigen zu lassen. Wir können uns gegenseitig als Prophetinnen anerkennen, wir können einander zuhören, bestärken, kritisieren, beraten, den Weg in die öffentlichen Räume weisen, in denen darüber verhandelt wird, was Gerechtigkeit ist und wie es mit der Welt weitergehen soll. Um die wahren Prophetinnen zu erkennen, müssen wir allerdings auch heute ziemlich gewitzt sein: klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben (Mt 10, 16). Zum Beispiel ist es notwendig zu verlernen, dass Wahrheit ist, was FAZ, ZDF und RTL uns als Wahrheit verkaufen wollen. Erst wer sich vom Glauben an die modernen Meinungsmacher verabschiedet, nutzt die Chancen der globalen Vernetzung. Die Freiheit, Prophetinnen und Propheten im pluralistischen Stimmengewirr zu erkennen, will gelernt und geübt sein, unserer gemeinsamen Zukunft zuliebe.


Dr. Ina Praetorius ist freie Autorin und Referentin in der Erwachsenenbildung. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Postpatriarchale Theologie, Ethik und Spiritualität.


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"Bibel heute" vermittelt 4x im Jahr Informationen und Auslegungen zu biblischen Themen, - auch für Bibel-Einsteiger.
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Quelle:
Presseinformation zu "Bibel heute" - 3. Quartal 2009, Nr. 179
Zeitschrift des Katholischen Bibelwerks e.V. Stuttgart
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www.bibelwerk.de oder www.bibelheute.de

Erscheinungsweise: viermal jährlich.
Der Bezugspreis für 2008 beträgt:
Einzelheft: 6,00 Euro
4 Ausgaben im Jahr (Abo): 22,- Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2009