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STANDPUNKT/358: Welcher Schlüssel passt zum Römerbrief? (Bibel und Kirche)


Bibel und Kirche 3/2010 - Organ der Katholischen Bibelwerke
in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Welcher Schlüssel passt zum Römerbrief?
Große Theologen des 20. Jh. zur Brieferöffnung Röm 1,1-17

Von Michael Theobald


Dem Römerbrief wird nachgesagt, dass er ein theologisches "Schwergewicht" ist. Dabei ist der Brief von seiner Sprache her offen, sodass er von großen Theologen sehr unterschiedlich gelesen werden konnte. Die semantische Offenheit des Briefes lädt bis heute ein, sich auf die Gedanken des Paulus neu einzulassen. Michael Theobald führt im folgenden Beitrag anhand des Briefanfangs Röm 1,1-17 durch große Kommentare und ihre Denkwelten und bietet uns abschließend einen ersten Leseschlüssel und Zugang zu diesem Brief.


Wer ein antikes Schreiben entschlüsseln will, hat besonders dessen eröffnenden Abschnitt sorgfältig zu lesen. Inhaltsverzeichnisse zur raschen Information waren damals nahezu unbekannt, erst recht die moderne Erfindung eines einladenden Buchumschlags mit Kurzzusammenfassung und Werbetext für die angezielte Leserschaft. Der Interessierte musste die Papyrusrolle oder die Pergamenthandschrift schon öffnen und stieß dann gleich auf den einleitenden Abschnitt, den der Autor nutzte, um den Leser auf das, was ihn erwartete, vorzubereiten und einzustimmen. Bei einem Brief oder einer Epistel war das nicht anders. Der Römerbrief mit seinem Präskript (1,1-7) samt anschließender Danksagung (1,8-15), die zur Themenangabe des Schreibens (1,16f) überleitet, zeigt Paulus als Meister strategischer Texteröffnung.

Jacob Taubes, der jüdische Religionsphilosoph und Rabbi (1923-1987)[1], setzte mit seiner Paulusinterpretation deshalb auch genau hier an: "Wie immer konventionell die Form des Präskripts ist, Paulus füllt sie mit einem ganz besonderen Inhalt. Seine Präskripte sind von ungeheurer Präzision. Im Grund kann man, wenn man den Brief versteht, merken, dass alles bereits im Präskript steht. (So wie man alles verstehen könnte, was in der Phänomenologie des Geistes steht, wenn man den Titel versteht. Den Rest kann man sich dann schon denken. Ebenso auch bei Sein und Zeit, wo die Pointe der Titel des Buches ist.)"[2]. Und etwas später merkt er an: "Wenn man sich in dies Präskript - wie man sagt: talmudistisch - vertieft: es steht alles drin. Man muss es nur rausholen" (26). Talmudistisch: Der Rabbi weiß, dass jedes Wort der Heiligen Schrift, ja das unscheinbarste, voller Sinn ist; Gott hat ihn hineingelegt. Deshalb gebührt auch dem Buchstaben der Schrift gegenüber Ehrfurcht. Jacob Taubes bringt sie nicht weniger dem Brief des Juden und Christuszeugen Paulus entgegen, den er mit erfrischender Originalität liest. Die folgende kleine Umschau, die ausgewählte Stimmen großer Theologen zu diesem letzten Schreiben des Apostels zu Gehör bringt, wird deshalb mit der seinen enden.


"Die Sache" des Römerbriefs[3] - Karl Barth

Die Katastrophe des ersten Weltkriegs (1914-18) war auch ein kulturelles Desaster, von dem die Kirchen und ihre Theologen nicht ausgenommen waren. Jacob Taubes bemerkt in seiner Vorlesung zum Römerbrief: "Das harmonistische Verständnis von Welt, Gott und Mensch, die lange wilhelminische Periode des Wachstums, die Gründerzeit, wo ja alles größer und besser wurde, all das hat in den Schützengräben Frankreichs, Mazedoniens und Russlands sein abruptes Ende gefunden"[4]. Der junge Schweizer Pfarrer Karl Barth (1886-1968) schrieb rückblickend über seine Lehrer in Deutschland, die 1914 den Beginn des Krieges rechtfertigten, sie hätten sich "restlos (...) in geistige 42 cm Kanonen"[5] verwandelt. Das ließ ihn an der religiösen Überhöhung innerweltlicher Prozesse durch die sog. "liberale" Theologie überhaupt zweifeln. In dieser Krise entdeckte er als Prediger nach dem Krieg den Römerbrief neu - als Wort Gottes an die eigene Zeit, als ein Wort, das allem menschlichen Wahn ein Ende setzt. Sein Kommentar zum bedeutendsten Brief des Apostels ist, so gelesen, "eine Variante im Zusammenbruch des deutschen Kulturprotestantismus"[6].

"Paulus, Knecht des Christus Jesus, berufen zum Apostel, ausgesondert für die Heilsbotschaft Gottes [...]" (1,1). Der Bote und seine Botschaft - das ist der Gegenstand der paulinischen Selbstvorstellung an die Adresse der Römer in 1,1-17. Karl Barth führt sie in seiner revolutionären Auslegung derart radikal auf die gemeinte "Sache" zurück, dass selbst der konkrete Mensch Paulus - ein pharisäischer Jude aus Tarsus - hinter ihr verschwindet. Wie sollte das anders sein, wo doch Jesus selbst, wie Karl Barth mehrfach sagt, nur "Einschlagstrichter" (5 u.ö.) der Ewigkeit in der Zeit ist! Und damit nur ja keiner meint, er könne der in ihm geschehenen Offenbarung in seiner eigenen Frömmigkeit habhaft werden, spricht Karl Barth vom "Punkt", an dem "die neue Welt des Heiligen Geistes die alte Welt des Fleisches" berührt - "wie die Tangente einen Kreis": Sie berührt den Glaubenden und entzieht sich ihm zugleich. Dieser "Punkt" ist Jesu Auferstehung als "die Offenbarung, die Entdeckung Jesu als des Christus" (6)[7] - für Paulus die Klimax der Heilsbotschaft (Röm 1,4)!

Was ist das "schlechthin Neue" (12), das mit Jesus Christus aufscheint und im Evangelium alles menschliche Denken als illusionäres Meinen entlarvt, gerade auch das Wähnen des Menschen über das Göttliche? Karl Barth, durch das Feuer der Religionskritik gegangen, erläutert es anhand der großen Worte "Kraft Gottes", "Gerechtigkeit Gottes" und "Glauben", die in Röm 1,16f für das Evangelium stehen.

Es ist "Kraft 'zur Errettung'. Der Mensch befindet sich in dieser Welt im Gefängnis", erklärt Karl Barth. "Tiefere Besinnung wird sich über die Beschränktheit der Möglichkeiten, die uns jetzt und hier zu Verfügung stehen, keiner Unklarheit hingeben". Des Menschen "Tod ist sein Schicksal. Seine Welt ist ein gestaltlos auf- und abwogendes Chaos von natürlichen, seelischen und einigen andern Kräften. Sein Leben ist ein Schein. Das ist unsere Lage: 'Gibt es einen Gott?' Eine sehr wohl aufzuwerfende Frage! Diese Welt in ihrer Einheit mit Gott begreifen zu wollen, ist entweder sträflicher religiöser Übermut oder letzte Einsicht in das, was jenseits von Geburt und Tod wahr ist, Einsicht von Gott aus" (13). Und genau solche vermittelt uns einzig das Evangelium Jesu Christi, weil es "Gottes Kraft" ist, nicht des Menschen Kopfgeburt.

Und so steht das Evangelium gegen allen "sträflichen religiösen Übermut", indem es "Gottes Gerechtigkeit" enthüllt: "die in der ganzen Welt [...] höchst fragliche Übereinstimmung Gottes mit sich selbst". "Was der Mensch diesseits der Auferstehung Gott nennt, das ist in charakteristischer Weise Nicht-Gott. Gott - der seine Schöpfung nicht erlöst, Gott - der der Ungerechtigkeit der Menschen den Lauf lässt, Gott - der sich nicht als Gott zu uns bekennt, Gott als höchste Bejahung des Da-Seins und So-Seins der Welt und der Menschen, das ist das Unerträgliche, das ist Nicht-Gott, trotz der höchsten Attribute, mit denen wir es im höchsten Affekt schmücken. Der Schrei des Empörers gegen diesen Gott kommt der Wahrheit näher als die Künste derer, die ihn rechtfertigen wollen" (15).

Dann aber leistet der Glaube nichts anderes als "Aufräumungsarbeit, durch die im 'Diesseits' der Platz frei werden soll für das 'Jenseits'. Eben darum ist der Glaube niemals identisch mit der 'Frömmigkeit', und wenn sie die reinste und feinste wäre. Und sofern 'Frömmigkeit' ein Merkmal des Glaubensvorgangs ist, ist sie es als Aufhebung anderer Weltgegebenheiten - vor allem aber offenbar als ihre eigene Aufhebung. Der Glaube lebt aus sich selber, weil er aus Gott lebt. Das ist das 'Centrum Paulinum' (Bengel)" (15).

Es ist faszinierend, wie radikal Karl Barth hier den Menschen an den abgründigen Gott verweist, beeindruckend, wie schonungslos er alle menschlichen Illusionen angesichts des Todes zerstört. Wegweisend auch, wie er das Ringen des Menschen angesichts des Welt-Chaos um einen Gott der höchsten "Bejahung" als nichtig entlarvt und damit der vielfachen atheistischen Empörung gegen alles, was weithin Gott genannt wird, Recht gibt. Jeder Verharmlosung Gottes tritt er entgegen, um den Blick für die Heilsbotschaft von der Auferweckung Jesu Christi frei zu machen - für ihn der zentrale Ort des Glaubens, an dem die Ewigkeit in den ausweglosen Kreislauf von Geburt und Tod einbricht.

Freilich hat sein platonisch anmutender Dualismus von Zeit und Ewigkeit auch Schatten. So eindrucksvoll Karl Barth zu entfalten vermag, was Gnade heißt: unverdientes, unerwartetes Entgegenkommen Gottes -, seine Rede vom "Einschlagstrichter" des Ewigen in der Zeit blendet die Geschichte ab: Der Jude wird ihm zum Typus des " religiös-kirchliche(n) Menschen" und verliert seinen Vorrang (Röm 1,17) - "die Frage: 'religiös oder nicht religiös?' ist grundsätzlich keine Frage mehr, um von 'kirchlich oder weltlich?' gar nicht zu reden", erklärt er (15) -, und der Jude Jesus, "geboren dem Fleisch nach aus dem Samen Davids" (Röm 1,3), verschwindet bei ihm hinter dem Auferweckten (Röm 1,4). Geht damit nicht die geschichtliche Erdung des paulinischen Christusbildes verloren?


Der Leib des Messias - Adolf Schlatter

Ganz andere Akzente setzt einige Jahre später mit seinem 1935 erschienenen Alterswerk zum Römerbrief ein anderer Schweizer, der lange in Tübingen lehrende Neutestamentler und Dogmatiker Adolf Schlatter (1852-1938), "profunder Kenner des Frühjudentums", der sich "einen von Jesus und Jerusalem losgelösten Paulus nicht denken" will, ihn vielmehr entschlossen als Juden begreift, "der ganz und gar jüdisch denkt und schreibt"[8]. Auch damit sprach er in seine Zeit hinein und war ihr zugleich weit voraus.

Röm 1,3 kommentiert er so: "Der Sohn" - Inhalt des Evangeliums! - "erhielt das menschliche Leben, wie jeder Mensch, durch das Fleisch und ist mit dem Hause Davids durch das verbunden, was er durch seinen Leib ist. Die Absage an alle doketischen Christologien, die Jesus von der Judenschaft und den natürlichen Lebensbedingungen trennen, hielt Paulus für ein wesentliches Merkmal der Botschaft. Sie lautet: Gottes Sohn lebte durch das Fleisch und war durch sein Fleisch ein Sohn Davids, somit auch ein Sohn Abrahams. Das ist nicht eine Einschränkung seiner Sohnschaft Gottes, sondern ihre Begründung, da er nicht der verheißene Sohn Gottes wäre, wenn er nicht Fleisch gehabt und dadurch zu Israel und zum Geschlecht Davids gehört hätte" (19f). Sah die Auslegung seit den Zeiten der Kirchenväter in den beiden Aussagen Röm 1,3+4 abstrakt die beiden Naturen Christi abgebildet - die menschliche (1,3: "dem Fleisch nach") und die göttliche (1,4: "gemäß dem Geist der Heiligkeit") -, so deckt Adolf Schlatter die von Paulus gemeinte heilsgeschichtliche Kontur der grundlegenden ersten Aussage auf: Jesus vere homo iudaicus - in Wahrheit Mensch mit jüdischer Geschichte!

Bei den großen Worten von Röm 1,16f - "Gerechtigkeit Gottes" und "Kraft Gottes" - besteht Adolf Schlatter (wie Karl Barth) energisch auf der "straffen Fassung des Genitivs" (36). In der Lutherübersetzung lautet V.17 noch: "denn darin (im Evangelium) wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben". Nein, sagt Schlatter, Paulus spricht von der "Gerechtigkeit Gottes", seiner eigenen Gerechtigkeit, die im Evangelium kraftvoll und Heil wirkend zum Zug kommt. Warum reißt hier Schlatter das Ruder herum: von der Perspektive des Menschen und seiner Frage, wie er vor Gott stehe und ins Heil komme, hin zur Frage nach der "Gottheit Gottes" (36)? Läuft beides im Evangelium letztlich nicht auf dasselbe hinaus? Doch Adolf Schlatter zwingt zur Unterscheidung.

Die reformatorische Auslegung sei - so sagt er - "völlig vom Verlangen bestimmt" gewesen, "zu hören, was der Glaubende empfange" (38). Doch nicht "das Bedürfnis des Lesers" gebe an, "was Paulus zur Erfüllung seines Verlangens gesagt haben müsse", sondern ihm geht es zu allererst um "die Gottheit Gottes", um "Gottes Gerechtigkeit". Bestimmt dagegen die menschliche Perspektive die Auslegung, dann ist "unsere Not [...] das, was Gott zu uns führt", dann verblasst Gottes Gerechtigkeit fast ganz und "das Erbarmen Gottes tritt an ihre Stelle". Doch Paulus redet hier von "der Gerechtigkeit Gottes", nicht von seinem Erbarmen, beide sind nicht einfach deckungsgleich. Auch von ihr spricht er und erklärt dann, dass Gott sich "der Leere, Ohnmacht und Vergänglichkeit" der Menschen annehme, "weil er der Erbarmer ist, weshalb sein Wort die Botschaft vom Leben ist". Aber der entscheidende Punkt im Römerbrief ist doch der, "dass der Mensch schuldig ist, und dies ruft nach der Offenbarung der göttlichen Gerechtigkeit" (39). Nur ist diese Gerechtigkeit - eine totale Überraschung! - nicht die strafende, die dem Menschen das gibt, was er verdient hätte (die iustitia distributiva), sondern Gottes Wirken in Jesus Christus, das "Recht schafft und das Verhältnis des Menschen zu ihm so ordnet, dass alles Böse in Kraft seines herrlichen Willens aus ihm ausgeschieden ist" (36).

Damit aber verknüpft Adolf Schlatter Glaube und Ethik im Kern, womit er ein weiteres Mal die jüdische Art des paulinischen Denkens offen legt. Glaube - gerade der das freisprechende Wort des Richters empfangende Glaube - kann niemals einfach nur die sich vor Gott entleerende, reine Passivität sein, er drängt vielmehr aus der Kraft Gottes in ein rechtes, gutes Leben vor seinem Angesicht. Oder wie Adolf Schlatter es formuliert: "Aus dem geglaubten Wort des Erbarmers entstand die Ruhe und der Trost; wird dagegen das die Gerechtigkeit verkündende Wort geglaubt, so entsteht daraus die Liebe und die Tat" (39).

Die streng theozentrische Fassung der Rede von der "Gerechtigkeit Gottes" ermöglicht es Adolf Schlatter schließlich auch, den Römerbrief von seiner Eröffnung her insgesamt als Entfaltung der Offenbarung der Gottesgerechtigkeit zu verstehen, unter Einschluss der von Israels Anstoß und Rettung handelnden Kapitel Röm 9-11. Dass man Paulus wahrscheinlich die Meinung unterstellte, "Jude sein sei dasselbe wie ein Heide sein", ist - so Adolf Schlatter zu Röm 1,16 - "nicht nur nach seinem (des Paulus) Urteil, sondern in Wahrheit eine vom Hass erfundene Verleumdung" (33). "Das von Jesus gesprochene göttliche Wort verleugnet das früher gesprochene göttliche Wort nicht, sondern bestätigt es, 1,2. Darum ruft er den Juden zuerst, weil er durch seinen Anteil an der von Gott erwählten Gemeinde mehr als die Griechen begnadet war" (34).


Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes - Rudolf Bultmann

"Das Gesetz spricht vom Menschen; es sagt der Menschheit, was sie tun soll, 10,5. Gottes Botschaft (= das Evangelium) spricht dagegen nicht vom Menschen, sondern von dem, der aus Gott das Leben hat und in der Einheit mit ihm redet und wirkt": vom Gottessohn - so schrieb Adolf Schlatter lapidar in seinem Kommentar (19).

Der Satz klingt, als sei er gegen Rudolf Bultmann (1884-1976) gerichtet, der schon 1925 erklärte, dass ein Reden von Gott "nur als ein Reden von uns" möglich sei[9]. "Von Gott können wir nur sagen, was er an uns tut"; und so ist der Glaube als die Tat meines Lebens "der archimedische Punkt" aller Gottesrede. Karl Barth hatte gegenüber solcher Fokussierung der Theologischen Anthropologie immer den Verdacht, Bultmann liefere sich damit dem Zeitgeist aus. Aber er täuschte sich. Unbestechlich den neuen Machthabern gegenüber[10], war Bultmann im kleinen Marburg vielmehr vom Zweifel des modernen Menschen durchdrungen, ob der Gott der Bibel ihm nicht entschwinde und welcher der "Ort" sei, an dem er von ihm ergriffen werde.

Einen Kommentar zum Römerbrief hat Rudolf Bultmann nie geschrieben. Was die Brieferöffnung angeht, so verdanken wir ihm die literarische Einsicht, dass Paulus in Röm 1,3f eine alte Glaubensformel zitiert, die ihm dazu diente, dem Konsens mit den römischen Adressaten im Messiasglauben Ausdruck zu verleihen[11]; diese Einsicht hat bis heute Bestand. Auf den Leitsatz des Briefs, Röm 1,16f, kommt Bultmann immer wieder zurück[12]: Das Evangelium sei deshalb eine Kraft Gottes zum Heil, weil in ihm "offenbart wird die Gottesgerechtigkeit aus Glauben für Glauben". Der Begriff der Offenbarung ist ihm aus dem Grund teuer, weil er sein genuin theologisches Anliegen mit ihm verbindet: Glaube und Verstehen.

Denn was heißt "Offenbarung der Gottesgerechtigkeit"? "Sachlich kann nichts anderes damit gesagt sein, als dass das Leben offenbart wurde", sagt Rudolf Bultmann; "denn 'Gerechtigkeit' und 'Leben' stehen in Parallele" (23). Oder anders gesagt: "Gottesgerechtigkeit bedeutet die von Gott ausgesprochene Gerechtigkeit, die Freisprechung des Menschen von der Sünde" (24); diese wird ihm im Evangelium, in der Predigt zuteil - nirgends sonst - und der Glaube als der Gehorsam dem Wort gegenüber ergreift sie.

Daraus ergibt sich: Offenbarung ist nicht Aufklärung, nicht Wissensvermittlung, nicht Lehre über Gott, sondern ein Geschehen, das die Situation des Hörers des Wortes von Gott her radikal ändert; und es ändert sie, indem es ihm "das Leben" schenkt. Was hat es mit diesem "Leben" angesichts des Todes - der Grenze des Menschen schlechthin - auf sich?

Die Offenbarung erschließt deshalb Leben - so lautet seine Antwort -, weil sie "den Menschen vom Vorläufigen und Vergangenen" befreit und ihm "die Zukunft" schenkt (31). Der Freispruch von der Sünde ist die Befreiung von der Last der Vergangenheit, die Zukunft die Möglichkeit, sich wieder als Geschöpf Gottes begreifen zu können. Geschöpf Gottes ist der Mensch immer schon, aber in der Selbstentfremdung der Sünde, der Absage an Gott, wurde ihm die eigene Wirklichkeit verschüttet, ist er sich selbst zum undurchdringlichen Rätsel geworden. So gesehen ist der durch das Evangelium geweckte Glaube die Möglichkeit, sich selbst wieder zu verstehen, der Glaube ist die Erhellung der eigenen Existenz. "Der Glaubende versteht also je sein Jetzt, als aus einer sündigen Vergangenheit kommend und deshalb als unter Gottes Gericht stehend, aber als befreit von dieser Vergangenheit durch die im Wort ihm begegnende Gnade". Und Rudolf Bultmann fügt hinzu: "Der Glaubende sieht so erst den Andern als seinen Nächsten und versteht sich, indem er den Nächsten versteht" (30); "er sieht seinen Nächsten und was er ihm schuldig ist (Röm 13,8)" (31).

Selbstverständnis im Glauben heißt für Bultmann also gleichursprünglich Verstehen des Nächsten. Das darf nicht übersehen werden. Sein Versuch der anthropologischen Verortung des Glaubens im Gespräch mit Martin Heidegger bedeutet nicht dessen individualistische Engführung. Wohl lautet die Frage, ob über seinem Verständnis von eigentlichem "Leben" als Zukunftsoffenheit und Zukunftserschlossenheit der Existenz nicht die Geschichtsbezogenheit des Glaubens und auch die Welthaltigkeit der biblischen Bilder und Mythen der Vergangenheit wie der Zukunft in ihrem Eigenwert zu kurz kommen. Braucht sie der Glaube nicht gerade in ihrer "Gegenständlichkeit", weil nur so die von ihm freigesetzte Hoffnung Anschaulichkeit und Kraft gewinnt?[13]


"Der weltweite Horizont der paulinischen Theologie" - Ernst Käsemann

Ernst Käsemann (1906-1998), der als Pfarrer im Ruhrgebiet in der Zeit der Nationalsozialisten gelernt hat, was theologischer Widerstand heißt, war immer ein streitbarer Lehrer. Seine Gegner in der jungen Bundesrepublik waren Pietisten und Evangelikale auf der einen, "angepasste" Christen auf der anderen Seite. Wer "den seiner Hilfe bedürftigen Bruder" verleugnet, der verleugnet "das Evangelium, das unter keinen Umständen im Kämmerlein bleiben darf, vielmehr in unserer Umwelt explosiv, ansteckend, abstoßend, heilschaffend und entsetzend Gottes Herrschaft, gegenwärtig auf Erden anbrechend, offenbart"[14].

Seinem Lehrer Rudolf Bultmann gegenüber schärft er den apokalyptischen Horizont der paulinischen Theologie ein und ihre damit zusammenhängende kosmologische und schöpfungstheologische Weite, die aller Anthropologie ihren Ort gibt[15]. Ihr Echo hat sie im Selbstverständnis des Apostels, wie er es in der Eröffnung des Römerbriefs selbstbewusst an den Tag legt: "Griechen und Barbaren, Weisen sowohl wie Unverständigen bin ich verpflichtet" (Röm 1,14). Deshalb will Paulus jetzt auch endlich in die Welthauptstadt kommen. "Als Bote des Evangeliums" kann er "unbefangen durch die Konventionen und Vorurteile des zerklüfteten Kosmos hindurchschreiten. Ihn schüchtern die Weisen nicht ein, mit den Unverständigen kann er sich in gleicher Weise einlassen. Die ganze Welt steht ihm, sofern er Diener des Kyrios ist, [...] offen" (18). Dabei sträubt sich Ernst Käsemann gegen eine einfache Identifikation von Evangelium und Predigt[16]: "Evangelium ist mehr als bloß die kirchlich aktualisierte Botschaft, nämlich die dem Menschen nicht verfügbare, auch der Kirche und ihren Dienern selbständig gegenüberstehende Heilskundgabe Gottes an die Welt, welche sich kraft des Geistes in der Verkündigung stets neu verwirklicht" (19). Nur wer das begreift, versteht auch, warum Paulus das Evangelium eine Kraft, eine Macht Gottes nennt, welche die Welt verändern will - durch seine Boten, die er in Dienst nimmt, die aber umgekehrt nie und nimmer das Evangelium in ihre Regie nehmen dürfen. Dieses ist nicht Trostzuspruch an die Frommen, sondern "eschatologisch-öffentliche Proklamation an alle Welt und jeden Einzelnen" (20), ihre Unterstellung unter den Kyrios - den Herrn Jesus, den Gott an Ostern zu seinem Repräsentanten bestellt hat (Röm 1,4).

"Die Rechtfertigungslehre ist die spezifisch paulinische Deutung der Christologie, wie umgekehrt diese die Grundlage der ersten (ist)", erklärt Ernst Käsemann (21). Der Obersatz der Themenangabe 1,16f betrifft das Evangelium (16b), begründet wird er durch den nachstehenden Satz zur Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes (17). Deshalb sei die paulinische Rechtfertigungslehre auch mehr als nur eine situationell bedingte "Kampfeslehre", vielmehr bilde sie als Explikation des Evangeliums Jesu Christi dessen bleibende Signatur. Warum?

"Gerechtigkeit Gottes" ist eine geprägte Formel - so Ernst Käsemann mit Verweis u.a. auf die Qumrantexte - und meint zunächst die "Bundestreue Gottes". Dass das Evangelium "zuerst dem Juden" gilt, hängt mit dem "Gesetz", der Tora und den Propheten, zusammen, also mit der "Dokumentation des göttlichen Anspruchs" in der Geschichte Israels. "Die Theologie des Apostels involviert (also) eine bestimmte heilsgeschichtliche Betrachtungsweise. Wer sie radikal leugnet, wird aus dem Herrn der Geschichte den Schöpfer des jeweiligen Augenblicks machen müssen, also die paulinische Gotteslehre antasten" (20). Diesen Satz hat offenkundig Rudolf Bultmann im Blick, der doch so sehr betonte, dass der Mensch ,je sein Jetzt, den Augenblick, als einen durch die Verkündigung qualifizierten verstehen lernt"[17]. Demgegenüber insistiert Ernst Käsemann auf der Geschichtsbezogenheit als Implikation des Evangeliums, weil der Gott Jesu eben auch der Herr der Geschichte, Schöpfer dieser Welt ist. Freilich wird nun "der Vorrang Israels nicht (mehr) exklusiv verstanden". Paulus entschränkt die Bundestreue universal. Das Evangelium ist "Kraft zur Rettung für jeden, der glaubt". "Wer Gott wirklich ist" - so Ernst Käsemann -, "ergibt sich für Paulus eben nicht letztlich vom Gesetz, sondern vom Evangelium her" (21).

Zwingt das Evangelium von dem an Ostern zum "Herrn aller" eingesetzten Jesus Christus (vgl. Röm 1,4f; 10,12) zur Entschränkung der "Bundestreue Gottes" im Sinne seiner Treue zur ganzen Schöpfung, dann ist auch klar, dass die Rede von der "Offenbarung" Röm 1,17 "apokalyptischen Sinn" besitzt: "Das Evangelium ist darum Gottesmacht, weil in ihm die göttliche Gerechtigkeit als endzeitliche Offenbarung in die Welt einbricht" (27). Die Gottesgerechtigkeit aber hat "Macht-Gabe-Struktur" (26). Auf der Linie seines Tübinger Vorgängers Adolf Schlatter verwirft Ernst Käsemann ihre eingrenzende Interpretation als Gabe und erklärt: "Der Apostel kennt keine Gabe, die uns nicht fordernd in Verantwortung stellt, sich uns gegenüber also als Macht erweist und uns Raum zum Dienst schafft. Er kennt umgekehrt keinen Gott, der sich seiner Schöpfung gegenüber isolieren lässt, sondern nur denjenigen, der in Gericht und Gnade in seiner Schöpfung manifest wird, als Herr an ihr handelt" (25). Und so gilt von der "Gerechtigkeit Gottes": "Sie spricht von dem Gott, der [die] gefallene Welt in den Bereich seines Rechtes zurückholt, sei es im Zuspruch oder im Anspruch, in Neuschöpfung oder Vergebung oder in der Ermöglichung unseres Dienstes und, was nach Gal 5,5 nicht weniger bedacht werden muss, in den Stand gewisser Hoffnung, uns also nach Phil 3,12 in den ständigen irdischen Aufbruch stellt" (26).

Wer herrscht über diese Welt? Gegen den Weltverlust einer anthropologisch eng geführten "Übersetzung" der Rechtfertigungsbotschaft beharrt Ernst Käsemann also darauf, dass der Mensch ohne die ihn bestimmenden "Mächte und Gewalten" unbegriffen bleibt (vgl. Röm 8,35-39). Hoffnung erwächst dann daraus, dass der Schöpfer sein Recht auf diese Welt in Christus Jesus durchzusetzen beginnt.


"Das Evangelium als Kriegserklärung an Rom" - Jacob Taubes

Wo Ernst Käsemann vom Recht des Schöpfers auf diese Welt spricht, hört Jacob Taubes mit geschärftem Bewusstsein für die Sprengkräfte des apokalyptischen Messianismus die Brieferöffnung des Römerbriefs auf ihre politischen Ober- und Untertöne ab. Was er in seinem mündlichen Vortrag bietet, sind Geistesblitze, wert, sie zu bedenken.

Es beginnt damit, dass er die Rom-Adresse sehr ernst nimmt: "Dies ist der einzige Brief des Paulus an eine Gemeinde, die er nicht gegründet hat. Und: Er hätte es sich sehr verbeten, wenn andere Apostel in seine Gemeinden hineingepfuscht hätten mit einem Brief. Das muss man sehen. Deshalb zieht er sich also Frack und Weste an wie ein feiner Pinkel und schreibt ungeheuer diplomatisch. Denn er geht auf Glatteis. Erstens kennt er die Gemeinde nicht, weiß nur von ihren Konflikten, Heidenchristen/Judenchristen, die dort akut sind, und natürlich ist es das politische Genie des Paulus, dass er nicht irgendeiner Gemeinde schreibt, sondern der Gemeinde in Rom, dem Sitz des Welt-Imperiums. Er hatte Sinn dafür, wo die Macht zu finden ist und wo eine Gegenmacht zu etablieren ist"[18]. Die Macht ist die des römischen Kaisers - Paulus schrieb den Brief "nach dem Tod des Claudius", "am Anfang der neronischen Zeit" -, die Gegenmacht ist die des Messias Jesus, die Paulus gleich zu Beginn im Briefpräskript, in Röm 1,3f, etabliert: "Als Sohn Davids ist Jesus designiert zur Herrschaft; das ist eine naturale Qualität. 'Sohn Gottes' ist jedoch keine naturale, sondern eine zugesprochene Qualität, wie es im Psalm 2, dem Königspsalm, heißt: 'Du bist mein Sohn, dich habe ich heute gezeugt.' Das ist ein Akt der Inthronisation. Also handelt es sich um eine bewusste Betonung derjenigen Attribute, die imperatorisch sind, die königlich sind, die kaiserlich sind. Sie werden betont gegenüber der Gemeinde in Rom, wo der Imperator selber präsent ist, und wo das Zentrum des Cäsar-Kultes, der Cäsarenreligion ist" (24). Und er fügt hinzu: "Ich will betonen, dass das eine politische Kampfansage ist, wenn an die Gemeinde nach Rom ein Brief, der verlesen wird, von dem man nicht weiß, in wessen Hände er fällt, und die Zensoren sind keine Idioten, mit solchen Worten eingeleitet wird, und nicht anders. Man könnte ja pietistisch, quietistisch [= auf Ruhe bedacht], neutral oder wie auch immer einleiten; aber nichts davon. Meine These ist deshalb: in diesem Sinne ist der Römerbrief eine politische Theologie, eine politische Kampfansage an den Cäsaren" (27).

Wer nachvollziehen will, warum Jacob Taubes die paulinische Theologie als Universalisierung des Judentums, zugleich aber auch als Gegenentwurf zur politischen Theologie des Kaisers begreift, wird Folgendes mit zu bedenken haben. In der Tat stand (und steht immer) die Frage im Raum: Wem gehört die Welt? Wer erhebt den Anspruch, sie zu regieren und sie in seinem Namen zu einen? Zweitens ist nie zu vergessen - obwohl die Brieferöffnung es nicht thematisiert -, dass derjenige, an dessen Herr-Sein über die Welt Paulus glaubt, von den Römern als Aufrührer gegen ihre Herrschaft ans Kreuz geschlagen wurde[19]. Drittens befinden wir uns mit dem Römerbrief noch einige Zeit vor dem Jüdischen Krieg gegen Rom, an dem die Bekenner des auf alle Gewalt verzichtenden Messias Jesus nicht teilnahmen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Hinweis von Jacob Taubes darauf, dass die messianische Jesus-Bewegung sich mindestens bis 70 n. Chr. noch als zum Judentum gehörig begriff: "das Wort 'Christ', das bitte ich Sie sich einzuhämmern, gibt es bei Paulus noch gar nicht. Diese Modernisierung, diese Anachronismen sind der Ruin jeden Beginns eines vernünftigen Textstudiums. Man darf nicht klüger sein als der Autor und ihm Begriffe unterlegen, die er nicht hat und nicht haben will" (34). Hierzu passt, dass Jacob Taubes Röm 1,1 ("Paulus, Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel [...]") im Licht der Propheten-Berufungen der Schrift Israels versteht und sich scharf gegen die anachronistische Rede von einer Bekehrung Pauli vom Juden zum Christen verwahrt (23f). Kurzum: Aus dieser geistvollen Vorlesung zum Römerbrief können wir heute eine ganze Menge lernen!


Konventionen der Brieferöffnung - meisterhaft genutzt

Auch wenn die dargestellten Zugänge zum Römerbrief recht verschieden ausfallen, bei allen ist doch klar, wo der Schlüssel im Sinne des Paulus anzusetzen ist: beim Präskript Röm 1,1-7, das er gekonnt genutzt hat, um sich und sein Evangelium in Kurzform vorzustellen, und beim Leitsatz Röm 1,16f, mit dem er dem Schreiben das Thema vorgibt - so wie ein guter Redner, der zunächst seine Hörer geneigt macht (Röm 1,8-15), um dann in Gestalt einer These knapp und prägnant zu sagen, worum es nachfolgend geht. Formuliert Paulus im Präskript - auf den Konsens mit den Adressaten bedacht, die er mehrheitlich noch nicht kennt - eher traditionell (Röm 1,31), so bedient er sich im Leitsatz Röm 1,16f der eigenen Worte. Beide Male geht es um die Israel-Kontur seines Evangeliumsverständnisses: Jesus - "aus dem Samen Davids", also der Messias Israels, und zum "Sohn in Vollmacht eingesetzt" an Ostern, also Herr aller Menschen, Juden wie Griechen (Röm 1,3f). Dem entspricht die Adressatenschaft des Evangeliums gemäß Röm 1,16: "dem Juden zuerst, aber auch dem Griechen". Das ist der Notenschlüssel der ganzen Partitur, von dem her Paulus auch seinen Apostolat (1,51) versteht: Das Evangelium in die Völkerwelt hineinzutragen bedeutet für ihn keine Israel-Vergessenheit, wie man ihm in Jerusalem und anderswo nachgesagt hat. Im Gegenteil: Der Vorrang Israels ist nicht nur der heilsgeschichtlichen Vergangenheit geschuldet - der Bundestreue Gottes zu seinem Volk in der Geschichte -, er wird sich trotz des mehrheitlichen Neins der Juden zum Evangelium auch in der Zukunft bewähren: bei der "Errettung ganz Israels", wenn der Messias Jesus "(wieder)kommt" (11,250. Der Leitsatz Röm 1,16f von der "Macht des Evangeliums" umgreift also auch Röm 9-11[20]. Paulus in diesem Sinne heute neu zu durchdenken, wie es auch die zu Wort gekommenen Theologen je auf ihre Weise getan haben, ist Aufgabe der gegenwärtigen Theologie, ihr Ziel ein neues Selbstverständnis der Kirche im Angesicht Israels.


Zusammenfassung

Ein guter Redner (nicht nur der Antike) sagt seiner Zuhörerschaft gleich zu Beginn der Rede, welche These er zum anstehenden Problem zu entfalten gedenkt. Genauso macht es Paulus im Römerbrief - gleichsam einer großen Rede zur Themenangabe Röm 1,16f, zu der Paulus mit seiner eigenen brieflichen Vorstellung in 1,1ff gekonnt hinlenkt. Dabei eröffnen sich für uns natürlich Interpretationsspielräume: Es ist spannend zu beobachten, wie große Theologen des 20. Jh. den Eröffnungstext des Römerbriefs im Resonanzraum ihrer eigenen religiösen, weltanschaulichen und politischen Erfahrungen wahrnehmen und für ihre Zeit aufschließen.


ANMERKUNGEN:

[1] Jacob Taubes, Die Politische Theologie des Paulus. Vorträge gehalten an der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, 23.-27. Februar 1987 (hg. von Aleida und Jan Assmann), München ²1995. Seine Dissertation (1947) wurde jüngst wieder neu aufgelegt: Abendländische Eschatologie. Mit einem Nachwort von Martin Treml, Berlin 2007 (dort auch biographische Notizen zu Taubes' Lebensweg als jüdischer Philosoph und Toralehrer).

[2] Taubes, Politische Theologie (s. Anm. 1), 23; Seitenangaben im Text oben beziehen sich auf das jeweils vorweg zitierte Werk. Apropos Hegel und Heidegger: ebd. 13f bekennt Taubes, er sei "durch Eitelkeit und Schicksal Philosoph geworden. [...] Heute sehe ich, dass eine Bibelstunde wichtiger ist als eine Hegelstunde. Ein bisschen spät. Ich kann Sie nur anregen, Ihre Bibelstunden ernster zu nehmen als alle Philosophie. Aber ich weiß, damit komm' ich nicht an, das ist nicht modern [...]".

[3] So die Überschrift, die Karl Barth, Der Römerbrief, Zürich 1984 (13. unveränd. Abdr. d. neuen Bearb. von 1922), 10, den beiden Versen Röm 1,16f voranstellt. - Zu Person und Werk vgl. Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, Zürich 2005 (Erstauflage 1975); ders., Karl Barth - Einblicke in seine Theologie, Göttingen 2008.

[4] Taubes, Politische Theologie (s. Anm. 1), 88.

[5] Bei Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf (s. Anm. 3), 93.

[6] Taubes, Politische Theologie (s. Anm. 1), 89.

[7] Die beiden komplementären Aspekte der Vita Jesu, "Fleisch" und "Geist" (1,3f), radikalisiert Barth zum Dualismus zweier Welten.

[8] So Peter Stuhlmacher, Adolf Schlatter als Paulusausleger - ein Versuch, im Vorwort zu Adolf Schlatter, Gottes Gerechtigkeit. Ein Kommentar zum Römerbrief (1935), Stuttgart 61991, I-XX, V. Lesenswert: Adolf Schlatter, Rückblick auf seine Lebensarbeit. Zu seinem hundertsten Geburtstag hg. von Th. Schlatter, Gütersloh 1952.

[9] Rudolf Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? (1925), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Erster Band, Tübingen 61966, 26-37, 33; die beiden folgenden Zitate ebd. 37f - Zu seinem Leben und Werk siehe nun Konrad Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 2009; außerdem Christof Landmesser/Andreas Klein (Hg.), Rudolf Bultmann (1884-1976) - Theologe der Gegenwart. Hermeneutik - Exegese - Theologie - Philosophie, Neukirchen-Vluyn 2010.

[10] Das Sommersemester 1933 beginnt Rudolf Bultmann am 2. Mai mit einer glasklaren, die Maßstäbe zurecht rückenden Vorlesung: "Die Aufgabe der Theologie in der gegenwärtigen Situation", und am 18. Juni distanziert er sich brieflich an seinen Freund Martin Heidegger von dessen sich den Machthabern anbiedernden Freiburger Rektoratsrede; beides abgedruckt in: R. Bultmann/M. Heidegger, Briefwechsel 1925-1975 (hg. von A. Großmann und Chr. Landmesser, mit einem Geleitwort von E. Jüngel), Frankfurt-Tübingen 2009, 193-196. 276-286.

[11] Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 61968, 52.

[12] Vgl. v.a. seinen Beitrag: Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament (1929), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Dritter Band, Tübingen 41993, 1-34.

[13] Als Beispiel eines Verzichts auf bildhafte Vergegenwärtigung lese man seine Sätze zur Auferstehungshoffnung in: Begriff der Offenbarung (s. Anm. 12), 28, deren Schweigsamkeit angesichts des Mysteriums des Todes indes auch beeindrucken; den Satz des Apostels: "denn wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen" (2 Kor 5,7), nimmt hier Bultmann dahingehend ernst, dass er auf jedes vergegenständlichende "Danach" verzichtet: "(A)lles Weltlich-Vorläufige hat für den Glaubenden wieder den Charakter der Vorläufigkeit erhalten; er weiß: 'die Gestalt dieser Welt vergeht' (1 Kor 731; vgl. 1 Joh 2,17), und sein Haben ist deshalb ein 'Haben, als hätte er nicht' (1 Kor 7,29-31). Deshalb ist auch für ihn das Sterben zu einem 'Sterben, als stürbe er nicht' geworden. Es muss freilich als die Auferstehung von den Toten verstanden werden und nicht als Unsterblichkeit der Seele, d.h. nicht als ein Festhalten dessen, was man je hat und ist, des Vorläufigen, sondern ein Preisgeben alles dessen. Der Glaubende muss über sich selbst das Todesurteil fällen (1 Kor 1,9). Er muss den Tod auf sich genommen haben. Er geht also in ein völliges Dunkel; aber die christliche Hoffnung hofft gerade da, wo nichts zu hoffen ist (Röm 4,18), nämlich auf Gott, der die Toten lebendig macht und das Nicht-seiende ins Sein ruft (Röm 4,17; vgl. 2 Kor 1,9)" (Kursive M. Theobald).

[14] Ernst Käsemann, Prophetische Aufgabe und Volkskirche, in: ders., In der Nachfolge des gekreuzigten Nazareners. Aufsätze und Vorträge aus dem Nachlass (hg. v. R. Landau in Zusammenarbeit mit W. Kraus), Tübingen 2005, 287-301, 286. Aufschlussreich für den Zusammenhang von Biographie und Theologie: Ernst Käsemann, Was ich als deutscher Theologe in fünfzig Jahren verlernte, in: ders., Kirchliche Konflikte, Bd. 1, Göttingen 1982, 233-244.

[15] Ernst Käsemann, An die Römer (HNT), Tübingen 21974; zum Folgenden vgl. v.a. seine Auslegung von Röm 1,16f ("Thema") ebd. 18-29.

[16] Anders Rudolf Bultmann, Begriff der Offenbarung (s. Anm. 12), 21: "Die Predigt ist selbst Offenbarung und redet nicht nur von ihr".

[17] Bultmann, ebd. 30.

[18] Politische Theologie (s. Anm. 1), 26.

[19] Ebd. 38: "Nicht der Nomos (= das Gesetz), sondern der ans Kreuz Geschlagene durch den Nomos ist der Imperator. Das ist ungeheuerlich, und dagegen sind alle kleinen Revoluzzer doch nichtig! Diese Umwertung stellt jüdisch-römisch-hellenistische Oberschicht-Theologie auf den Kopf, den ganzen Mischmasch des Hellenismus. Gewiss, Paulus ist auch universal, aber durch das Nadelöhr des Gekreuzigten, und das heißt: Umkehrung aller Werte dieser Welt. Also schon gar nicht der Nomos als summum bonum [= höchstes Gut]. Deshalb ist das politische Ladung, allerhöchster Explosivstoff". Wenn Paulus vom nomos spricht, meint er zwar das jüdische Gesetz, die Tora, aber Taubes macht hier darauf aufmerksam, wie die paulinische Rede vom nomos in römischen Ohren geklungen haben wird.

[20] Im Einzelnen vgl. Michael Theobald, Studien zum Römerbrief (WUNT 136) Tübingen 2001.


Prof. Dr. Michael Theobald lehrt Neues Testament an der Kath.-theol. Fakultät der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören das Johannesevangelium sowie die neutestamentliche Briefliteratur.
(michael.theobald@uni-tuebingen.de)


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Quelle:
Bibel und Kirche - Organ der Katholischen Bibelwerke in Deutschland,
Österreich und der Schweiz, 65. Jahrgang, 3. Quartal 2010, 3/2010,
Seite 138-146
Herausgeber: Dr. Franz-Josef Backhaus, Dipl.-Theol. Dieter Bauer,
Österr. Kath. Bibelwerk Klosterneuburg
Redaktion: Dipl.-Theol. Andreas Hölscher, Dr. Bettina Eltrop
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2010