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FORSCHUNG/027: Forschung in 'fremder' Kultur (spektrum - Uni Bayreuth)


spektrum 2/07 - Universität Bayreuth

Religionswissenschaftliche Forschung in 'fremder' Kultur

Von Monika Schrimpf


Religionswissenschaft in Bayreuth

Die Religionswissenschaft ist an der Universität Bayreuth Teil der Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Sie hat ihre Forschungsschwerpunkte überwiegend im Bereich der Europäischen Religionsgeschichte und der religiösen Gegenwartskultur in Europa. Doch lässt sich Religionswissenschaft nur sinnvoll betreiben, wenn neben verschiedenen historischen Epochen auch unterschiedliche Religionen und Kulturen vergleichend untersucht werden. Deshalb wird die Religionswissenschaft ganz überwiegend als eine Kulturwissenschaft verstanden. In der Bayreuther Religionswissenschaft wird die vergleichende Fragestellung zum einen durch Forschungen zu afrikanischen Religionen, zum anderen durch religionswissenschaftliche Studien in Ostasien, insbesondere in Japan, berücksichtigt. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf der gegenwartsbezogenen Religionsforschung. Monika Schrimpf, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Religionswissenschaft II, widmet sich dem letztgenannten Bereich. Mit ihrer Forschung zu Neureligionen im gegenwärtigen Japan ergänzt sie das Gegenwartsprofil des Lehrstuhls, dessen Inhaber Christoph Bochinger sich vor allem mit Formen moderner Religiosität und Spiritualität in Deutschland bzw. Europa auseinandersetzt. Entsprechend dem Verständnis der Religions- als Kulturwissenschaft wird "Religion" als Teilbereich eines kulturellen Systems verstanden. Religionen sind nach dieser Auffassung Symbolsysteme, die jeweils von einer Gruppe von Menschen übereinstimmend als umfassender Ausdruck ihrer Wirklichkeitssicht verstanden werden.

Anders als in der älteren Fachtradition üblich, wird in der kulturwissenschaftlich orientierten Religionswissenschaft nicht mehr ein Allgemeinbegriff von "Religion" im Singular konstruiert, dessen Inhalte man in verschiedenen Kulturen aufzufinden versucht. Sondern man geht eher davon aus, dass Religionen in Abhängigkeit vom jeweiligen kulturellen Kontext höchst verschieden strukturiert sind. Gegenstand des Fachs ist daher nicht "die" Religion, sondern es sind "Religionen" im Plural. Damit stellt sich aber die Frage nach der transkulturellen Vergleichbarkeit von Religionen. In der Religionswissenschaft spielen daher interkulturelle und kulturvergleichende Fragestellungen eine zentrale Rolle.


Welche interkulturellen Fragen stellen sich in der Religionswissenschaft?

Religionswissenschaftlerinnen *) bewegen sich in verschiedener Hinsicht "zwischen den Kulturen" - so der Titel eines Symposions, das auf den Kultursoziologen Joachim Matthes zurückgeht:

a) Die untersuchte Religion unterscheidet sich grundlegend von der eigenen religiös-kulturellen Vorprägung, was zu Missverständnissen und Fehldeutungen Anlass gibt. Insbesondere ergibt sich dadurch eine bestimmte Perspektivität. Sie äußert sich in der Neigung, in die untersuchte Religion 'vertraute' Muster, z.B. ein individuelles Verhältnis zwischen Mensch und personalem Gott, einzulegen.

b) Da auch die religionswissenschaftliche Fachsprache aus einem europäischen religiös-kulturellen Kontext erwachsen ist, fehlen häufig adäquate sprachliche Mittel zur Beschreibung außereuropäischer Gegebenheiten, und zwar sowohl auf der Ebene der Gegenstände wie auch der Kategorien, die zu ihrer Deutung herangezogen werden. Mit diesem Problem haben nicht nur europäische, sondern genauso auch asiatische Religionswissenschaftlerinnen zu kämpfen, und zwar in doppeltem Maße: Zum einen wird mit dem 'Import' der westlichen Wissenschaftssprache auch die genannte Diskrepanz zu (anderen) außereuropäischen Forschungsgegenständen übernommen. Zum andern steht die religionswissenschaftliche Fachterminologie aufgrund ihrer Kontextgebundenheit häufig auch nicht im Einklang mit dem alltagssprachlichen Wortgebrauch in ihrer eigenen Kultur. Entsprechend können Alltags- und Wissenschaftssprache weit auseinanderklaffen, selbst wenn sie dieselben Begriffe benutzen. Daher stellt sich für asiatische religionswissenschaftliche Studien zusätzlich die Frage, ob mit der Übersetzung wissenschaftlicher Kategorien in ihre jeweiligen Sprachen auch eine Interpretation im Sinne einer Angleichung an die lokalen Gegebenheiten stattgefunden hat.


'Kultur' ist daher - wie J. Matthes zu Recht feststellt - eine relationale Größe, die sich jeweils im Verhältnis zur Kultur des Beobachters, also abhängig von seiner Perspektive konstituiert. Gleiches gilt für Religionen als spezielle Formen kultureller Deutungssysteme. Daraus ergeben sich für die Forschungspraxis zwei gewichtige Fragen:

(1) Ist es überhaupt möglich, die Wirklichkeitsstrukturierungen und -deutungen einer spezifischen religiösen Tradition zu verstehen, ohne sie an die aus der 'eigenen' Tradition vertrauten Sprach- und Denkmuster anzugleichen?

(2) Wenn ja, wie kann man die Sprache dieser Tradition in die der eigenen Kultur übertragen? Oder sind kulturelle Bestände grundsätzlich 'unübersetzbar'? Die Frage nach der Übersetzbarkeit stellt sich sowohl für die religiöse Alltagssprache als auch für die Wiedergabe des Beobachteten in der Wissenschaftssprache.

Es ist sehr interessant zu analysieren, wie Wissenschaftler aus nicht-europäischen kulturellen Kontexten mit diesen Fragen umgehen. Ethnologen wie der Japaner Tamotsu Aoki bejahen die erste Frage: Für ihn war der thailändische Theravada-Buddhismus verständlich, solange er sich selbst innerhalb des religiösen Systems und seiner Sprache bewegte. Probleme tauchten erst auf, als er versuchte, seine Einsichten in japanischer Sprache wiederzugeben. Dabei musste er feststellen, dass er für wesentliche Begriffe keine japanischen Äquivalente fand. So fand er die vielfältigen Bedeutungsnuancen der thailändischen Bezeichnung "phra" ("Mönch") im japanischen Äquivalent "so" nicht wiedergegeben. Die eigentliche Problematik besteht für ihn daher in der Übersetzung, nicht im Verstehen.

Wenn also das Verstehen anderer Religionen nicht generell unmöglich ist, so ist der Weg dorthin doch ein beständiger Lernprozess. 'Methodisch' greifen Religionswissenschaftlerinnen dabei überwiegend auf die Verfahren der Ethnologie, der Sozialwissenschaften oder der Philologie zurück. Eine Besonderheit ihres Gegenstandes besteht darin, dass Religionen zwar als kulturelle Systeme verstanden werden, aber nicht notwendig mit einer geographisch mehr oder weniger genau zu umreißenden 'Kultur' assoziiert werden können. Seit jeher sind religiöse Traditionen gewandert und in verschiedenen 'Kulturen' heimisch geworden. Religiöse Gemeinschaften oder Strömungen stehen daher zumeist in (mindestens) zweierlei kulturellen Kontexten, die sich wechselseitig beeinflussen. Das ist zum einen der Kontext der lokalen Traditionen, in die sie eingebettet sind; zum anderen derjenige der sogenannten 'großen Traditionen', d.h. der religiösen Traditionen, aus denen sie erwachsen sind bzw. denen sie zugehören. Das Wechselspiel zwischen diesen beiden Kontexten zeigt sich beispielsweise in Prozessen der 'Indigenisierung' religionsspezifischer Termini durch ihre religionsübergreifende Anwendung. Ein Beispiel ist die Verwendung (und Umdeutung) der buddhistischen Bezeichnung für "Karma" bzw. karmische Bedingtheit (jap. innen) in der japanischen Neureligion Tenrikyo trotz ihrer shintoistischen Verwurzelung. Sie ergänzt die Dimension des individuellen "Karma" (innen) um die des "ursprünglichen Karma" (moto no innen) und stellt einen Zusammenhang mit dem Wirken ihrer Gottheit her. Religiöse Terminologie, aber auch religiös-rituelles Handeln können daher sowohl auf den kulturübergreifenden Kontext der religiösen 'Dachtradition' als auch auf ein lokales Repertoire religiöser Vorstellungen oder Handlungen verweisen. Dieses Wechselspiel von lokaler und kulturübergreifender kultureller Prägung macht den spezifischen Charakter lokaler Religionsgeschichten und 'Religiositäten' aus und erfordert von der Wissenschaftlerin, sich mit beiden Kontexten vertraut zu machen.


Ein Beispiel interkultureller Forschungspraxis

Betrachten wir im Folgenden, wie sich diese Problematik in der konkreten Forschungspraxis niederschlägt. Als Beispiel dient dabei die Forschung zu japanischen Neureligionen der Gegenwart. Der erste Schritt auf dem Weg zum interkulturellen Verstehen besteht darin, sich die Sprache der religiösen Tradition, also Japanisch, sowie das religionsspezifische Vokabular der betreffenden Religionsgemeinschaft anzueignen. Gerade auf dieser Ebene zeigt sich, wie sich eine Gemeinschaft durch die Integration und Umdeutung alltagssprachlicher oder aber buddhistischer / shintoistischer / christlicher Begriffe innerhalb der genannten Kontexte positioniert. So bezeichnet etwa die esoterisch-buddhistische Neureligion Shinnyo-en ihre zentrale Praxis als 'sesshin shugyo'. Der Terminus 'sesshin' benennt üblicherweise die Zen-buddhistische Praxis, sich über einen längeren Zeitraum ausschließlich der Meditation zu widmen. Demgegenüber kennzeichnet 'shugyo' jede Anstrengung, die auf die Verwirklichung eines bestimmten religiösen Ideals zielt. Defacto wird der Begriff aber primär mit buddhistischen Übungen verbunden. Die Begriffe evozieren die Erwartung einer anstrengenden, länger dauernden Meditationspraxis. Tatsächlich aber sehen sich die Shinnyo-en-Gläubigen für wenige Minuten einem Medium (reinosha; "Mensch mit spirituellen Fähigkeiten") gegenüber, das ihnen - so das religionsinterne Verständnis - ihre karmische Disposition widerspiegelt, indem er / sie "Hinweise" aus der Welt der Ahnen bzw. der Welt Buddhas weitergibt. Während die erste Deutung im Kontext einer buddhistischen Weltsicht verbleibt, knüpft die Gemeinschaft mit der zuletzt genannten Deutung an das religionsübergreifende Repertoire japanischer Religiosität an. Seitdem Altertum und bis in die Gegenwart ist der vermittelte Kontakt zu Verstorbenen oder anderen 'Geistern' eine verbreitete Praxis in Japan. Sie ist sowohl in 'volksreligiösen' Praktiken und in buddhistischen (v.a. esoterisch-buddhistischen) Traditionen, als auch im shintoistischen Kontext beheimatet. Die terminologische Bezeichnung für die zentrale Praxis der Gemeinschaft schließt somit an den Kontext der "großen Tradition" Buddhismus an, insbesondere den Bereich der Meditationspraxis. Demgegenüber verweist die tatsächlich durchgeführte Praxis auf eine allgemeine Dimension religiösen Lebens in Japan, die zwar im Ritus des esoterischen Buddhismus eine besondere Ausprägung erfahren hat, aber keinesfalls auf diesen buddhistischen Bereich beschränkt ist.

Hält man sich nun bei der Übersetzung an die 'Wörterbuchbedeutung' der Termini, so kann man 'sesshin shugyo' beispielsweise als "Meditationsübung" wiedergeben. Diese Bedeutung entspricht aber nicht dem Verständnis derjenigen, die die Übung praktizieren. Eine angemessene Übersetzung kann also nur darin bestehen, die Deutung dieser Praxis anhand der Aussagen der Betroffenen zu rekonstruieren und innerhalb der relevanten Kontexte zu beschreiben. Übersetzung als eine Form der Erklärung 'fremdkulturellen' bzw. -religiösen Handelns und Denkens besteht also nicht darin, Äquivalente in der eigenen Sprache zu finden. Vielmehr geht es darum, das Beobachtete durch Kontextualisierung in der Kausalität, die es für die jeweiligen Akteure besitzt, darzustellen. Diese selbst zu Wort kommen zu lassen ist dabei ein geeignetes Mittel, um die durch die eigene kulturelle Prägung der Forscherin bedingte Einseitigkeit der Darstellung aufzubrechen.

Das Forschungsziel einer kulturvergleichenden Religionswissenschaft ist es daher nicht, die untersuchte 'fremde' Kultur bzw. Religion in Gänze "verstehen" zu wollen. Das kann schon deshalb nicht das Ziel sein, da weder Kulturen noch Religionen homogene Einheiten mit eindeutig bestimmbarer Bedeutung sind, sondern aus einer Vielzahl individueller und teilweise heterogener Bedeutungszuschreibungen bestehen. Der Philosoph Jacques Derrida hat mit Recht darauf hingewiesen, dass "Verstehen" in dem genannten Sinne nur bedeuten kann, das (vermeintlich) Fremde zu "vereinnahmen", seine Kategorien in die eigenen umzubiegen. Dafür gibt es in der Geschichte der Religionswissenschaft zahlreiche Beispiele, etwa die Beschreibung des Buddhismus als "atheistische Religion" im Sinne der Philosophie von Schopenhauer oder Nietzsche. Ebenso wäre das Ziel zu kurz gegriffen, wenn es nur um das Erlernen interkultureller Techniken ginge, um auf einer oberflächlichen Ebene Missverständnisse zu vermeiden und "Common Sense" zwischen den Kulturen zu ermöglichen. Dieser klärende Effekt stellt sich erfahrungsgemäß von selbst ein, wenn Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Prägung gemeinsam an einem Gegenstand arbeiten. Vielmehr geht es um eine sorgfältige Analyse der Verstehensvoraussetzungen. Dazu gehört zum einen die Ergründung der jeweiligen Kontexte sprachlicher und anderer kultureller Äußerungen - wie oben am Terminus 'sesshin-shugyo' skizziert -, zum anderen das fortlaufende Bemühen, die eigenen Kategorien auf kulturbedingte Prägungen zu hinterfragen. Der Lohn der Arbeit an der 'fremden' Kultur besteht darin, den Blick der 'Anderen' kennen zu lernen, und darüber eine neue Perspektive auch auf die eigene Kultur zu gewinnen.


*) Die weibliche Endung wird hier stellvertretend für beide Geschlechter verwendet.


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Quelle:
spektrum 2/07, Seite 52-55
Herausgeber: Der Präsident der Universität Bayreuth
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"spektrum" erscheint dreimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2007