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STANDPUNKT/351: Gerechter Frieden für Afghanistan? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 04/2010

Gerechter Frieden für Afghanistan?
Das internationale Engagement unter friedensethischer Perspektive

Von Thomas Hoppe


Können die ISAF-Truppen und die Vielzahl internationaler Aufbauhelfer überhaupt noch die wesentlichen Ziele erreichen, denen ihr Einsatz in Afghanistan ursprünglich dienen sollte? In diese breite Diskussion haben sich mittlerweile auch Vertreter der großen Kirchen eingemischt. Kann unter friedensethischer Perspektive der Einsatz weiter wie bisher mitgetragen werden?


Der Einsatz der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan steht seit den Ereignissen in Kundus im September 2009 auf bisher nicht gekannte Weise im Fokus der Öffentlichkeit. Die Bombardierung zweier entführter Tanklaster auf Veranlassung eines deutschen Kommandeurs, die neben der Tötung einer Reihe von Kämpfern der Taliban auch eine erhebliche Zahl ziviler Opfer forderte, beschäftigt derzeit einen Untersuchungsausschuss des deutschen Bundestages. Der Vorgang hatte im Herbst vergangenen Jahres unter anderem zum Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Jung und zur Entlassung des bisherigen Generalinspekteurs Wolfgang Schneiderhan sowie des Staatssekretärs im Verteidigungsministerium Peter Wichert geführt.


Die Aufmerksamkeit nicht nur der Fachwelt und einer wachsenden Zahl politisch verantwortlicher Personen, sondern auch großer Teile der Bevölkerung richtete sich freilich nicht mehr ausschließlich auf die näheren Umstände, unter denen es zu dem verhängnisvollen Einsatzbefehl in der Nähe von Kundus kam. Vielmehr wurde nun sehr viel grundsätzlicher gefragt, ob das inzwischen über achtjährige Engagement der Angehörigen der mit UN-Mandat im Lande operierenden Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) und der Vielzahl internationaler Aufbauhelfer, die im Auftrag ihrer Regierungen oder als Vertreter von Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan tätig sind, noch hinreichend Aussichten darauf bot, die wesentlichen Ziele zu erreichen, denen ihr Einsatz dienen sollte (vgl. dieses Heft, 207ff.).

Dabei ging es ja nicht nur um die Beseitigung der Voraussetzungen dafür, dass - wie vor dem Attentat in New York am 11. September 2001 - das Terror-Netzwerk Al Qaida Afghanistan als Raum zur Vorbereitung weltweiter Anschläge und zur Schulung dazu bereiter Personen nutzen konnte. Vielmehr sollten durch die Herbeiführung von veränderten Strukturen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft elementare Wiederaufbau- und Entwicklungsmaßnahmen in einem von Krieg und Bürgerkrieg zermürbten Land ermöglicht werden. Es galt eine öffentliche Ordnung zu schaffen, in der der Schutz vor Gewaltakten aller Art, die Etablierung von Rechtsstaatlichkeit und ein verlässlicher Menschenrechtsschutz für alle Gruppen der Bevölkerung, besonders für Frauen und Kinder, gewährleistet werden konnten.

Die Zweifel an der Erreichbarkeit dieser Zielsetzungen nehmen insbesondere angesichts eines signifikanten Anwachsens des Gewaltniveaus im Lande zu, das infolge des Wiedererstarkens der Taliban, aber auch mit diesen rivalisierender Milizen zu verzeichnen ist und auf allen Seiten eine steigende Zahl von Opfern fordert. In mehreren Staaten, die sich an der ISAF-Truppe beteiligen, bestehen konkrete Planungen für einen Rückzug ihrer Kontingente in absehbarer Zeit. Zwar stimmte der Bundestag am 26. Februar dieses Jahres einer erneuten Verlängerung der deutschen Beteiligung an diesem Einsatz zu, deutlich wurde in der damit verbundenen Parlamentsdebatte jedoch zugleich, dass nach aller Voraussicht die Entwicklung der nächsten Monate darüber entscheidet, wie weit diese Position in einem knappen Jahr noch mehrheitsfähig sein dürfte.


Ethische Kriterien für militärische Interventionen

In dieser Diskussion haben sich mittlerweile auch Vertreter der großen Kirchen, zum Teil wiederholt, Gehör verschaffen können. Bei allen Nuancierungen im Einzelnen verbindet die bisher vorliegenden Stellungnahmen eine deutliche Skepsis, ob die Entwicklung in Afghanistan in Anbetracht zentraler Aussagen kirchlicher Grundsatzdokumente zu friedensethischen Fragen nicht zu einer Abkehr von Sichtweisen nötigen könnte, unter denen der Einsatz bislang mitgetragen werden konnte. Im Kern speist sich diese Skepsis einerseits aus den wachsenden Schwierigkeiten, auf den markierten politischen Handlungsfeldern erfolgreich zu sein, andererseits aus der begründeten Sorge, dass das Ziel, die Anwendung von Gewalt zu kontrollieren und zu minimieren und dabei insbesondere Unbeteiligte vor ihren zerstörerischen Auswirkungen zu verschonen, durch die Eigendynamiken der gegenwärtigen Auseinandersetzungen zunehmend unerreichbar werden könnte.

Deutlich grenzen sich die Positionsbestimmungen beider Kirchen zugleich gegen die Auffassung ab, es mangele dem Einsatz in Afghanistan bereits von Anbeginn an Legitimität, da er - jedenfalls wo er über unmittelbare beziehungsweise kurzfristige Terrorbekämpfung hinausgehe - eine unzulässige, neokoloniales Denken widerspiegelnde Einmischung in die inneren Verhältnisse eines anderen Landes darstelle. Kulturrelativistische Argumentationen dieser Provenienz begegnen derzeit vor allem am rechten wie linken Rand des politischen Spektrums, in dem die Afghanistandebatte stattfindet.


Bereits in ihrem Wort "Gerechter Friede" vom September 2000 hatten die deutschen Bischöfe einige ethische Kriterien herausgearbeitet, denen internationale Einsätze genügen müssten, die mit dem notwendigen Schutz von Menschen "vor fremder Willkür und Gewalt" (Nr. 150) begründet werden. In diesem Zusammenhang erhoben sie die Forderung: "Jede militärische Intervention muss mit einer politischen Perspektive verbunden sein, die grundsätzlich mehr beinhaltet als die Rückkehr zum status quo ante. Denn es reicht nicht aus, aktuelles Unrecht zu beheben. Es geht darum, es auf Dauer zu verhindern. Das wird in der Regel nur gelingen, wenn die politischen Rahmenbedingungen geändert werden. (...) Gelingende Prozesse der Konfliktnachsorge stellen zugleich einen Beitrag zur Verhinderung neuer Spannungen und ihrer gewaltsamen Eskalation dar" (Nr. 159f.). Was wurde in dieser Beziehung erreicht, wo liegen die Ursachen bestehender Defizite, und welche politischen Handlungsoptionen bestehen, um ihnen abzuhelfen?


Zunächst ist festzuhalten, dass die Anstrengungen der Staatengemeinschaft, aber auch einer großen Zahl von nichtstaatlichen Akteuren, zur Konsolidierung der Lebensverhältnisse im Land beizutragen, einen durchaus beeindruckenden Umfang erreicht haben. In der Konzentration, ja teilweise Fixierung auf die militärischen Aspekte des Afghanistan-Engagements wird dies nur allzu oft übersehen oder jedenfalls zu gering gewichtet.

Allein die Tatsache, dass es gelang, Tausende von Schulen zu errichten, hat mehrere Millionen Kinder - davon mehr als ein Drittel Mädchen - in die Lage versetzt, von elementaren Bildungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Über drei Vierteln der afghanischen Bevölkerung konnte der Zugang zu medizinischer Grundversorgung erschlossen werden. Große Anstrengungen galten der Wiederherstellung zerstörter Infrastruktur, vor allem im Bereich des Verkehrswesens und der Wasserversorgung. Die heutige afghanische Verfassung fußt auf zentralen Rechtsprinzipien, die für einen wirksamen Menschenrechtsschutz unverzichtbar sind, auch wenn der Text an nicht wenigen Stellen die Schwierigkeiten spiegelt, die es bereitet, westliches Rechtsdenken mit den Traditionen einer auf Stammesstrukturen fußenden, islamisch geprägten Gesellschaft zu harmonisieren. Auf militärischem Sektor wurde im Einzelnen vieles unternommen, um die jeweilige regionale Sicherheitslage zu verbessern - eine vielfach entscheidende Voraussetzung auch für den Erfolg ziviler Projektarbeit.


Nach wie vor ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt

Jedoch stehen solchen unbezweifelbaren Erfolgen vielerorts gravierende Mangelsituationen und Missstände gegenüber, die sich auf alle genannten Handlungsfelder des internationalen Einsatzes erstrecken. Es fällt bis heute schwer, eine kohärente Gesamtstrategie zu entwickeln, weil die beteiligten Nationen unter den zu bewältigenden Aufgaben teilweise Unterschiedliches verstehen. Weitgehend unumstritten ist, dass Investitionen auf militärischem Gebiet unverhältnismäßig viel mehr Ressourcen binden, als sie bislang für den zivilen Aufbau bereitstehen, obwohl die meisten der Aufgaben, die sich in Afghanistan stellen, im zivilen Sektor zu bewältigen sind. Nach wie vor ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, gerade auf dem Land herrscht häufig eine prekäre Ernährungssituation.

Durch manche Kompromisse mit den Macht- beziehungsweise Klientelinteressen lokaler Akteure wurden die Chancen gemindert, dass Entwicklungsprojekte nachhaltige Wirkungen entfalten konnten. Zudem wurden problematische Abhängigkeiten vom Wohlwollen solcher Akteure, die nicht selten selbst für zahlreiche Gewaltverbrechen bis in die jüngste Zeit hinein verantwortlich sind, erzeugt.


Die landesweit wachsende Präsenz von Taliban und anderen Gruppierungen bewaffneter Kämpfer trägt zu einer stetigen Verminderung der öffentlichen Sicherheit und zur Zunahme von Kampfhandlungen auch in Regionen bei, die bisher als relativ befriedet galten. Unbeteiligte Zivilisten werden immer mehr zu Leidtragenden dieser Auseinandersetzungen, nicht nur infolge etwa der mannigfachen Unzulänglichkeiten beim Einsatz unbemannter Fluggeräte (Drohnen) durch ausländische Streitkräfte, sondern auch aufgrund der Vorgehensweise der Milizen selbst, die die Gefährdung beziehungsweise den Tod von Zivilpersonen bewusst einkalkulieren und den internationalen Truppen anzulasten suchen.

Wegen ihrer zahlenmäßigen und ausrüstungstechnischen Begrenztheiten finden sich ISAF-Kontingente beziehungsweise solche der afghanischen Streitkräfte verstärkt in Situationen, in denen sie kaum mehr erreichen können, als sich selbst zu schützen. Sie vermögen den in Aussicht gestellten Schutz für die afghanische Bevölkerung nur selten einzulösen. Dies gilt umso mehr, wenn Gefechte innerhalb oder nahe von Ortschaften stattfinden und womöglich die Einheimischen von angreifenden Milizionären als lebende Schutzschilde benutzt werden.

Eine der mit dieser Verschlechterung der Sicherheitslage verbundenen, besonders problematischen Auswirkungen liegt darin, dass der Schulbesuch von Kindern und Jugendlichen spürbar zurückgeht, obwohl gerade ihm unter dem Aspekt einer sich längerfristig selbst tragenden Entwicklung im Land herausragende Bedeutung zukommt. Ähnliches gilt für die abnehmende Bereitschaft von medizinischem Personal, in ländlichen Gebieten zu arbeiten.


Die vielfältigen Aktivitäten im zivilen Bereich leiden zudem an einem Mangel an Koordination und Kohärenz, nicht selten auch an einer sinnvollen Aufgabenabstimmung mit der militärischen Seite, die dem Prinzip einer Konzentration auf die jeweiligen "Kernkompetenzen" folgt. Insgesamt bleibt dadurch ihre Wirksamkeit, vor allem in längerfristiger Perspektive, unterhalb des erreichbaren Niveaus. Durch im Land weit verbreitete Korruption wird eine zielgerichtete Verwendung bereitgestellter Ressourcen wesentlich erschwert. Ungelöst ist außerdem das Drogenproblem: Es gelang trotz verschiedener zwischenzeitlich versuchter Ansätze kaum, deren Produktion so weit einzudämmen, dass sie ihren zentralen Einfluss auf die ökonomischen Strukturen gerade auf dem Land eingebüßt hätte. Nur so aber ließen sich die Geldströme, die die Anwendung organisierter Gewalt durch diverse bewaffnete Gruppierungen in Afghanistan finanzierbar machen, dauerhaft reduzieren.


Offenkundige Manipulationen bei der zurückliegenden Präsidentenwahl haben das Ansehen und den Einfluss der Regierung in Kabul weiter verringert. Sie tragen darüber hinaus dazu bei, die Legitimität des Einsatzes ausländischer Truppen und ziviler Helfer im Land in Frage zu stellen.

Nicht zu unterschätzen ist auch der politische Einfluss von Nachbarstaaten auf die Entwicklung in Afghanistan: Nur ein Teil von ihnen - Russland, China, Indien, die Kaukasus-Republiken als Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion - zeigt sich aus unterschiedlichen Gründen an einer Stabilisierung des Landes interessiert, im Blick auf andere Staaten bestehen erhebliche Zweifel daran, ob eine Errichtung stabiler Strukturen in Afghanistan tatsächlich ihren regionalpolitischen Interessenlagen entspräche.


Der Bürgerkrieg der neunziger Jahre ist in schrecklicher Erinnerung

Eine gefährliche Versuchung besteht in dieser Situation darin, die Zielbestimmung des Afghanistan-Einsatzes immer weiter zurückzunehmen. So erschiene zwar eine Abzugsperspektive für die auswärtigen Truppen leichter erreichbar, aber um den Preis, schließlich Verhältnisse zu akzeptieren, deren Opfer jene Menschen im Land würden, die man schutzlos ihrem Schicksal überließe. Die politische Rhetorik der letzten Wochen deutet zunehmend darauf hin, dass eine solche implizite Revision der Einsatzkonzeption in vollem Gange ist.

Vielfach als Ausdruck neuen Realismus wahrgenommen wird die Feststellung, man müsse von der Vorstellung Abschied nehmen, in Afghanistan eine "vollendete Demokratie westlichen Typs" errichten zu können. Doch lässt sie regelmäßig offen, wie weit man bei Zugeständnissen in zentralen Fragen wie der Garantie öffentlicher Sicherheit und einem verlässlichen Menschenrechtsschutz für alle Teile der Bevölkerung zu gehen bereit wäre. Im schlimmsten Fall könnten die vor Ort oder von Nachbarstaaten aus aktiven, miteinander häufig rivalisierenden Warlords im Wesentlichen die Bedingungen diktieren, zu denen eine Beendigung des Afghanistan-Engagements stattfände.

Dabei ist gerade älteren Afghanen noch in schrecklicher Erinnerung, mit welchen Verheerungen und wie viel menschlichem Leid der Bürgerkrieg nach dem Abzug der sowjetischen Truppen zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts verbunden war. Nicht auszuschließen ist, dass Afghanistan infolge einer Wiederholung solcher Entwicklungen zu einem so genannten "failed state" würde, der nichtstaatlichen Gewaltakteuren aller Art, auch solchen terroristischer Provenienz, erneut besonders geeignete Entfaltungsbedingungen bietet.


Im Verlust des politischen Gestaltungsvermögens seitens der in unterschiedlichen Handlungsfeldern mit den Vertretern der UN-Mission kooperierenden Akteure im Land läge daher das eigentliche Scheitern des Afghanistan-Einsatzes. Dessen Auswirkungen würden über diesen spezifischen Länderkontext weit hinausreichen und sich unmittelbar auch darauf erstrecken, mit welchen Aussichten auf Erfolg am Konzept einer internationalen Schutzverpflichtung (Responsibility to Protect) weitergearbeitet werden könnte, zu dem sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2005 bekannt hat. Damit sollten die Lehren aus humanitären wie politischen Katastrophen der jüngeren Vergangenheit gezogen werden, etwa dem Genozid in Ruanda 1994 oder dem blutigen Zerfall Jugoslawiens von 1991 bis 1995, der im Kosovo-Krieg 1999 seine Fortsetzung fand.

Zwar wurde das Afghanistan-Engagement ursprünglich nicht unter Rückgriff auf dieses Konzept begründet, in seiner praktischen Durchführung enthält es jedoch etliche der Elemente, die auch in jeder möglichen Implementierung der Schutzverpflichtung eine tragende Rolle spielen müssen. Unter einer friedensethischen Perspektive müssen daher solche Entwicklungen, wie sie derzeit in Afghanistan stattfinden, noch in deutlich anderer Weise beunruhigen, als sie es bereits im Fokus herkömmlicher außen-, sicherheits- und bündnispolitischer Analysen zu tun pflegen.


Sowohl die Beschlüsse, die auf der Londoner Afghanistan-Konferenz Anfang dieses Jahres gefasst wurden, wie die Reformulierung der militärstrategischen Zielsetzungen, die sich mit der jüngsten US-amerikanischen Truppenverstärkung verbindet, suchen nach Wegen, das dortige Engagement vor einem desaströsen Ende zu bewahren. Im Antrag der Bundesregierung, der dem Parlamentsbeschluss zur Verlängerung des Einsatzes um ein weiteres Jahr zugrunde lag, spiegeln sich zu einem nicht geringen Teil bereits jene "lessons learned", die sich bei einem Blick auf die oben beschriebenen Defizite ergeben.

Stichworte wie "good governance", die verstärkte Bekämpfung des Drogenhandels, eine Verwaltungsreform, die Korruptionsanreize wesentlich vermindert und eine Rechenschaftslegung über die Verwendung von Hilfsgeldern ermöglicht, eine verbesserte Koordination der Geber im Hinblick auf partizipative Planung, Umsetzung und Nachverfolgung der Wirkungen durchgeführter Projekte bestimmen die Diskussion in einschlägigen Fachkreisen.


Die Lage nicht mit Blick auf einen raschen Abzugstermin beurteilen

Vor allem kommt es gegenwärtig darauf an, dass sich die internationalen Truppen nicht in eine kaum mehr beherrschbare Spirale der Gewalteskalation hineinziehen lassen. Dies gilt nicht nur wegen der Konsequenzen, die eine weitere Intensivierung von Kampfhandlungen für die Zivilbevölkerung, aber auch für die Angehörigen der ISAF-Kontingente nach sich zöge. Nach Auffassung der meisten Experten ist es zudem aus einer Vielzahl von Gründen unmöglich, die Träger des bewaffneten Aufstands gegen die Kabuler Regierung im klassischen Sinn militärisch zu besiegen, allenfalls lässt sich deren Handlungsrahmen so weit eingrenzen, dass ihnen Verhandlungen gegenüber weiteren Kämpfen vorzugswürdig erscheinen.

Dafür freilich muss vermieden werden, dass sie politische Signale erhalten, ihre Ziele bei längerem Zuwarten auch ohne solche Verhandlungen und damit ohne das eigene Eingehen von verbindlichen und durchsetzbaren Absprachen in einem verregelten politischen Prozess, der an die Stelle weiterer Interessenverfolgung mit Gewaltmitteln tritt, mit einiger Sicherheit erreichen zu können. Diese prekäre Wirkung scheint dort nicht hinreichend bedacht zu werden, wo die Beurteilung der jetzigen Situation allein auf einen möglichst baldigen Abzugstermin der auswärtigen Akteure zentriert erfolgt.


Neben Verhandlungen der skizzierten Art bedarf es einer Intensivierung ziviler Aufbauarbeit in Regionen, die unter die Kontrolle der afghanischen Regierung gebracht werden konnten, damit die Lebensbedingungen der Bevölkerung dort spürbar und nachhaltig verbessert werden. Nur so kann es gelingen, dass sich die Kooperationsbereitschaft der Menschen vor Ort mit gewaltbereiten Akteuren, ob aus Sympathie, aus Angst oder aus Verzweiflung motiviert, deutlich verringert. Es gilt den Teufelskreis zu durchbrechen, in dem ein Mangel an öffentlicher Sicherheit dazu führt, dass viele zivile Projekte nicht durchgeführt werden können, wodurch wiederum die alltäglichen, bedrückenden Lebensverhältnisse und die mit ihnen verbundene Perspektivlosigkeit bestehen bleiben. Eine Schlüsselrolle hierbei spielt der Aufbau hinreichender Polizeikräfte im Land, die in der Lage sind, eine einigermaßen verlässliche Sicherheitsstruktur zu schaffen. Bekanntlich ist gerade auf diesem Sektor das Engagement der internationalen Gemeinschaft weit hinter dem tatsächlichen Bedarf zurückgeblieben.


In der Rekrutierung und Ausbildung afghanischer Polizisten, wie ebenfalls der allmählich aufwachsenden afghanischen Armee, muss der Vermittlung von Einstellungsmustern und Fertigkeiten, die zur Gewaltkontrolle und zur Respektierung grundlegender Menschenrechte auch unter Einsatzbedingungen befähigen, eine unabdingbare Rolle zukommen. Dasselbe gilt für die Bedingungen, unter denen Kooperation seitens der Angehörigen der ISAF mit afghanischen Sicherheitskräften erwartet wird: Wenn Gefangenen vorhersehbar Misshandlung und Folter drohen, dürfen sie in solche Situationen hinein nicht ausgeliefert werden, und Soldaten, die dies verweigern, müssen auf politischen und rechtlichen Schutz durch die Regierungen setzen können, von denen sie entsandt wurden.

Auch im Bereich der ISAF selbst ist dafür Sorge zu tragen, dass die Verpflichtung auf die Wahrung und den Schutz der Menschenrechte, die eine wesentliche Dimension der Einsatzbegründung ausmacht, nicht im tatsächlichen Vollzug dieses Auftrags praktisch dementiert wird. Denn dadurch würde der Anspruch auf Legitimität des eigenen Handelns an einem entscheidenden Punkt seine Glaubwürdigkeit verlieren. Diesen Aspekten kommt zugleich unter der Perspektive eines schrittweisen Rückzugs der internationalen Kontingente aus Afghanistan große Bedeutung zu, denn noch herrscht in der Staatengemeinschaft ein breiter Konsens dahingehend, dass funktionsfähige afghanische Sicherheitskräfte eine zentrale Voraussetzung hierfür sind.


Sofern es, nicht zuletzt mit Hilfe benachbarter Staaten, gelingt, die Unruheregion am Hindukusch so weit zu stabilisieren, dass eine sich selbst tragende Entwicklung möglich wird, dürfte gleichwohl das Engagement der Staatengemeinschaft mit dem Abzug ihrer letzten bewaffneten Verbände nicht enden. Die weitere Unterstützung des Auf- und Ausbaus grundlegender Strukturen von Staatlichkeit und eine Fortführung zielgerichteter Entwicklungszusammenarbeit werden wichtige Aufgaben bleiben, die auch künftig eine angemessene Beteiligung Deutschlands erforderlich machen.

So schärft die heutige Situation in Afghanistan nicht zuletzt den Blick dafür, welches Aufgabenprofil aus einer Orientierung an der Leitperspektive des Gerechten Friedens, in der sich die christlichen Kirchen einander verbunden sehen, im Konkreten erwächst. Diese sollten nicht müde werden, aktuelle Politik auch künftig daran zu messen, und zugleich bereit sein, ihren eigenen Beitrag dort einzubringen, wo er ein Stück mehr von diesem Frieden zu stiften vermag.


Thomas Hoppe (geb. 1956) ist seit 1998 Professor für Katholische Sozialethik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Er ist Mitglied der Deutschen Kommission Justitia et Pax, der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben und der Arbeitsgruppe Europa der Deutschen Bischofskonferenz.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 4, April 2010, S. 181-185
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2010