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BERICHT/120: Katholische Sexualethik - Fachtagung in Frankfurt (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 10/2011

Katholische Sexualethik: Fachtagung in Frankfurt

Von Stefanie Knauß


Anfang Juli wurde bekannt, dass eine geplante Tagung zu sexualethischen Themen an der katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart wegen der Bedenken des Bischofs abgesagt werden musste. Sie fand jetzt in Frankfurt statt.


Es war eine schwere Geburt: Die wissenschaftliche Fachtagung "'Let's think about sex': Obsessionen der Moderne, katholische Sexualmoral, 'guter' Sex" war zuerst an der katholischen Akademie Stuttgart-Hohenheim geplant worden, konnte dort jedoch aufgrund bischöflicher Intervention nicht durchgeführt werden. Es fand sich ein anderer Standort, der die Tagung aus dem kirchlichen Binnenraum in die Öffentlichkeit brachte: Die "Frankfurter Rundschau" bot ihr Foyer in Frankfurt als Austragungsort für die nun mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Anfang Oktober durchgeführte Tagung an.

Das Bemühen um die verwaiste Tagung hat sich gelohnt: Die Tagung zeigte, dass - was mancher Kirchenobere wie -kritiker vielleicht bezweifelt hatte -, es durchaus möglich ist, Themen wie Sexualität und kirchliche Morallehre konstruktiv und sachlich, aber nicht humor- oder gar leidenschaftslos im öffentlichen Raum zu verhandeln - ohne in eine erregt-aufgeregte Polemik zu verfallen, die häufig das Reden darüber, was "guten" Sex in den Augen der Kirche und der Welt ausmacht, prägt (vgl. auch HK, September 2011, 448 ff.; Juni 2011, 303).


Das großteils so aus der Hohenheimer Vorplanung übernommene Programm spannte einen weiten Bogen von der Soziologie über Geschichte, Kulturwissenschaften und Psychologie zur Moraltheologie, Pastoraltheologie und systematischen Theologie. Die Konfrontation der theologischen Sexuallehre mit anderen wissenschaftlichen Diskursen erwies sich als äußerst anregend: Die unterschiedlichen Ansätze trugen zu einer, wie Albrecht Diem (Syracuse, NY) es nannte, "konstruktiven Verwirrung" bei, die zeigte, dass eine rein auf klar definierte Akte bezogene Morallehre, die Motivationen, Kontexte und Erfahrungen nicht in Betracht zieht und sich in Schwarz/Weiß-Malerei übt, angesichts der real existierenden Vielfalt des sexuellen Erlebens und seiner Interpretationen nicht weiterkommen und schon gar keine soziale Relevanz entwickeln kann.

Von mehreren Beitragenden wurde daher der Graben zwischen einer sexuell freizügig lebenden Gesellschaft und einer elitär denkenden Kirche als Problem benannt, das sich dahingehend erweitert, dass auch innerhalb der Kirche die offizielle Sexuallehre unter den Glaubenden keinen Widerhall mehr findet, obwohl sie nach wie vor ein zentrales Charakteristikum katholischer Identität darstellt.


Widerstandskraft eines christlichen Menschenbildes

Die Kluft zwischen Doktrin und sexueller Praxis führt jedoch, wie Rainer Bucher (Graz) bemerkte, dazu, dass die Kirche auch in anderen Bereichen an Glaubwürdigkeit verliert. Das Selbstbild der Kirche als rein und erhaben über weltliche Verwirrungen trägt, so Joachim Franks Analyse von Mediendarstellungen von Kirche, Gewalt und Sexualität, nicht eben dazu bei, diesen Graben zu überbrücken, auch wenn positive Kontrapunkte neben einer starken negativen Wahrnehmung der Kirche durch die Öffentlichkeit bemerkbar sind.

Die von Regina Ammicht Quinn (Frankfurt) ins Spiel gebrachte mögliche Widerstandskraft eines christlichen Menschenbildes gegenüber problematischen sozialen Tendenzen der Kommerzialisierung von Sexualität und Körperlichkeit, wie sie auch die Soziologin Nina Degele (Freiburg) in der heutigen Erfolgsgesellschaft feststellte, kann daher ihre Wirkung nur sehr begrenzt entfalten: Zu groß ist der Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit, aber auch unter Katholikinnen und Katholiken, in das, was Lehramt und Theologie zu den Fragen des konkreten Lebens zu sagen hätten.


Die soziologischen, kultur- und religionswissenschaftlichen und historischen Beiträge zeigten sehr einleuchtend, dass die oft beschworene heutige sexuelle Freiheit differenziert wahrgenommen werden muss: Einerseits ist die ihr zu Grunde liegende Ideologie der Dauer-Lust eine ebensolche Fremdbestimmung von Sexualität wie die traditionelle Ideologie der Kontrolle von sexuellem Begehren.

Unbewusste und daher unreflektierte Ideale von Sexualität formen schon immer das individuelle Erleben von Sexualität, ob diese nun, wie in der asketischen Tradition, zölibatäre, kindlich reine Asexualität (Hubertus Lutterbach, Essen) oder heterosexuelle Hyperpotenz à la James Bond (Theresia Heimerl, Graz, vgl. HK, September 2011, 466 ff.) zum Modell machen. Andererseits ist ein hemmungsloses anything goes, wie es das Lehramt möglicherweise befürchtet, gar nicht konkrete Wirklichkeit oder allgemein erwünscht, wie Ammicht Quinns Betonung der Unmöglichkeit einer wertfrei gelebten Sexualität nach ihrer Trennung von kirchlichen Morallehren und Walter Schaupps (Graz) Beobachtung der Entwicklung alternativer Werte im Leben von Sexualität (wie Authentizität oder Konsensualität) gezeigt haben.

Die klassische Sexuallehre mit ihren naturrechtlichen Voraussetzungen, die aus dem Sein unproblematisch auch das Sollen ableitet, kann in dieser Situation vermutlich wenig beitragen; wichtiger wäre eine anthropologische Grundlagendiskussion dazu, was Sexualität in der menschlichen Existenz bedeutet, die kritische Reflexion des Freiheitsbegriffs (wie von Saskia Wendel, Köln, unternommen) und die offene Wahrnehmung der theologischen "Zeichen der Zeit" in den Formen, wie Sexualität heute gelebt wird, wie Ammicht Quinn vorschlug.


Thema auch in anderen theologischen Disziplinen

Dazu gehört auch, so die von mehreren benannte Forderung, dass die Kirche Selbstkritik übt: Lange und dominant war sie in die Machtdynamiken, die mit der Regulierung und Restriktion von sexuellem Erleben einhergehen, involviert und hat über ihre Sexuallehre, Beichtmanuale, Heiligkeitsideale und Familienbilder Sexualität konstruiert, geprägt und die "sexuell Anderen" als Sünder und Sünderinnen, unrein und krank ausgegrenzt und diskriminiert. Norbert Reck (München), Ottmar Fuchs (Tübingen) und Erik Borgmann (Tilburg) benannten diese Schuld der Kirche durch die Geschichte hindurch - sowie die Notwendigkeit, dafür Verantwortung zu übernehmen. Die aktuellen Missbrauchsfälle seien hier nur eins von vielen Beispielen, wie Kirche durch ihre Sexualmoral, aber auch durch ihre innere Autoritätsstruktur und ihr Kirchenbild auch schuldig geworden ist.

In diesem Zusammenhang zeigte der Beitrag der klinischen Psychologin Hertha Richter-Appelt (Hamburg) zum Thema sexueller Missbrauch besonders deutlich die konkreten Grenzen einer aktzentrierten Morallehre, da Missbrauchsfälle gerade nicht auf vordefinierte Handlungen reduzierbar sind, sondern je nach Beteiligten und ihrem Lebenskontext in unterschiedlichen Situationen erlebt werden. Diese als Missbrauch zu erkennen, zur Sprache zu bringen und zu verarbeiten, bedarf eines differenzierten Verständnisses von Sexualität und eines vielschichtigen Vorgehens, das auch für die kirchliche Diskussion dringend notwendig wäre.


Es scheint, als ob das Gespräch über Sexualität und Kirche beziehungsweise Theologie von schweren Themen und einer dunklen Vorgeschichte überlagert sei: Missbrauch, Homophobie, Leistungsaskese - fast könnte man die Hoffnung auf eine konstruktive Weiterführung verlieren. Dass dies in Frankfurt nicht der Fall war, liegt daran, dass bei aller Kritik der Beitragenden an lehramtlichen und moraltheologischen Auseinandersetzungen mit dem Thema eine sehr differenzierte Sicht auf die Dinge überwog, die zwischen den unzähligen problematischen Elementen auch alternative Traditionen entdeckte: Wie die Sexualität selbst ist auch ihre theologische Reflexion nicht ahistorisch und monolithisch, sondern hat sich in verschiedenen Strömen und Nebenströmen entwickelt, von denen einige wirkmächtiger waren als andere, diese damit jedoch nicht aus der Tradition ausgeschlossen waren und nun neue Anregungen für die Diskussion geben können.


Dass diese Diskussion nicht auf den moraltheologischen Raum beschränkt sein muss, zeigte vielleicht gar nicht überraschend der Beitrag einer Nicht-Theologin, der Psychoanalytikerin Ilka Quindeau (Frankfurt): Ihre Überlegungen zur Erfahrung des Begehrt-Werdens als Voraussetzung eigenen Begehrens und deren Bedeutung für die Subjektbildung könnten für systematisch-theologische Reflexionen zur Liebe Gottes als erstes, unverdientes Geschenk, das menschliche Liebe und Leidenschaft erst möglich macht, anregend wirken. Wenn die Frage nach Gott immer auch die Frage nach dem Menschen impliziert, dann muss menschliche Sexualität in ihrer Vielfalt und Verwirrung auch ein Thema in anderen theologischen Disziplinen sein.

Vieles wäre noch weiter zu diskutieren: die Beteiligung der Theologie an der Konstruktion einer Sexualität, die sie nun kritisiert; ihre Strategien, mit der verunsichernden Sexualität umzugehen; weibliche Sexualitäten in der Geschichte und Gegenwart usw. Es ist zu hoffen, dass die positiven Erfahrungen dieser Tagung ermutigen, dieses durchaus komplexe Thema weiter aufzugreifen, damit die in Frankfurt entstandene Verwirrung ihr konstruktives Potenzial entfalten kann.


Stefanie Knauß (geb. 1976) hat katholische Theologie und Anglistik in Freiburg studiert. Seit ihrer Promotion in Fundamentaltheologie an der Universität Graz arbeitet sie als wissenschaftliche Angestellte in der Fondazione Bruno Kessler in Trient (Italien) an einem Projekt zur Darstellung von Sexualität im Film und anderen Medien und deren theologischen Implikationen.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 10, Oktober 2011, S. 548-551
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2011