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FRAGEN/004: Christentum sog Technologie-Zivilisation der Römer in sich auf - Interview mit Bernhard Irrgang (TU Dresden)


Dresdner Universitätsjournal Nr. 7. vom 19. April 2016

Christentum sog Technologie-Zivilisation der Römer in sich auf

TUD-Experten befragt: Technikphilosoph Bernhard Irrgang über das Verhältnis von Buchreligionen und Wissenschaften

Interview von Heiko Weckbrodt


Besonders in Ostdeutschland ist die Vorstellung weitverbreitet, der größte Feind der Wissenschaften sei die Religion. Das aber stimmt so pauschal überhaupt nicht, sagt der Dresdner TU-Technikphilosoph Prof. Bernhard Irrgang: Religionen haben über die Jahrtausende hinweg viele Menschen zu wissenschaftlich-technischen Höchstleistungen angetrieben. Und ohne die islamische Expansion wäre für Europa viel antikes Wissen ganz verloren gegangen. Unijournal-Mitarbeiter Heiko Weckbrodt hat Prof. Irrgang über das wechselhafte Verhältnis der drei größten monotheistischen Religionen - Christentum, Islam und Judentum - zu Naturwissenschaft und Technologie ausgefragt.


Unijournal: Sind Religion und Wissenschaft unvereinbar, wie manche sagen?

Prof. Bernhard Irrgang: Religion bezieht sich auf Einzelfälle, auf einzelne Propheten oder Taten. Die Naturwissenschaft kann mit Einzeldaten wenig anfangen: Sie braucht Gesetzmäßigkeiten. Insofern sind Religion und Naturwissenschaft von ihrer Methode her nicht geeignet, das jeweils andere Gebiet zu beherrschen. Es gibt aber inzwischen Fundamentalisten in allen Buchreligionen, die glauben, dass ihre Religion den alleinigen Schlüssel für die Interpretation der Natur und der ganzen Welt liefert. Den liberalen Anhängern aller drei Buchreligionen dagegen ist eben - anders als den Fundamentalisten - klar, dass Religion und Wissenschaft zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Welt und ihre Ursprünge sind, die auch zu Spannungen führen.


Unijournal: War und ist Religion in diesem Spannungsfeld eher Motor oder Bremse für die Wissenschaften?

Prof. Bernhard Irrgang: Traditionalismus und Konservativismus auch religiöser Provenienz können technischen Fortschritt behindern. Religionen haben andererseits seit Anbeginn der Zivilisationen immer wieder zu technologischen Höchstleistungen geführt. Denken Sie an die Tempelbauten in Mesopotamien, an die ägyptischen Monumentalbauten, an die Baubetriebe für die gotischen Dome oder an die mittelalterliche Kolonisation Europas, die von den Klöstern ausging. "Ora et labora" begründen eine Arbeitsethik, die im Christentum hochgehalten wird. Christliche Ethik (mit Ausnahme des koptischen Christentums, das stärker an den jüdischen Wurzeln orientiert bleibt) ist eher hellenistischen Quellen verpflichtet. Die Theologie war insofern im Mittelalter ein integrierender Faktor für die Wissenschaften, sie bremste erst im Spätmittelalter, als die Entwicklung in der Astronomie und in den experimentellen Naturwissenschaften in scheinbaren Widerspruch zur Schöpfungstheologie geriet.


Unijournal: Da wird jetzt vielleicht der eine oder andere an Galilei und seinen Streit mit dem Klerus erinnern...

Prof. Bernhard Irrgang: Von der Theologie als Führerin emanzipieren sich die Naturwissenschaften erst in der Neuzeit. Vor allem die Aufklärung und die Industrielle Revolution haben christliche Werte in Frage gestellt. Sie haben die nicht unbedingt erforderliche Verbindung mit feudalistischen Gesellschaftsstrukturen und die Großfamilie aufgelöst, haben die Produktion von den Heimen in die Fabriken verlagert. Eine Nebenbemerkung: Interessant ist, dass gerade dieser Trend jetzt wieder zurückgenommen wird: Das Homeoffice wird derzeit (wieder) zur zentralen Produktionsstätte der hypermodernen Technologie-Arbeitswelt. Der große Streit entstand durch den Darwinismus: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts glaubte man, gestützt auf die Bibel, dass Gott die Welt 6852 vor Christus geschaffen hat - und die Kreationisten glauben bis heute daran. Darwin, die Archäologen und später die Astrophysiker erklärten dagegen, dass die Welt viel älter ist. Irgendwann hieß es dann, unser Planet sei etwa 4,5 Milliarden Jahre alt. Wissenschaft und Theologie waren damit nicht mehr kompatibel, so meinten zunächst eine Reihe von Vertretern beider Seiten.


Unijournal: Wie hat sich im Islam das Verhältnis zu den Wissenschaften verändert?

Prof. Bernhard Irrgang: Auch im Islam gab es Phasen, in der die Blüte von Theologie, Naturwissenschaften und Religionen zusammenfiel - vor allem im 12. bis 14. Jahrhundert in Granada im maurischen Spanien und in Bagdad. Bemerkenswerterweise also nicht im Zentrum des Islams, in Arabien, sondern an der Peripherie, wo sich besonders tolerante Glaubensrichtungen ausbildeten und wissenschaftlich-technische Höchstleistungen förderten. Nachdem diese Zentren fielen oder zugunsten der fundamentalistischen Strömungen an Bedeutung verloren, begann ein gewisser Abstieg, was die Naturwissenschaften betraf. Dies hängt vielleicht mit Glaubenskriegen zusammen, die Europa nicht fremd waren, aber dort in die Aufklärung mündeten. Das sieht man ja auch heute immer wieder: Nicht Religion, sondern Fundamentalismus bremst die Entwicklung von Wissenschaft und Technik.

Aber Europa hat im Mittelalter durchaus vom Islam profitiert, in Wissenschaft und Technologie. Viele Schriften des Aristoteles zum Beispiel wurden Westeuropa erst durch die maurische Vermittlung wieder bekannt. Über arabische Vermittlung ist auch der Technologietransfer von Indien und China nach Europa gelaufen.


Unijournal: Und die jüdische Sicht auf Technik und Wissenschaften?

Prof. Bernhard Irrgang: Ähnlich wie der Islam war das Judentum in seinen Ursprüngen eine gegenüber Hochtechnologie eher feindlich eingestellte Wüstenreligion. Das auserwählte Nomadenvolk zog mit seiner Bundes-Lade durch die Wüste und verachtete die steinernen Tempel der Hightech-Zivilisationen in Ägypten und Mesopotamien (Kain und Abel; Turmbau zu Babylon). Auch, weil es erst gar nicht in der Lage dazu war, solche Tempel selbst zu bauen. Als Nomaden hatten die jüdischen Stämme zunächst auch kein besonderes Interesse an Astronomie und der Erstellung von Kalendern. Denn sie mussten als Händler - anders als die Stadtkulturen ringsum - kein Land bestellen und keine Bewässerungszeiten kennen. Erst David hob die jüdische Zivilisation auf das Niveau der anderen Hochkulturen. Erst dann haben sie einen Prachttempel und einen Palast erbaut für gut 500 Jahre. Dann kamen die Römer und haben den israelitischen Staat dem Boden gleichgemacht und die Juden in die Welt verstreut.

Die technikfeindliche Einstellung der Zionisten des 20. Jahrhunderts steht wohl in dieser Traditionslinie, ihre Konzentration auf die Ursprünge als Wüstenreligion. So weigert sich der zionistische New Yorker Jude der Gegenwart immer noch, samstags den Fahrstuhl oder das Auto zu benutzen.


Unijournal: Gibt es aus ihrer Sicht einen besonderen religiösen oder theologischen Grund, dass es ausgerechnet die christlichen Völker vermochten, ihre Herrschaft global derart auszudehnen bis hin zum weltumspannenden Kolonialismus der Neuzeit?

Prof. Bernhard Irrgang: Die Gründe waren hier eher weniger religiöser Natur. Es waren jahrhundertelang vor allem altrömische Herrschaftstraditionen im militaristischen und juristischen Bereich, die Westeuropa, dem Papsttum und auch dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation das Siegel aufgeprägt haben: Aufs Militär setzen und erst dann die Pax Romana, der Friede des Siegers. Rom stand eben für eine Technologie-Zivilisation, die weniger auf Wissenschaft gesetzt hat, sondern vielmehr auf pragmatische Technologien: auf Landwirtschaft, Schifffahrt, Militär, Mechanik... All das hat das Christentum im Westen (nicht im orthodoxen Christentum) in sich aufgesogen und ist so die wohl technologiefreundlichste Religion geworden. Die Reformation war dann noch individualistischer und beförderte noch stärker die Wissenschaften.


Unijournal: Der europäischen Expansion sagt man ja nach, dass sie generell sehr technologiegetrieben gewesen sei, dass sie vor allem durch überlegene Feuerwaffen und Schiffe so erfolgreich war.

Prof. Bernhard Irrgang: Die Feuerwaffe kam durch arabische Vermittlung von China nach Europa. Das technologische Ausgangsniveau war am Beginn der Neuzeit für alle also zunächst eher gleich, im Mittelalter eher zu Ungunsten von Europa. Aber die entscheidende Weiterentwicklung des Schießpulvers am Ende des Mittelalters zur militärisch überragenden Kanone kam eben erst in Europa zustande. Ähnlich war es mit dem wichtigen Rahsegel der spätmittelalterlichen europäischen Schiffe, das aus dem ursprünglich arabischen Dau-Segel entstand. Durch dieses Dreieckssegel konnten die Schiffe plötzlich auch gegen den Wind segeln. Was dann aber ganz besonders die europäischen Entdeckungsfahrten ausgelöst hat: Durch die islamische Eroberung von Konstantinopel wurden die traditionellen Handelswege nach Indien und Fernost gekappt. Deshalb mussten die Europäer einen neuen Weg nach Indien über den Atlantik suchen. Zuerst waren die Neugier und ökonomischer Druck, dann folgten Kolonialisierung und Missionierung.


Unijournal: Aber auch in anderen Zeiten und in anderen Kulturen wurden immer wieder mal Handelswege zerschnitten. Doch nur das sogenannte christliche Abendland hat darauf so aggressiv und dynamisch reagiert. Gibt es vielleicht doch ein besonderes Tech-Gen im Christentum?

Prof. Bernhard Irrgang: In der christlichen Religion selbst liegt ein solcher Impetus nicht, sie ist an ihrem Ursprung zutiefst weltflüchtig. Dass Europa so schlagkräftig geworden ist, liegt daran, dass das westliche Christentum die hellenistisch-römische Ethik, Philosophie und Naturwissenschaft übernommen hat. Dies war auch ein Erbe des Hellenisten Paulus. Er war Jesus nie begegnet, brauchte aber etwas Handfestes für seine ersten Missionsreisen. Da hat er sich auf seine eigene hellenistische Bildung, auf seine griechischen Tugend- und Wissenschaftsideale besonnen - und sie in die entstehende Kirche hinein vermittelt.

Europa ist nicht charakterisiert durch ein Technologie-Gen, sondern durch drei Wurzeln: ein hellinteressiertes Christentum, Rückbesinnung auf die Antike im Renaissance-Humanismus und durch die Aufklärungsbewegung als Antwort der Wissenschaft auf die Glaubenskriege. So erhielt das Christentum die Möglichkeit, sich selbst vernünftig zu reinigen. Das christliche Abendland scheint mir ein höchst komplexes Phänomen und die hier gestellte Frage ein interessanter Schlüssel für dieses zu sein.


Ein Literaturhinweis: B. Irrgang: Religion und Technologie. Anmerkungen zu einem eher verdrängten Problem; in: ET (European Theology) Studies 1/1 2010, 3-24


Prof. Dr. Dr. Bernhard Irrgang wurde 1953 geboren. Er studierte Philosophie, katholische Theologie, Germanistik und Indologie in Würzburg, die ersten beiden Fächer auch in Passau und München. Seit 1993 ist er Professor für Technikphilosophie an der TU Dresden. In seiner Freizeit bastelt und repariert der 62-Jährige Modelle historischer Segel- und Dampfschiffe.

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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 27. Jg., Nr. 7 vom 19.04.2016, S. 4
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
Nöthnitzer Str. 43, 01187 Dresden
Telefon: 0351/463-328 82
Telefax: 0351/463-371 65
E-Mail: uj@tu-dresden.de
Internet: www.dresdner-universitaetsjournal.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2016

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