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FRAGEN/002: "Gegen ein verzerrtes Bild vom Judentum" - Gespräch mit Julius H. Schoeps (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 6/2012

"Gegen ein verzerrtes Bild vom Judentum"
Ein Gespräch mit dem Historiker Julius H. Schoeps

Die Fragen stellte Stefan Orth



Die Beschäftigung mit dem Judentum soll an deutschen Universitäten intensiviert werden. Über die konkreten Vorhaben, das Verhältnis zu den christlichen Theologien, aber auch die Rolle, die die gegenwärtigen Herausforderungen für das Judentum hierzulande dabei spielen, sprachen wir mit dem Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Potsdam, Julius H. Schoeps.


HK: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat vor Kurzem mitgeteilt, fast sieben Millionen Euro für ein Zentrum für Jüdische Studien unter Beteiligung des Moses-Mendelssohn-Zentrums zur Verfügung zu stellen. Was ist genauer geplant?

Schoeps: Vier Universitäten, die Humboldt-Universität, die Freie Universität, die Technische Universität in Berlin und die Universität Potsdam sowie das Abraham-Geiger-Kolleg und das Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien gründen zusammen ein Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Es soll die vorhandenen historischen, kulturwissenschaftlichen, philologischen, soziologischen und interreligiösen Kompetenzen und Angebote auf dem Gebiet der Jüdischen Studien im Berliner Raum koordinieren und vernetzen. Natürlich ist da noch einiges an Arbeit zu leisten, weil die verschiedenen bereits existierenden Studiengänge sehr unterschiedlich sind und mit ihren Anforderungen angeglichen werden müssen. Dazu gehört insbesondere die Anerkennung der jeweiligen Leistungsanforderungen. Wer sich in der Universität etwas auskennt, weiß, dass das nicht ganz einfach sein wird.

HK: Wird es an diesem Zentrum auch - wie jetzt beispielsweise an den Zentren für Islamische Studien - mit Blick auf das Judentum eigene neue Studiengänge geben?

Schoeps: Das ist noch offen. Zunächst einmal ist begrüßenswert, dass das Zentrum überhaupt zustande kommt. Ich bin sehr froh darüber, dass von den Beteiligten vereinbart worden ist, die Veranstaltungsangebote zu koordinieren und die Zugänglichkeit zu den Bibliotheken in der Region zu verbessern. Unsere Bibliothek im Moses-Mendelssohn-Zentrum beispielsweise hat etwa allein 80.000 Bände und sollte mit anderen Bibliotheken in der Region vernetzt werden.

HK: Aber es sind ja nicht nur die Bibliotheken im Berliner Raum, die zusammenarbeiten werden.

Schoeps: Nein, natürlich nicht. Es wird eine Graduiertenschule geben, Juniorprofessuren werden eingerichtet und es werden Gastprofessuren ausgeschrieben, so etwa am Moses-Mendelssohn-Zentrum, wo es künftig eine Gastprofessur für Israel-Studien geben wird. Es ist daran gedacht, Politologen und Historiker nach Potsdam einzuladen, die am Mendelssohn-Zentrum forschen, lehren und auch öffentlich präsent sein sollen.

HK: Verändert sich durch das neue Zentrum die Wissenschaftslandschaft in Deutschland, oder kommt es faktisch nur zu einer besseren Kooperation bestehender Einrichtungen?

Schoeps: Hier entsteht faktisch etwas Neues. So erhoffen wir uns, dass von dem im Aufbau befindlichen Zentrum Berlin-Brandenburg Impulse ausgehen und der Raum Berlin-Brandenburg für Studenten und Wissenschaftler aus aller Welt attraktiv wird.

HK: Und wie sieht die Kooperation mit Einrichtungen außerhalb der Region Berlin-Brandenburg aus?

Schoeps: Zusammenarbeit wird es geben mit Universitäten in Israel, den USA und einigen anderen europäischen Staaten. Kooperiert wird aber auch mit bestehenden Einrichtungen in Deutschland, so unter anderem mit dem Zentrum für Jüdische Musik in Hannover und einer entsprechenden Professur in Weimar, die gegenwärtig eingerichtet wird. Letzteres Beispiel zeigt, dass es nicht so sehr die klassische Judaistik sein wird, mit der sich das Zentrum beschäftigt. Im Mittelpunkt werden die so genannten Jüdischen Studien stehen, die an den deutschen Universitäten gegenüber der Judaistik in den letzten Jahren zunehmend an Gewicht gewonnen haben.

HK: Auch im Gutachten des Wissenschaftsrats ist davon die Rede, dass sich die auf das Judentum bezogenen Wissenschaften von den evangelisch-theologischen Fakultäten, wo sie in der Regel gegründet wurden, zunehmend abnabeln. Wie verschieben sich dadurch die Schwerpunkte der Fragestellungen?

Schoeps: Die Judaistik, wie sie in Deutschland in den fünfziger und sechziger Jahren entstanden ist, war von ihren Anfängen her philologisch und textorientiert. Mittlerweile haben sich die Schwerpunkte der Fragestellungen wegverlagert von der klassischen Judaistik, die steckengeblieben ist in der sterilen Interpretation von Texten - und es darüber verabsäumt hat, das Phänomen Judentum in seiner Vielfalt zu untersuchen und dessen Verflechtung mit der abendländischen Kultur zu vermitteln. Die Jüdischen Studien sind demgegenüber sehr viel gegenwartsbezogener und stärker kulturwissenschaftlich orientiert. Historische wie politische Fragestellungen werden an dem in Gründung befindlichen Zentrum künftig zunehmend stärker Beachtung finden.

HK: Wie kann das konkret aussehen?

Schoeps: Gegenwärtig fängt das Mendelssohn-Zentrum eine Kooperation mit der Universität in Zagreb an, wo ebenfalls ein Moses-Mendelssohn-Institut entsteht, das sich mit der Erforschung und Geschichte der Kultur der Juden in Südosteuropa befasst. Die verstärkte Hinwendung zu moderneren Konzepten signalisiert eine Neuorientierung einer Wissenschaftsdisziplin, die nicht nur vertiefende Erkenntnisse zu Fragen der jüdisch-christlichen beziehungsweise zur christlich-jüdischen Beziehungsgeschichte erwarten lassen, sondern Themen aufnimmt, die bisher nicht so sehr im Blickpunkt der Wissenschaft gestanden haben.

HK: Folgt daraus also eine weitere Emanzipation, wenn nicht Distanzierung von den christlichen Theologien, seien sie nun evangelisch oder katholisch?

Schoeps: Ich sehe keine Abnabelung von den christlich-theologischen Fakultäten. Die Theologien brauchen die Judaistik oder sagen wir besser Kenntnisse des Judentums. Aber auch hier vollziehen sich momentan Veränderungen, die Theologien gehen selbst neue Kooperationen ein. Auch diese Angebote müssen geprüft und gegebenenfalls stärker vernetzt werden. Die evangelischen Theologen an der Humboldt-Universität haben etwa zusammen mit den Kulturwissenschaftlern einen Studiengang "Kultur und Religion" entwickelt, der von den Studenten angenommen wird. Das ist eine sehr spannende Entwicklung.

HK: Einmal unabhängig von der Frage der strukturellen Einbindung einer akademischen Beschäftigung mit dem Judentum: Wie steht es derzeit um das Verhältnis zu den christlichen Theologen?

Schoeps: Für eine christlich-theologische Ausbildung bleibt der Erwerb gründlicher Kenntnisse der Hebräischen Bibel und ihrer religionsgeschichtlichen Einordnung eine der wichtigsten Voraussetzungen. Jeder angehende christliche Theologe, der sich mit dem schuldbeladenen Antagonismus von Kirche und Synagoge befasst, sollte in besonderem Maße motiviert sein, sich eine der christlichen Wahrheit gleichwertige jüdische Wahrheit zu erarbeiten. Dafür ist es notwendig, dass der Judaistik und den Jüdischen Studien an christlich-theologischen Fakultäten nach wie vor ein fester Platz eingeräumt wird.

HK: Und mit Blick auf welche Fragestellungen sind augenblicklich die Kontakte und Forschungskooperationen am intensivsten?

Schoeps: Bei der Exegese der jüdischen Bibel beziehungsweise des Alten Testaments geht es ja gar nicht anders. Sie reichen aber bis hinein in die Mitte der evangelischen und katholischen Theologien insgesamt.

HK: Wie ist es insgesamt um den christlich-jüdischen Dialog bestellt?

Schoeps: Was das jüdisch-christliche Beziehungsverhältnis betrifft, war man in mancher Hinsicht bereits weiter als gegenwärtig. Aber ich bin nicht wirklich pessimistisch, was die weiteren Entwicklungen angeht. Es ist, was das Gespräch zwischen Christen und Juden betrifft, doch einiges in Gang gekommen. Das christlich-jüdische beziehungsweise das jüdisch-christliche Gespräch wird auch am Neuen Zentrum eine ganz zentrale Rolle spielen. Dabei sollte es allerdings nicht bleiben. Es muss dringlich darüber nachgedacht werden, wie die Zusammenarbeit zwischen den Religionsgemeinschaften in Zukunft aussehen soll. Ich könnte mir auch vorstellen, dass man eine Akademie der drei monotheistischen Religionen gründet, die den christlich-jüdisch-muslimischen Trialog wesentlich befördert. Das ist allerdings Zukunftsmusik - und der Weg dorthin wohl noch weit.

HK: Was bedeutet die Etablierung eines Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg für die Einrichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät in Potsdam, als deren Standort zuletzt auch Erfurt und Erlangen im Gespräch waren?

Schoeps: Die Vorbereitungen zur Gründung einer Fakultät an der Potsdamer Universität stehen mittlerweile kurz vor einem Abschluss. Eine Fakultät allein für jüdische Theologie, wie ursprünglich angedacht, wird es allerdings wohl nicht werden, dafür ist die kritische Masse an Studenten und Lehrenden offenbar nicht groß genug. Notwendig wäre für eine solche Fakultät eine ausreichende Zahl von Rabbiner-Studenten und Professoren. Damit ist aber im Moment nicht zu rechnen. Im Gespräch ist deshalb gegenwärtig eine Fakultät für Jüdische Studien und religionsbezogene Wissenschaften - über die Formulierung wird noch diskutiert. Ein solches Konzept, so die Potsdamer Universitätsgremien sich dazu durchringen können, wäre breiter aufgestellt als das Konzept einer Jüdisch-Theologischen Fakultät. Die Jüdischen Studien, die es bereits an der Potsdamer Universität gibt, verstehen sich in der Regel ja auch als säkular und sind nicht konfessionsgebunden, sodass wir an dieser Fakultät verschiedene Zugänge haben werden.

HK: Das einende Band bestünde dann darin, dass es jeweils um auf die jüdische Religion bezogene Studien geht?

Schoeps: Da kommt noch einiges hinzu, wie zum Beispiel die Ausbildung der LER-Lehrer für Brandenburg. Daneben wird es dann aber auch eine theologische Abteilung mit konfessionsbezogenen Professuren geben, innerhalb derer auch Rabbiner ausgebildet werden. Entscheidend ist, dass die zu gründende Fakultät ein eigenes Promotions- und Habilitationsrecht hat, was gerade international sehr positive Effekte hätte.

HK: Wird durch das neue Zentrum für Jüdische Studien jetzt schon die - wie auch immer genau zu definierende - jüdische Theologie, also die wissenschaftliche Reflexion aus einer dezidierten Binnenperspektive des Glaubens, aufgewertet?

Schoeps: Ja, das ist anzunehmen. Es versteht ja keiner, wenn mehrere Zentren für Islamische Studien gegründet werden, aber es ein Zentrum für Jüdische Studien nicht geben soll. Es ist allerdings schon einigermaßen kurios, dass erst durch die Empfehlungen des Wissenschaftsrates, die den Aufbau akademischer Einrichtungen für islamische Theologie empfiehlt, es zur Gründung eines solchen Zentrums für Jüdische Studien kommt. Der Bund hat hier jetzt immerhin Einsicht in die Notwendigkeit entwickelt. Es kommt nun darauf an, was man daraus macht.

HK: Warum reichen die beiden bisherigen Ausbildungseinrichtungen, das Abraham-Geiger-Kolleg Potsdam und die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, nicht aus?

Schoeps: Es ist schon wichtig für das Abraham-Geiger-Kolleg, das für die Ausbildung von nicht-orthodoxen Rabbinern verantwortlich zeichnet, weitere Strukturen zu schaffen. Bisher waren es lediglich Kooperationen von Lehrenden unterschiedlichster Einrichtungen. Ich bin fest davon überzeugt, dass mit dem neuen Zentrum und der in Gründung befindlichen Fakultät die Möglichkeit eröffnet wird, an bisher verschüttete Traditionen anzuknüpfen. Abraham Geiger, Leopold Zunz, Leo Baeck und viele andere, die von einer jüdischen Theologie träumten, haben einst im Raum Berlin-Brandenburg gewirkt. An diese liberalen Traditionen wieder anzuknüpfen, ist äußerst sinnvoll - wobei in der geplanten Fakultät auch die konservativen jüdischen Strömungen mit von der Partie sein werden. In Heidelberg hat es bisher nur bedingt eine Rabbinerausbildung gegeben. Wie es aussieht, hat man dort vor, in Zukunft vor allem orthodoxe Rabbiner auszubilden.

HK: Wie berechtigt ist die gelegentlich geäußerte Sorge der Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien, die Berlin-Brandenburger Kooperation versuche, ihre liberale Ausrichtung zu monopolisieren?

Schoeps: Die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg hat ihre Verdienste. Das ist unbestritten. Dort werden neben der wissenschaftlichen Ausbildung Fachkräfte für die Gemeinden ausgebildet - beispielsweise Gemeindeangestellte und Religionslehrer. Allerdings hat man es möglicherweise verabsäumt, nach der Wiedervereinigung nach Berlin umzuziehen. Aber warum sollte es im Raum Berlin-Brandenburg jetzt zu einer Monopolisierung kommen? Das Gegenteil ist der Fall. Das Angebot wird bunter. Die Hochschule in Heidelberg und die Berlin-Potsdamer Aktivitäten werden nicht gegeneinander arbeiten, sondern sich in ihren Angeboten ergänzen. Studenten, ob sie nun Rabbiner werden wollen oder ganz normale Studenten sind, die sich aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse mit dem Judentum beschäftigen, werden künftig die Wahl haben, wo sie studieren wollen. Das kann Heidelberg sein, aber auch Potsdam. Was ist daran schlecht oder problematisch?

HK: Was spricht denn aus Sicht der Studierenden, die Interesse an einer wissenschaftlichen Reflexion des jüdischen Glaubens haben, für die Potsdamer Variante?

Schoeps: Ein Student sollte selbst entscheiden, wo er studieren will. Es zeichnet sich ab, dass diejenigen, die stärker an säkularen Inhalten interessiert sind, hier bestens durch die koordinierten Angebote bedient werden können. Das gilt übrigens auch für die Rabbiner-Studenten, die am Zentrum für Jüdische Studien neben der berufsorientierten Ausbildung beispielsweise sozialwissenschaftlich ausgerichtete Fächer belegen können, was bei einer normalen Rabbiner-Ausbildung nicht unbedingt der Fall ist, aber eine sehr sinnvolle Ergänzung zum Studium bilden kann. Worauf das Abraham-Geiger-Kolleg größten Wert legt, ist die wissenschaftliche Ausbildung der Rabbiner.

HK: Die wenigsten Gemeinden in Deutschland sind dezidiert liberal ausgerichtet. Werden die entsprechend ausgebildeten Rabbiner denn nach ihrem Studium auch Arbeit finden?

Schoeps: Ja, und zwar weltweit. Ob in Osteuropa oder in Südafrika: Überall ist ein Bedarf vorhanden.

HK: Welche Bedeutung spielen die bisherigen Hochschuleinrichtungen überhaupt für die jüdische Gemeinschaft und die einzelnen Gemeinden in Deutschland? Gibt es da einen regen Austausch?

Schoeps: Das muss man natürlich differenziert betrachten. Neben den Einrichtungen in Berlin, Potsdam und Heidelberg gibt es als Forschungs-Institute das Simon-Dubnow-Institut in Leipzig und das Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut in Duisburg, die selbstständige Wissenschaftseinrichtungen sind und locker mit den lokalen Universitäten zusammenarbeiten. In Erfurt wiederum gibt es einen Studiengang Jüdische Sozialarbeit. Sie können davon ausgehen, dass sämtliche dieser Einrichtungen eine gewisse Wirkung auf die jüdischen Gemeinden haben, und natürlich wirken sie auch in die Öffentlichkeit hinein. Wissenschaft vom Judentum im akademischen Elfenbeinturm - das wäre ein Albtraum!

HK: Was sind momentan aus Sicht der jüdischen Gemeinschaft die drängendsten gesellschaftlichen Themen in Deutschland?

Schoeps: Bei den gesellschaftsrelevanten Themen bleibt der Antisemitismus - leider - ein Dauerbrenner. Es ist schlicht und einfach nicht wahr, dass der Antisemitismus verschwunden ist. Der Bericht der vom Bundestag eingesetzten Experten-Kommission über Antisemitismus in diesem Land, vorgelegt Ende 2011, hat bestätigt, dass 20 Prozent der Deutschen latent antisemitisch und 60 Prozent latent anti-israelisch eingestellt sind. Das ist für die jüdische Gemeinschaft nicht gerade beruhigend, zumal diese Erscheinungen, einschließlich einer obsessiven Israel-Kritik à la Günther Grass, eben auch in hochgebildeten Kreisen Fuß gefasst haben. Mit allen diesen Fragen werden wir uns an diesem Zentrum, möglicherweise stärker im säkularen Teil der Jüdischen Studien, beschäftigen müssen. Für uns ist das aber auch ein Ansporn mehr, durch Forschung und Lehre dem verzerrten Bild vom Judentum und von Israel noch besser entgegenzuwirken.

HK: Und welche innerjüdischen Themen stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, nachdem die Gemeinden durch die Zuwanderung seit dem Fall der Berliner Mauer stark gewachsen sind?

Schoeps: Das wichtige innerjüdische Thema ist hier immer noch die Integration der russisch-jüdischen Zuwanderer in Deutschland und die Entwicklung der jüdischen Gemeinden infolge dieser Zuwanderung. Wir hatten jetzt 20 Jahre die Probleme der Zuwanderung, die inzwischen gestoppt worden ist. Da hat es in doppelter Hinsicht Integrationsprobleme gegeben: sowohl in die Gemeinden als auch in die Umgebungsgesellschaft. 230 000 jüdische Zuwanderer aus den GUS-Staaten, einschließlich ihrer nichtjüdischen Verwandten, fallen in der Migrantenszene dieses Landes kaum auf, aber die jüdischen Gemeinden verändern sie ganz gravierend. Das Moses-Mendelssohn-Zentrum hat dazu verschiedene Studien vorgelegt, auch im internationalen Vergleich. Über das Fortkommen der jungen Generation der Immigranten braucht sich niemand Gedanken zu machen, die meisten schlagen eine akademische Laufbahn ein und werden bald zur deutschen Mittelschicht gehören. Unter den älteren Immigranten, die hier oft keinen Anschluss mehr an den deutschen Arbeitsmarkt geschafft haben, droht hingegen Altersarmut. Hier ergibt sich zusätzlicher Handlungsbedarf für die Gemeinden vor Ort, und noch immer stehen ungeklärte Fragen im Raum, auch was die Gemeinde-Integration betrifft.

HK: Um welche Klärungen geht es dabei im Einzelnen?

Schoeps: Anders als beispielsweise in den USA, nehmen jüdische Gemeinden in Deutschland Menschen nur auf, wenn sie eine halachische Abstammung nachweisen können. Aber was ist mit einem Ehepaar aus der ehemaligen Sowjetunion, bei dem durch die Eheschließung der Partner qua nationaler Identität Jude oder Jüdin geworden ist? Ein solches Ehepaar hat Schwierigkeiten, in die Gemeinde aufgenommen zu werden. Gerade unter den GUS-Immigranten gibt es Menschen, die hoch motiviert sind, in den Gemeinden mitzuarbeiten, die aber eben keine wirkliche Chance für ihr Engagement bekommen, es sei denn über den religiösen Übertritt, den Giur. Diese Forderung wiederum stößt einen Teil dieser Frauen und Männer ab, und sie bleiben dann den Gemeinden komplett fern. Von den 230 000 Zuwanderern sind weniger als die Hälfte Mitglieder in den Gemeinden geworden. Hier wäre es wichtig, dass man Mittel und Wege findet zu helfen, dass alle einen Platz finden - was momentan nicht der Fall ist. Unkonventionelle Lösungen für ihre Aufnahme, wie eben in den USA und auch in manchen Gemeinden in Großbritannien, sind hier bedauerlicherweise viel zu wenig diskutiert worden.

HK: Was sind denn da die wichtigsten Erwartungen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland an die alten und neuen Hochschuleinrichtungen?

Schoeps: In erster Linie brauchen die Gemeinden Rabbiner, Kantoren und ausgebildete Gemeindeangestellte - wobei ich allerdings sehr skeptisch bin, was die Zukunft des Judentums in Deutschland angeht. Das hat in erster Linie zu tun mit den demographischen Entwicklungen, die sehr problematisch sind. Die Gemeinden altern gegenwärtig vor sich hin, die Sterberate ist siebenmal höher als die Geburtenrate. Eine Untersuchung der Hebräischen Universität in Jerusalem stellt fest, dass nur noch Gemeinden mit einer Mitgliederzahl von gegenwärtig rund 4000 Mitgliedern in 20 Jahren existieren werden. Das heißt, über 100 Gemeinden, die momentan in Deutschland existieren, werden verschwinden. Zumeist sind das kleinere Gemeinden, die in den letzten 20 Jahren in Deutschland entstanden sind.

HK: Angesichts der vielen Synagogen, die gebaut werden, entsteht in der Öffentlichkeit oft eher der Eindruck von einem aufblühenden jüdischen Leben in Deutschland ...

Schoeps: Das ist eine Scheinblüte. In 20 Jahren, das lässt sich prognostizieren, werden Synagogen in Deutschland leerstehen. Den Synagogen wird es ähnlich ergehen wie heute manchen Kirchen. Es müssen neue Konzepte gedacht werden. Sinnvoll wäre es, Gebäude zu errichten, die einen multifunktionalen Charakter haben, Gebäude also, die Flächen für Veranstaltungen, Gebetsräume und anderes beinhalten und unterschiedlich genutzt werden können.

HK: Werden diese Fragen auch Thema der wissenschaftlichen Reflexion sein müssen?

Schoeps: Selbstverständlich muss man sich diesen Fragen stellen. Das ist eine Aufgabe des Zentralrats der Juden, aber auch anderer Gremien. Wenn man diese angedeuteten Fragen nicht kritisch reflektiert, sehe ich überhaupt keine Zukunft für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland.

HK: Wird der Beitrag des Judentums zur kulturellen Identität hierzulande ausreichend gewürdigt?

Schoeps: Nein. Das ist eines der Hauptprobleme, mit denen ich mich seit vielen Jahren beschäftige. Deutsch-jüdische Geschichte müsste als integraler Bestandteil der deutschen Geschichte begriffen werden. Das wird bedauerlicherweise nicht von allen Historikern so gesehen. Das gilt ebenfalls für die deutsch-jüdische Literatur, die noch nicht den Platz gefunden hat, der ihr gebührt. Man denke allein an die Kämpfe, die man austrug, bevor die Düsseldorfer Universität nach Heinrich Heine benannt werden konnte.

HK: Ist es mit dem christlich-jüdischen Verhältnis besser bestellt?

Schoeps: Was das jüdisch-christliche Beziehungsverhältnis betrifft, war man in mancher Hinsicht bereits weiter als gegenwärtig. Aber ich bin nicht wirklich pessimistisch, was die weiteren Entwicklungen angeht. Es ist, was das Gespräch zwischen Christen und Juden betrifft, doch einiges in Gang gekommen.

HK: Anders gefragt: In einem Interview kurz vor dem Mauerfall haben Sie damals gesagt, dass sich eine bundesdeutsche jüdische Identität entwickeln könnte. Was ist daraus geworden?

Schoeps: Da habe ich mich geirrt. Die Zuwanderer machen inzwischen 90 bis 95 Prozent der Mitglieder in den Gemeinden aus und bestimmen heute weitgehend die Identität dieser Gemeinden. Das hat, versteht sich, nichts oder kaum mehr etwas mit dem deutschen Judentum von einst zu tun. Ich schließe allerdings nicht aus, dass es wieder zu einem neuen deutschen Judentum kommen kann. Aber es wird ein vollkommen anderes Judentum sein als das vor 1933.


Julius H. Schoeps (geb. 1942) ist Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien und emeritierter Professor für Neuere Geschichte (Schwerpunkt deutsch-jüdische Geschichte) an der Universität Potsdam. 1974 bis 1991 war Schoeps Professor für Politische Wissenschaft und Gründungsdirektor des Salomon-Ludwig-Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 6, Juni 2012, S. 285-290
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2012