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BERICHT/116: Muslime und Orthodoxe im heutigen Russland (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 6/2011

Spannungsreiches Nebeneinander
Muslime und Orthodoxe im heutigen Russland

Von Gerd Stricker


Die Muslime bilden nach den orthodoxen Christen die zweitstärkste religiöse Gemeinschaft in Russland. Sie sind keine einheitliche Gruppe: Vor allem mit den Muslimen im nördlichen Kaukasus gibt es immer wieder Spannungen. Ethnische und religiöse Zugehörigkeit stehen in enger Verbindung.


Am 16. Dezember 2010 machte Russlands Ministerpräsident Vladimir Putin im russischen Staatsfernsehen eine irritierende Bemerkung: "Einige Theoretiker bei uns meinen, dass die Orthodoxie in vielem dem Islam näherstehe als, sagen wir einmal: den Katholiken. (...) Seit Jahrhunderten schon leben die beiden wichtigsten Religionen (auf russischem Boden: Orthodoxie und Islam) friedfertig miteinander"; in 450 Jahren habe "eine gegenseitige kulturelle Beeinflussung" stattgefunden.

Putin hatte sich im August 1999, nach seiner ersten Ernennung zum Ministerpräsidenten, zur Orthodoxie bekannt. Ihm ist das Wiedererstehen der Russischen Orthodoxen Kirche (künftig: ROK) zu danken. Als Staatspräsident (seit 2000) versuchte er, Patriarch Alexij II. (1919-2008) zu einer Begegnung mit Papst Johannes Paul II. zu bewegen. Doch war dieser nicht bereit, mit dem polnischen Papst zusammenzutreffen. Als geistlicher Schüler des Leningrader Metropoliten Nikodim (Rotov, 1929-1978), der starke Sympathie für die römische Kirche gehegt hatte, ist der 2009 gewählte Patriarch Kirill Rom gegenüber unbefangener. Er schätzt Papst Benedikt XVI. - und umgekehrt ist dieser von Patriarch Kirill sehr angetan: "Wir verstanden uns auf Anhieb." Beide sprechen davon, dass es zu einer Begegnung der beiden Oberhäupter kommen werde.

ROK und Heiliger Stuhl sehen sich jetzt Seite an Seite im Ringen um die christliche Seele Europas, um die Wahrung der christlichen Wurzeln und Werte Europas; gemeinsam prangern sie die fortschreitende Säkularisierung und den Niedergang der christlichen Moral in Europa, aber auch den islamischen Fundamentalismus an. Nach Papst Benedikt hat die Annäherung von Katholizismus und Orthodoxie weltgeschichtliche Bedeutung: Darin offenbare sich "unsere gemeinsame Verantwortung für das Schicksal der Welt". Katholiken und Orthodoxe seien "Träger der Moral, die den Menschen als Orientierung dient." Diese Zusammenhänge sind Vladimir Putin wohlbekannt. Er muss starke Gründe gehabt haben, sich mit seiner obigen Bemerkung von Rom abzugrenzen.


Islam als zentrales Merkmal der nationalen Identität

Am 6. Dezember 2010, zehn Tage vor Putins zitiertem Fernseh-Statement, war es in Moskau nach einem Fußballspiel zu Krawallen gekommen, wobei ein Russe von einem Kaukasier erschossen und ein anderer schwer verletzt wurde. Darauf sammelten sich am 11. Dezember auf dem Manegenplatz in Moskaus Zentrum mehr als 5000 Personen: rachedurstige russische Nationalisten, die den Namen des Ermordeten skandierten, sowie gewaltbereite Kaukasier und ihnen nahestehende Gruppierungen. Die folgende Straßenschlacht forderte 39 Schwerverletzte; 1300 Personen wurden verhaftet.

Wenige Wochen später erfolgte am 24. Januar 2011 das furchtbare Attentat auf dem Flughafen Domodedevo/Moskau (mit 37 Todesopfern). Die blutige Spur vieler solcher Anschläge führt meist in den Kaukasus: (Selbstmord-)Attentate auf die Moskauer Metro (März 2010: 40 Todesopfer; November 2009: 26); die Geiselnahme von 1300 Kindern und Lehrern an der Schule von Beslan in Nord-Ossetien (2004) mit 332 Todesopfern, davon 186 Kinder; der Anschlag auf das Moskauer Dubrovka-Theater (2002) mit 850 Geiseln und 129 Todesopfern und zahlreiche weitere blutige Attentate.


Ministerpräsident Putin sieht sich angesichts der gegenwärtigen Welle von Attentaten und Straßenkrawallen, an denen Personen mit muslimischem Hintergrund sowie fanatisierte Russen beteiligt sind, zu beschwichtigenden Gesten genötigt, warnt vor einem Auseinanderbrechen Russlands, vor Bürgerkrieg. Immer wieder rühmt er das über Jahrhunderte bewährte friedvolle Zusammenleben von Muslimen und Orthodoxen in Russland; muslimisch geprägte Zuwanderer ruft er auf, sich besser in die russische (orthodoxe) Kultur zu integrieren und die russischen Gesetze zu befolgen; die russische Mehrheitsbevölkerung fordert er auf, den muslimischen Mitbürgern gegenüber toleranter zu sein.

Politiker sowie leitende Geistliche der ROK und der muslimischen Institutionen sollen die Gläubigen im Sinne der Völkerfreundschaft und des russischen Patriotismus beeinflussen, damit die Vielfalt der Ethnien und der Religionen die Größe und Stärke der "Russländischen Föderation" fördere. Entschieden sollen die Geistlichen beider großer Religionen Extremismus und Fundamentalismus in ihren Reihen verurteilen.

Während die maximal 500.000 Katholiken in Russland eine Quantité négligeable darstellen, machen Bürger mit muslimischer Prägung (etwa 20 Millionen) knapp 15 Prozent der Gesamtbevölkerung Russlands (143 Millionen) aus. Der Islam ist damit die nach der Orthodoxie bedeutendste Religion in Russland. Allerdings sind die meisten Staatsbürger mit islamischem Hintergrund gar nicht gläubig und praktizieren nicht: Für sie ist der Islam das zentrale Merkmal ihrer nationalen Identität ("ethnische Muslime") - das gilt ebenso für "orthodoxe" Russen, die vielfach gar nicht getauft sind.


Putins Feststellung, der Islam stehe der Orthodoxie näher als der Katholizismus, hat eine gewisse historische Berechtigung: Der Moskauer Zar Iwan IV. ("der Schreckliche", 1533-1584) eroberte zwischen 1552 und 1580 die muslimischen Chanate Kasan, Astrachan und Sibir - das waren die Rückzugsgebiete jener 922 islamisierten Mongolen-Tataren, die 1236 die "Kiewer Rus'" (das so genannte Kiewer Reich der Ostslawen) zerstört und einen Großteil der Ostslawen unterjocht hatten. Zar Iwan IV. konnte nun seinerseits die einstigen Eroberer unterwerfen. Seitdem ist Russland mit dem "Islam" konfrontiert. Der tatarische Adel ließ sich taufen, wurde in die russischen Adelsregister aufgenommen und behielt seine Privilegien. Das einfache Volk jedoch wurde zumeist mit Gewalt zur Taufe geführt; tatarische Moscheen und Schulen wurden geschlossen, an ihrer Stelle orthodoxe Kirchen errichtet.


Im Kaukasus wird Russland als Kolonialmacht empfunden

Es gelang aber nicht, die Masse der Tataren wirklich für die Orthodoxie und das Russentum zu gewinnen: Die meisten von ihnen kehrten mit der Zeit zum Islam zurück. Erst die "aufgeklärte" Kaiserin Katharina II. (1762-1796) unterband Zwangsbekehrungen, gestattete den Bau von Moscheen und muslimischen Schulen und veranlasste die Gründung der "Zentralen Geistlichen Versammlung der Muslime" (1768) - mit einem von der Regierung eingesetzten und besoldeten Mufti an der Spitze; diese Behörde vermittelte zwischen christlicher Obrigkeit und den Muslimen.

Die bedeutendsten muslimischen Ethnien in der Wolga-Ural-Region sind die turksprachigen Tataren (6 Millionen) und Baschkiren (2 Millionen), wobei aber nur jeweils ein Teil in den Autonomen Republiken Tatarstan und Baschkirien beheimatet ist; die übrigen verteilen sich über ganz Russland. Seit 450 Jahren leben sie mit Russen in unmittelbarer Nachbarschaft. Wenn Politiker und Geistliche heute darauf verweisen, dass Orthodoxe und Muslime fast 450 Jahre lang gewaltfrei auf russischem Boden zusammengelebt hätten, betonen Muslime, dass dieses friedliche Miteinander erzwungen war: Als muslimische Minderheiten hätten sie unter starkem Druck der Staatsmacht und der Orthodoxie keine Chance gehabt sich durchzusetzen; eine Konfrontation hätte den Muslimen nur gewaltige Nachteile gebracht. Gleiche Rechte wie die Russen hätten sie nie besessen.


Muslime galten im alten Russland als weit zurückgeblieben

Die Muslime galten im alten Russland - kulturell und auch sonst - als weit zurückgeblieben. Ungebildet (im europäischen Sinne) und dazu nicht einmal orthodox, waren sie Menschen zweiter Klasse. Vor diesem Hintergrund entstand im 19. Jahrhundert unter den Tataren eine Bewegung, die von der Idee her mit der europäischen Aufklärung vergleichbar ist: der "Djadidismus". Für diesen sind starke Betonung von Bildung, Geschichte und Kultur sowie die Schaffung einer tatarischen Nationalideologie ebenso kennzeichnend wie die Öffnung zu Orthodoxie, zu russischer Sprache und Kultur sowie zu europäischer Bildung.

Theologisch fördert der Djadidismus eine Individualisierung des Islams: Ein eher persönliches Verhältnis des Menschen zu Allah wird propagiert, das Gebot der vorgeschriebenen Gebetszeiten gelockert; auch eine weitgehende Gleichberechtigung der Frau ist charakteristisch für diesen Reform-Islam, der sich dem Westen als "Euro-Islam" empfiehlt. Symbolisch stehen auf dem Kreml zu Kasan der tatarische Sujumbike-Turm und die russische Mariä-Verkündigungs-Kathedrale einträchtig nebeneinander. Von den Muslimen außerhalb Tatarstans wird der Djadidismus als "verwässerter Kultur-Islam" ohne tiefe Glaubensbindung abgelehnt, wohingegen er in Tatarstan heute faktisch Staatsreligion ist.


Im Nord-Kaukasus liegen die Dinge völlig anders: Die dortigen, durchwegs muslimischen Völkerschaften wurden im 19. Jahrhundert mit beispielloser Gewalt und in Strömen von Blut dem Zarenreich einverleibt: Die stolzen, freiheitsliebenden Völker empfinden die russische (zwischenzeitlich sowjetische) Staatsgewalt bis heute oftmals als Kolonialherrschaft. Nach dem Zerfall der Sowjetmacht sahen nationalbewusste Kaukasier eine Chance, ihre einstigen Sowjetrepubliken von der "Kolonialmacht" Russland zu lösen, wobei besonders radikalen Gruppierungen Gewalt und Terror als legitime Mittel gelten.

In den meisten nordkaukasischen "Autonomen Republiken" Russlands bildet die muslimisch geprägte Bevölkerung eindrucksvolle Mehrheiten - in Inguschetien 98 Prozent, in Tschetschenien 96 Prozent, in Daghestan 94 Prozent, in Kabardino-Balkarien 70 Prozent, in Tscherkessien 63 Prozent. So zerstritten manche dieser Ethnien auch sind, so verbindet sie doch die kulturelle Prägung durch den Islam. Dieser ist zentraler Bestandteil ihrer nationalen Identität - ob sie sich nun heute lautstark als Muslime deklarieren oder aber (Erbe des Kommunismus) weiterhin Atheisten sind (etwa 30 Prozent).

Den Kaukasiern begegnen Russen nicht erst nach den Tschetschenienkriegen und nicht erst seit den blutigen Anschlägen der letzten Jahre mit Misstrauen. Schon in Sowjetzeiten waren die kaukasischen (vor allem tschetschenischen) Mafias unter den Russen verhasst: Sie kontrollierten weite Teile der Sowjetwirtschaft. Russen diskriminieren die Nordkaukasier - und auch Menschen aus Zentralasien - durchwegs als "die Schwarzen" (cërnye), denen man mit Misstrauen begegnet: Sie seien doch alle "Mohammedaner", also potenzielle Terroristen.


Eine dritte Kategorie neben den Muslimen in der Wolga-Ural Region und im Nordkaukasus bilden jetzt Immigranten in Russlands Großstädten: in Moskau knapp 2 Millionen, in St. Petersburg etwa 0,7 Millionen; ihre Zahl in Innerrussland und Sibirien liegt sicher über 5 Millionen. Sie kommen aus den verarmten neuen Ländern Zentralasiens (Kasachstan, Usbekistan, Kirgisien, Turkmenistan, Tadschikistan) und aus Aserbaidschan, viele aber auch aus dem Nordkaukasus. Meist wandern diese Muslime illegal nach Russland ein und bilden hier eine wenig ausgebildete, unkontrollierbare Unterschicht minimal besoldeter Arbeitssklaven. Sie bringen die Konflikte aus ihren Heimatländern mit. Angesichts dieses sozialen Sprengstoffes kann der kleinste Anlass zu folgenreichen zwischen-ethnischen Auseinandersetzungen führen - wie im Dezember nach einem Fußballspiel.


"Traditioneller" Islam und Untergrund-Islam

Einen einheitlichen Islam gibt es in Russland nicht, obwohl alle muslimischen Gruppierungen im heutigen Russland dem sunnitischen Islam (schafiitische Rechtsschule) zugehören; Schiiten sind kaum vertreten. Obwohl der Islam für Dutzende Ethnien in Russland das zentrale Merkmal ihrer nationalen Identität darstellt, hat er unter den einzelnen Ethnien jeweils eine andere Gestalt; zudem haben sich infolge regionaler historischer Bedingungen zwischen einigen Ethnien im Kaukasus tiefsitzende Animositäten herausgebildet.

Darüber hinaus sind durch die Verwerfungen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus weitere Differenzierungen im Erscheinungsbild des russischen Islams entstanden: Nach dem Ende des Staatsatheismus konnte in den muslimisch geprägten Regionen Russlands der Islam wieder in seine alte Funktion als "Leitkultur" treten. Indem Putin mit dem Zweiten Tschetschenienkrieg (seit 1999) den russischen Nationalismus als alt-neue Staatsideologie ("Russischer Patriotismus mit orthodoxem Kern") wiedererweckte, bewirkte er als Gegenreaktion das rasante Wiedererstehen des "muslimischen" Nationalismus.


Im Kaukasus suchen - einst kommunistisch-atheistische - Führer den Islam als nationalen und kulturellen Faktor mit ihren eigenen politischen Ambitionen zu verknüpfen. Wohl die meisten von ihnen, wie Ramsan Kadyrow in Tschetschenien, können sich in "ihren" Kaukasusrepubliken nur mit Hilfe der Moskauer Zentralregierung (und mittels systematischer Korruption) halten. Zusätzlich sichern sie sich die Unterstützung von ambitionierten Muslimen, indem sie ihnen geistliche Leitungsämter verschaffen. Umgekehrt können sich solche Muftis oft nur halten, weil sie von den auf Moskau setzenden korrupten Politikern unterstützt werden.


In Russland gilt ein so genannter traditioneller Islam als der offizielle Islam, womit weniger eine Abgrenzung zu radikalen Strömungen zu verstehen ist; vielmehr bedeutet "traditionell" im russischen Kontext loyal der politischen Führung in Moskau gegenüber. Auch im Kaukasus gelten als traditionell jene Muftis und ihre Institutionen, die sich an Moskau - und den oft dubiosen Parteigängern Moskaus - orientieren. Der traditionelle Islam erkennt die (auf der - im Grunde genommen - orthodoxen Kultur basierende) Gesetzgebung der Russischen Föderation an und respektiert die Orthodoxie als Religion der Mehrheitsbevölkerung beziehungsweise erkennt der Orthodoxie Priorität zu. Für eine solche tolerante Haltung gegenüber der Orthodoxie ist ein gemäßigter Islam die Voraussetzung. Hieraus erwächst der Konflikt.

Namentlich in den nordkaukasischen Republiken, wo die allgemeine Stimmung eher antirussisch ist, identifiziert sich nur ein Teil der Muslime (und dies auch nur bedingt) mit der Moskau-loyalen Haltung ihrer politischen und geistlichen Führer. Missionare radikal-fundamentalistischer Richtungen aus dem Nahen Osten und aus arabischen Ländern sind nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nach Russland eingesickert und predigen vor allem im Nordkaukasus eine radikale Variante des Islams - den "Wahhabitismus", der sich ideell, finanziell und oft auch personell aus dem Nahen Osten und aus arabischen Quellen speist. Diese radikalen Muslime, die sich teilweise als Gotteskrieger bezeichnen, leben einen kämpferischen reinen Islam: die Errichtung des Gottesstaates, die Einführung der Sharia, einen gesamtkaukasischen Djihad oder ein Gesamtkaukasisches Islamisches Emirat - und insbesondere die Abtrennung von Russland. Auf das Konto dieser Fundamentalisten (inoffizieller oder Untergrundislam) gehen viele der terroristischen Anschläge: Diese richten sich gegen Russen und gegen politische und geistliche Führer der Muslime, die sich zu Moskau halten.


Vor diesem Hintergrund hat der Islam in Russland ein gravierendes Problem: Während die ROK einen relativ geschlossenen Block bildet und zu mehr als 90 Prozent von ethnischen Russen getragen wird, ist der Islam das nationale und kulturelle Merkmal einer Reihe von Ethnien, die einander oft mit Misstrauen begegnen. Und nicht nur im Nordkaukasus existieren der radikale inoffizielle und der tolerantere offizielle Islam fast unversöhnlich (aber doch auch mit fließenden Übergängen) nebeneinander. So ist es nicht verwunderlich, dass in Russland bisher keine zentrale muslimische Struktur entstehen konnte. Die Sowjets hatten eine einheitliche Führung geschaffen, aber sie war lediglich ein Instrument der kommunistischen Führung und hatte unter den Muslimen keinen Rückhalt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist der offizielle Islam in Russland in zahlreiche (40 bis 70) regionale - miteinander konkurrierende - Institutionen zerfallen, die sich vier überregionalen Einrichtungen zuordnen.


Der "Westen" als gemeinsamer Feind

Dem "Rat der Muftis in Russland" und der "Geistlichen Verwaltung der Muslime im europäischen Russland" (beide mit Sitz in Moskau) steht Mufti Ravil Gajnutdin vor; die "Zentrale Geistliche Verwaltung der Muslime in Russland" (Sitz: Ufa/Ural) präsidiert Großmufti Scheich Talgat Tadjudtin. Die Muftis in den Kaukasusrepubliken, die (zögerlich zwar) mit Moskau kooperieren, sind locker im "Koordinationszentrum der Muslime im Nordkaukasus" (Sitz: Tscherkessk/Karatschaj-Tscherkessien) zusammengeschlossen. Es gibt neuerdings Versuche, eine zentrale "Assoziation der muslimischen Geistlichen Verwaltungen" zu gründen - aber die führenden Muftis sind nicht willens, sich ihre persönliche Macht beschneiden zu lassen.


Die Staats- und die Religionsführer in Russland versuchen, namentlich die Bürger orthodoxer und islamischer Prägung auf den innerrussischen Völkerfrieden sowie auf patriotische ("vaterländische") Positionen einzuschwören: Orthodoxe und Muslime sollten gemeinsam daran arbeiten, Russland wieder zur führenden Weltmacht zu machen. Nach bewährtem Muster wird auch ein gemeinsamer Feind ausgemacht: der Westen. Islam und Orthodoxie stünden gemeinsam im Kampf gegen die westliche Dekadenz, gegen die immer aggressivere Säkularisierung, gegen die Aufweichung der Normen der tradierten Moral (beispielsweise Abtreibungen, Sexualisierung der Gesellschaft - etwa Homosexualität, Pornographie, Alkoholismus, Drogen ...) und gegen die Globalisierung. Putins Bemerkung, der Islam stehe der Orthodoxie näher als der katholischen Kirche, ist als Versuch zu bewerten, sich den Muslimen im Sinne einer pro-islamischen und anti-westlichen Position zu empfehlen.

Nach anti-islamischen Übergriffen von russischer Seite bezeigt die orthodoxe Führung dem Islam ihre Solidarität. Und umgekehrt versucht sie, nach Anschlägen kaukasischer Terroristen russische Emotionen zu dämpfen. Patriarch Kirill verurteilt jede Form des politischen Radikalismus und bezeichnete die Krawalle vom Dezember 2010 als Versuche von Extremisten Russland zu destabilisieren. Sie hätten keinerlei Bezug zur Religion: "Nur gottloses Heidentum kann Menschen (und wenn sie sich noch so sehr als Gläubige gebärden) aufstacheln, auf diese Weise gegeneinander vorzugehen." Wer aus islamisch geprägten Regionen einwandere, solle sich "um ein gutes Verhältnis zum russischen Mehrheitsvolk bemühen, sich mit dessen geistigem und kulturellem Leben vertraut machen und (...) zusammen mit uns (Russen) unser gemeinsames Vaterland aufbauen." Die Russen ihrerseits sollten den Migranten Solidarität bezeigen.


Wie wenig die russische Basis die beschwichtigenden Äußerungen der orthodoxen Geistlichkeit beherzigt, zeigen die tätlichen Auseinandersetzungen mit Kaukasiern. Charakteristisch sind auch die Vorgänge um geplante Moscheebauten. In Moskau gibt es für 2 Millionen (ethnischer) Muslime nur vier Moscheen. Die Gläubigen sind gezwungen, auf Straßen, in Kellern, Stuben und andernorts ihre Gebetsversammlungen abzuhalten. Als die Moskauer Stadtregierung 2010 den Muslimen entgegenkommen wollte und ihnen im Stadtteil Tekstil'sciki ein Grundstück für den Bau einer Moschee zuwies, kam es zu Demonstrationen der Einheimischen; Präsident Dimitri Medwedjew wurde eine Protestnote mit 10.000 Unterschriften vorgelegt. Schließlich zog die Stadtregierung, um nicht Krawalle von russischer Seite zu provozieren, das Projekt im Februar 2011 zurück. Man werde den Muslimen anderswo einen Bauplatz zuweisen.

Nach Anschlägen von radikal-islamischen Gruppen erfolgen auch von offiziell-islamischer Seite Verurteilungen und Distanzierungen. Wie Patriarch Kirill, so betonen auch die Muftis, Terroristen seien keine Gläubigen. Das Attentat auf den Flughafen Domodedevo verurteilte Mufti Ravil Gajnutdin entschieden und betonte: "Unschuldige Menschen wurden getötet, in den Krankenhäusern ringen Ärzte um das Leben vieler Opfer"; religiöse Toleranz sei die unabdingbare Grundlage für ein multiethnisches und multireligiöses Russland; die muslimischen Terroristen bekämpften nicht zuletzt auch die Geistlichen des traditionellen Islams.


Auch die offiziellen Muftis stellen unbequeme Fragen

Angesichts vieler Benachteiligungen der Muslime im Vergleich zu den Privilegien der orthodoxen Quasi-Staatskirche (Zurücksetzung der Muslime in der Öffentlichkeit, Behinderung von Moscheebauten, keine Imame in der Armee, kaum finanzielle Unterstützung durch den Staat) müssen die offiziellen Muftis ihren Gläubigen, die von den Radikalen heftig umworben werden, glaubwürdig und überzeugend erklären, warum sie trotz allem dem russischen Staat gegenüber loyal sind. Seitdem der Druck des inoffiziellen, Moskau-feindlichen Islams in Innerrussland immer stärker wird, stellen die offiziellen Muftis auch unbequeme Fragen. Neuerdings kritisieren sie regionale Behörden und lokale Beamte, weil diese allzu häufig die Rechte der Muslime missachten oder diese gar wie Untermenschen behandeln.

Die Strategien der beiden um Führung im offiziellen Islam Innerrusslands ringenden Muftis, Ravil Gajnutdin und Scheich Talgat Tadjutdin sind unterschiedlich. So forderte der radikalere Tadjutdin zu Beginn des Irakkrieges seine Anhänger zum Heiligen Krieg gegen die USA auf, wohingegen Gajnutdin gegen diesen Kriegsaufruf heftig polemisierte. Im Dezember 2010 provozierte Gajnutdin die russische Öffentlichkeit mit einer provokativen Rede, mit der er wohl bei den Muslimen gegenüber seinem Konkurrenten punkten wollte: Er begrüßte die Einwanderung von Muslimen nach Russland und verteidigte sie gegen die aggressive Ablehnung durch viele Russen ("Muslime raus!").

Die Russen, so Gajnutdin, arbeiteten nicht mehr, vertränken ihr Gehalt. Mit ihnen könne man jene Probleme nicht bewältigen, vor denen Russland heute stehe. Die Immigranten hingegen tränken nicht, seien diszipliniert und arbeitsam, schickten ihren kargen Lohn nach Hause (von den russischen Arbeitgebern würden sie wie Sklaven ausgebeutet). Seit der "Wende" sei in Russland eine Generation herangewachsen, "die nicht arbeiten will, Pornos anschaut, Alkohol und Drogen konsumiert und in irgendwelchen Clubs herumhängt - von der keiner mehr aufs Feld geht: weder um zu säen noch um zu ernten". Die Empörung war allgemein - seitens der Staatsführung, der ROK sowie seitens der anderen Führer des offiziellen Islams. Aber man ist in Russland wieder zur Tagesordnung übergegangen


Dr. phil. Gerd Stricker, Zürich; Osteuropa- und Ostkirchen-Historiker, Slawist. Bis 2009 Chefredakteur der Zeitschrift "G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Osteuropa" (früher: "G2W - Glaube in der 2. Welt"), Zürich.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 6, Juni 2011, S. 294-299
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2011