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STANDPUNKT/089: Zivilisierung der Religion als Selbstbegrenzung (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2011

Zivilisierung der Religion als Selbstbegrenzung

Von Friedrich Wilhelm Graf


Soll religiöser Glaube mit einer freiheitlichen politischen Ordnung kompatibel sein, muss er sich selbst zivilisieren. Das ist in erster Linie eine religiöse Aufgabe. Doch wie kann sie begründet und umgesetzt werden?


Die Sprachen der in Europa wirkmächtigen monotheistischen Religionen sind äußerst gefährlich. Von ihnen gilt besonders stark, was sich an allen religiösen Symbolsprachen beobachten lässt: Die zentralen Vorstellungen, Symbole und Begriffe religiöser Sprache sind überaus interpretationsoffen, geprägt von hoher Vieldeutigkeit und Ambiguität. Fortwährend ist hier von meta-empirischen - manche sagen: nur fiktiven, eingebildeten, gar nicht existenten - Akteuren die Rede, von Gott, den Engeln, der Macht des Bösen, dem Teufel, dem Propheten oder auch dem Heiligen Geist. All diesen Akteuren, allen voran natürlich Gott, wird in religiösen Sprachspielen eine überaus starke Handlungskraft zuerkannt. Zugleich gewinnen diese Akteure in den Herzen der Menschen eine starke psychische Bindungsmacht. In aller Regel bestimmen Glaubensgewissheit und Orthopraxie fromme Menschen sehr viel stärker als bloß weltliche Orientierungen und Interessen. Das ist das Faszinierende der Religion, aber zugleich auch das Gefährliche. Weil religiöser Glaube fortwährend von Transzendenz handelt, weist er immer über das hier und jetzt Gegebene hinaus, in ein Jenseits der politisch-sozialen Welt. Deshalb lässt sich Religion nur sehr schwer domestizieren. Versuche, sie von außen, etwa durch politische Institutionen, zu kontrollieren und zu steuern, waren und sind zumeist nur kontraproduktiv, erregen sie doch nur den Zorn der besonders Frommen und stärken so die Religion. Religion ist nun einmal eine eigenständige "Geschichtspotenz" (Jakob Burckhardt). So kann Religion nur durch Religion domestiziert werden. Analog gilt: Soll religiöser Glaube mit einer freiheitlichen politischen Ordnung kompatibel sein, muss er sich selbst zivilisieren. Dies ist primär aber keine politische Aufgabe, sondern eine religiöse. Die im Interesse einer freiheitlichen politischen Ordnung erwünschte Selbstzivilisierung von Religion kann, wenn überhaupt, nur aus der Eigenlogik der religiösen Überzeugungen und Symbole begründet und durchgesetzt werden.


Ambivalenz und Gefährlichkeit der Macht

Die Einsicht in die elementare Gefährlichkeit religiösen Glaubens gilt gerade auch für das Christentum bzw. die verschiedenen Christentümer. Denn hier ist, nicht anders als im Judentum und in den islamischen Überlieferungen, viel von einem Gott die Rede, der als allmächtig vorgestellt und theologisch gedacht wird. Sonntag für Sonntag sprechen Christen aller Konfessionen in ihren Gottesdiensten das apostolische Glaubensbekenntnis. Wie in den meisten anderen altkirchlichen Symbolen wird im Apostolicum nur ein einziges Gottesprädikat genannt: allmächtig. "Ich glaube an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden". Diese Vorstellung vom allmächtigen Schöpfergott stammt aus der Hebräischen Bibel bzw. dem Alten Testament, findet sich aber auch in zahlreichen Texten des Neuen Testaments. Auch in anderen antiken und spätantiken Religionskulturen gilt der allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erden als das Herrschaftssubjekt par excellence. Genau darin liegt jedoch eine große Gefahr. Denn Allmacht ist ein hoch ambivalentes, überaus problematisches und bedrohliches Wort. Schon Macht ist ein Begriff, mit dem man aus guten freiheitsdienlichen Gründen ebenso prägnant wie behutsam umgehen muss. Macht bedarf der permanenten Kontrolle, damit sie nicht von wem auch immer missbräuchlich ausgeübt wird. Mit Max Weber lässt sich Macht als die Chance definieren, seinen Willen durchzusetzen, auch gegen mögliche Widerstände anderer. Macht ist die Fähigkeit, anderen meinen Willen aufzuzwingen. So hat Macht sehr viel mit unüberwindlicher Durchsetzungskraft, hartem Zwang und Machtgefälle zu tun. Deshalb sollte man niemals von Macht reden, ohne ihre Ambivalenz und Gefährlichkeit zu betonen. Noch sehr viel stärker gilt dies für die zur Allmacht gesteigerte Macht. Allmacht ist noch sehr viel gefährlicher als nur Macht, gleichsam allgefährlich. Denn dieses religiöse Potenzwort ganz eigener Art eröffnet einen Vorstellungsraum vielfältiger Entgrenzung.

Allmacht meint: absolute Macht, ins Unendliche gesteigerte Macht, Macht, über die hinaus nichts Mächtigeres gedacht werden kann, also eine Macht, die nicht durch anderes, sondern, wenn überhaupt, nur durch sich selbst begrenzt werden kann. Vor dem "allmächtigen Gott", den Juden, Christen und Muslime auf je eigene Art verehren und anbeten, muss man sich deshalb fürchten. Genau dies tun Juden, Christen und Muslime: Immer wieder kann man bei ihren gelehrten Theologen lesen, der allmächtige Gott gebiete Gottesfurcht und Zittern. Und immer wieder haben religiöse wie politische Autoritäten und Herrscher mit Bezug auf die Allmacht Gottes ihre eigenen Machtansprüche begründen wollen, vor allem im Interesse der Stärkung ihrer Herrschaft: Indem sie ihre Macht von der Allmacht Gottes her legitimieren, suchen sie sie der Kontrolle der Beherrschten oder der Gläubigen zu entziehen. Gerade in politischer Hinsicht ist Gottes Allmacht schon deshalb eine so gefährliche Vorstellung, weil sie innerweltliche Macht als einen Repräsentationsort oder Ausdruck göttlicher Macht erscheinen und damit als unbedingt gültig, undiskutierbar verbindlich wirken lässt. Wenn weltliche Machthaber sich auf Gottes Allmacht berufen, wollen sie nur sich und ihre Macht absolut setzen.


Inkarnation statt Allmacht

So ist es erster, grundlegender Akt der Zivilisierung christlicher Religion, die Vorstellung von Gottes Allmacht kritisch zu relativieren. Innerhalb des ebenso reichen wie in sich widersprüchlichen christlichen Symbolsystems werden zahlreiche Vorstellungen Gottes tradiert, die zu seiner Allmacht in elementarer Spannung stehen. Besonders deutlich zeigen dies die christologischen Überlieferungen. Schon die Vorstellung von der Menschwerdung Gottes bedeutet eine fundamentale Revolution der religiösen Denkungsart. Denn Inkarnation meint: Gott negiert sich selbst, er wird zum anderen seiner selbst, er wird im Juden Jesus von Nazareth Mensch. Über die innere Logik dieser Inkarnation des einst höchsten, machtvollsten Wesens ist in 2000 Jahren Christentumsgeschichte immer heftig gestritten worden. Nicht selten haben kirchliche wie politische Autoritäten versucht, das glaubensrevolutionäre Element des Inkarnationsgeschehens abzuschwächen, um der Stärkung ihrer Macht willen. Inkarnation heißt: Gott will gar nicht allmächtig, er will menschlich sein. Und das ist ein Satz, der den Machtfantasien der Herrschenden jede theologische Legitimität bestreitet. Analoges gilt mit Blick auf die christliche Trinitätslehre, so wie sie unter dem starken Einfluss hellenistischer Philosophie in Fortschreibung der Inkarnationslehre entwickelt wurde. Man mag über das Recht der von Erik Peterson in scharfer Kritik an Carl Schmitt entfalteten These streiten, dass die Trinitätslehre primär der Absage an jede Form politischer Theologie, also theologischer Überhöhung der Herrschaft des Kaisers gedient habe. Aber deutlich ist: Hier wird in faszinierenden theologischen Denkspielen eine Selbstunterscheidung Gottes gedacht, die seine Menschenfreundlichkeit begründen soll.

Die genannten christlichen Beispiele implizieren keineswegs die Behauptung, dass es in jüdischen und muslimischen Überlieferungen keinerlei strukturanaloge Lehren der Selbstbegrenzung göttlicher Macht und Herrschaft gegeben hat. Sie sind jeweils in sich sehr viel reicher, auch widersprüchlicher als von außen zumeist gesehen wird. Auch kennen sie durchaus solche starken funktionalen Unterscheidungen von Religion und Politik, wie sie vor allem im frühneuzeitlichen Diskurs über ein konfessionsneutrales Naturrecht und in den Religionsdebatten der Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts zu entwickeln versucht wurden. Umgekehrt lassen sich stark autoritär orientierte Christentümer nennen, die dank ihrer Fixierung auf göttliche Omnipotenz nur kaum zwischen Politischem und Religiösem zu unterscheiden vermögen, allen voran die diversen, zumeist stark nationalistischen orthodoxen Christentümer. Auch lässt sich in den autoritären Kirchenstrukturen des römischen Katholizismus und hier speziell in der kultischen Überhöhung des Amtscharismas des Papstes nur wenig von jenem Geist der Freiheit spüren, der in Gottes Menschwerdung gründet. Wenn Gott selbst Mensch geworden ist, dann ist auch der Mensch neu definiert: nicht mehr Untertan eines allmächtigen Gottes, sondern berufen zur Freiheit. Demokratiekompatible und starke Kräfte einer pluralistisch liberalen Zivilgesellschaft können religiöse Akteure in genau dem Maße sein, in dem sie in ihren Symbolsprachen der Freiheit des Menschen Ausdruck geben. Hier lässt sich derzeit viel Glaubensstreit beobachten. Doch auf lange Sicht werden wohl auch die Autoritätssüchtigen, Eindeutigkeitsfixierten jene "offene Gesellschaft", die der Papst gern als "Diktatur des Relativismus" kritisiert, allen religiösen Gesinnungsdiktaturen des Absolutismus vorziehen - wegen der Faszinationskraft individueller Freiheit.


Friedrich Wilhelm Graf (* 1948) ist Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München. Als erster Theologe wurde er 1999 mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet.
ethik@evtheol.uni-muenchen.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2011, S. 21-23
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2011