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BERICHT/058: Was Schiiten und Sunniten unterscheidet (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 10/2006

Keine Annäherung in Sicht
Was Schiiten und Sunniten unterscheidet

Von Peter Heine


Neben der Mehrheit der Sunniten gibt es seit der Frühzeit des Islam die Schiiten als Minderheit, die im Mittleren Osten derzeit viel von sich reden macht. Die beiden muslimischen "Konfessionen" unterscheiden sich traditionell in ihren Ritualen und in der jeweiligen Stellung der Rechtsgelehrten. Mit politischen Allianzen zwischen Sunniten und Schiiten ist auch weiterhin nicht zu rechnen.


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Die Entführung eines israelischen Soldaten durch palästinensische Kräfte, hinter denen die sunnitische Hamas-Bewegung vermutet wird, und die Entführung zweier israelischer Soldaten durch die schiitische Hisbollah-Bewegung wurden von manchen Beobachtern als eine konzertierte Aktion gesehen. Hamas und Hisbollah wurden in den Medien in gleicher Weise als Teil des islamistischen Terrorismus beschrieben und als Gegner des Westens im Kampf gegen den internationalen Terrorismus herausgestellt. Die Begeisterung, mit der die Erfolge der Miliz der Hisbollah bei der israelischen Invasion in den Libanon in der arabischen Welt begleitet worden ist, hat gar dazu geführt, dass man von einer Annäherung zwischen Sunniten und Schiiten gesprochen hat.

Diese Erwartungen gingen einher mit Vorstellungen, wie sie vom jordanischen sunnitischen König Abdallah II. geäußert wurden, dass ein schiitischer Gürtel vom östlichen Afghanistan über den Iran und Irak bis in den Libanon im Entstehen begriffen sei. Er hätte auch noch Teile Nord-Indiens in dieses Schema einfügen können, und auch im Kaukasus leben Schiiten. Im Irak wird von vielen Experten eher mit berechtigter Sorge ein Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten prognostiziert. Wie so oft hat man es als Beobachter in der Beurteilung eines Phänomens in der islamischen Welt aber mit einer sehr komplexen Gemengelage zu tun.

Das Martyrium als Leitmotiv schiitischen Glaubens

Die Spaltung des Islams in eine sunnitische Mehrheit von über 80 Prozent und eine schiitische Minderheit, die wiederum in verschieden große Untergruppen aufgeteilt ist, geht auf die Frühzeit des Islam zurück. Nach dem Tod des Propheten Muhammad im Jahr 632 sah sich die junge, aber schon erfolgreiche muslimische Gemeinschaft dem Problem des Fehlens einer Regelung für die religiöse wie die politische und militärische Führung der Gläubigen gegenüber. Es schälten sich zwei Lager heraus, von denen das eine Ali ibn Abu Talib, den Schwiegersohn und Cousin des Propheten, als Kalifen (Stellvertreter) sehen wollte und das andere für Abu Bakr, einen alten Gefährten und Schwiegervater Muhammads, plädierte. Nach heftigen Auseinandersetzungen setzte sich schließlich Abu Bakr durch.

Man hat diesen Streit als eine Auseinandersetzung um ein dynastisches oder demokratisches Prinzip bei der Bestimmung der Kalifen interpretiert. Die Frage mag unbeantwortet bleiben. Jedenfalls waren auch Abu Bakrs Nachfolger Umar (634-644) und Othman (644-656) alte Kampfgefährten des Propheten, aber nicht mit ihm verwandt. Erst 656 kam Ali an die Macht. Diese Macht war aber nicht unumstritten. Es kam zu verschiedenen militärischen Auseinandersetzungen, bei denen sich schließlich der muslimische Statthalter von Damaskus durchsetzen konnte, der die erste erbliche Dynastie der islamischen Geschichte, die der Omayyaden von Damaskus (661-750), begründete. Ali wurde 661 durch einen früheren Anhänger ermordet.

Die Partei Alis (Arabisch: Schi'at Ali) hat sich nie mit der Tatsache einverstanden erklärt, dass kein Angehöriger der Familie des Propheten die politische Macht über die Gemeinde der Muslime erringen konnte. Sie betrachteten von Anfang an jede Herrschaft, die nicht von der Familie Muhammads in der islamischen Welt ausgeübt wurde, für illegitim, auch wenn es später Dynastien gegeben hat, die von Schiiten gegründet worden waren. Die Schiiten begründen den Anspruch auf die Herrschaft einer Person aus dem Haus des Propheten auf einige Koranstellen und verschiedene Prophetenaussprüche und historische Berichte, die vom Mehrheitsislam der Sunniten aber anders interpretiert werden.

Die Spaltung des Islams in Sunniten und Schiiten, die auch von der Mehrheit als eine schwere Heimsuchung (al-fitna al-kubra) betrachtet wird, wäre wohl nicht so permanent gewesen, wenn sich nicht im Jahr 680 eine Tragödie ereignet hätte. In der im heutigen Südirak liegenden Stadt Kufa hatte es einen Aufstand gegen die omayyadische Herrschaft gegeben. Die Rebellen hatten Hussein, den Enkel des Propheten, aus Medina um Hilfe gerufen. Dieser war mit einer kleinen Begleitung nach Kufa aufgebrochen und in der Nähe der heutigen Stadt Kerbela von omayyadischen Truppen gestellt worden. Bei dieser Auseinandersetzung fanden Hussein und seine männliche Begleitung den Tod. Die Frauen wurden gefangen genommen und nach Damaskus gebracht.

Dieses unter militärischen Gesichtspunkten eher nebensächliche Ereignis bekam für die islamische Religions-, Geistes- und politische Geschichte eine ungeheuere, bis heute andauernde Bedeutung. Mit den Ereignissen von Kerbela beginnt erst recht eigentlich die Entwicklung einer eigenständigen schiitischen Theologie wie der beeindruckenden schiitischen Rituale. Der Tod des Prophetenenkels Hussein wird in der Folgezeit zu einem Opfer stilisiert.

Nach schiitischer Überzeugung hat Hussein das Martyrium auf sich genommen, um die Sünden der Menschheit zu sühnen. Nach der schiitischen Tradition soll er mehrfach vor und während seines Marsches nach Kerbela vor dem ihn erwartenden Schicksal gewarnt worden sein. Zu den Warnern soll auch ein byzantinischer Offizier gehört haben, der von dem Opfermut Husseins so beeindruckt war, dass er sich der Gruppe anschloss und ebenfalls in Kerbela den Tod fand. Martyrium wird zu einem Leitmotiv des schiitischen Glaubens. Nicht nur Hussein, sondern alle weiteren Führer der schiitischen Gemeinschaft, die Imame, haben einen gewaltsamen Tod gefunden und werden als Märtyrer verehrt.

Neben dem Martyriumsmotiv entwickelt sich dann in der Schia auch eine messianistische Überzeugung. Diese hängt mit einer weiteren Besonderheit der schiitischen Vorstellungen zusammen. Danach sind die Imame, deren Reihe in der Regel mit dem Propheten Muhammad beginnt, für die schiitischen Gläubigen von herausragender Bedeutung. Diese Imame, die alle der Familie des Propheten angehören, verfügen über die besondere Fähigkeit, nicht nur die äußere Bedeutung des Korans zu kennen, sondern auch dessen innere Bedeutung. Daher sind sie in der Lage, den Gläubigen den rechten Weg zu weisen. Nach schiitischer Überzeugung ist ohne diese Führung durch den Imam die Seligkeit nicht zu erreichen. Daher wird das muslimische Glaubensbekenntnis "Es gibt keinen Gott außer Gott, und Muhammad ist der Gesandte Gottes" durch den Glaubensartikel" und Ali ist der Freund Gottes" ergänzt. Dabei steht der Imam Ali für die Reihe der Imame insgesamt.

Für Sunniten ist die Fortführung der Autorität des Propheten Muhammad durch die Imame nicht akzeptabel. Vor allem für fundamentalistische Denker wie den Gründer der wahhabitischen Form des Islams. Ibn Abd al- Wahhab (1703-1792), war die Imamats-Lehre gleichbedeutend mit dem, was das islamische Recht als "Beigesellung" (schirk) bezeichnet. Neben Gott werden nach dieser radikalen sunnitischen Vorstellung die Imame verehrt, was als eine Form von Polytheismus aufgefasst wurde. Weniger scharfe Kritiker waren immer noch der Meinung, die Ausnahmestellung des Propheten Muhammad werde durch die Lehre von den Imamen in Zweifel gezogen. Hier besteht ein heftiger theologischer Dissens zwischen Sunniten und Schiiten.

Die Rechtsgelehrten und ihre Hierarchie

Nach schiitischer Lehre ist immer ein Imam vorhanden, der die Gläubigen recht leitet. Die Kette der Imame ist jedoch an einer Stelle unterbrochen. Verschiedene schiitische Gruppen lassen diese Unterbrechung an unterschiedlichen Stellen eintreten. Für die Mehrheit ist das mit dem zwölften Imam der Fall. Sie werden daher als Zwölfer- Schiiten bezeichnet. Dieser zwölfte Imam ist im Jahr 874 in Samarra, einer Residenzstadt nördlich von Bagdad, verschwunden.

Für die Schiiten ist er aber nicht gestorben, sondern findet sich in der "Verborgenheit" (ghaiba). Dabei handelte es sich zunächst um eine "kleine" Verborgenheit, weil Personen auftraten, die vorgaben, mit dem verborgenen Imam in Verbindung zu stehen. Nach einigen Jahrzehnten brach die Kette dieser Vermittler zwischen den Gläubigen und dem Imam jedoch auch ab. Seit dem befindet sich der Imam in der "großen Verborgenheit".

Die Schiiten sind fest davon überzeugt, dass er eines Tages als Mahdi in die Welt zurückkehren wird, um ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens zu errichten. Erst wenn dieses tausendjährige Reich geendet hat, wird das Jüngste Gericht eintreten. Derartige Mahdi-Vorstellungen finden sich auch im sunnitischen Islam, doch sind sie sehr viel schwächer ausgebildet und nicht so stark im religiösen Bewusstsein verankert wie bei den Schiiten. Wie bei anderen Heilserwartungsbewegungen gab es auch bei den Schiiten zahlreiche Versuche, die Ankunft des Mahdi vorauszusagen.

Als Kriterien wurden dabei häufig negative politische oder gesellschaftliche Entwicklungen festgelegt. Wenn Tyrannen herrschen, wenn die Religionsgelehrten die Religion verfälschen, wenn es zu klimatischen oder anderen Katastrophen kommt, dann ist der Mahdi nahe. Solche messianischen Wehen haben in der schiitischen Geschichte oft zu einer lang anhaltenden Form von Quietismus geführt, der dann aber auch plötzlich in eine revolutionäre Aktion umschlagen kann. Das geschah immer dann, wenn eine Person auftauchte, die für sich in Anspruch nahm, der Mahdi zu sein.

Nachdem der zwölfte Imam in der "großen Verborgenheit" entschwunden war, bestand für die Gläubigen das Problem der fehlenden Rechtleitung. In einem längeren, komplizierten religionsgeschichtlichen Prozess entwickelten sich die schiitischen Rechtsgelehrten zu der Instanz, die die geistliche Betreuung der Schiiten stellvertretend für den verborgenen Imam übernahm. Sie erhielten nahezu die Autorität zugesprochen, die die Imame besaßen.

Nach der gegenwärtigen schiitischen Lehre muss jeder Gläubige einen Rechtsgelehrten haben, dem er bei seiner religiösen und alltäglichen Lebensgestaltung folgt. Er kann diesen Gelehrten frei wählen, ist in der Folge aber von dessen Anordnungen in jeder Hinsicht abhängig. Diese Autoritätsbeziehung endet erst mit dem Tod des Anhängers oder des Rechtsgelehrten. Wenn er dazu in der Lage ist, lässt er diesem Gelehrten eine besondere Abgabe zukommen, die von der Höhe seines Einkommens abhängig ist.

Die bedeutenden Gelehrten verwendeten diese oft nicht unbeträchtlichen Mittel für den eigenen Unterhalt, vor allem aber für den Unterhalt ihrer Studieneinrichtungen, für Stipendien für ihre Studenten und für die verschiedensten karitativen Zwecke. Zumindest bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts verfügten diese großen Gelehrten auch über eine eigene Miliz, die zu ihrem Schutz und dem ihrer Anhänger diente. Die heute im Irak operierenden schiitischen Milizen, aber auch die libanesische Hisbollah müssen auf solche Vorbilder zurückgeführt werden.

Da auch Rechtsgelehrte irgendwann einmal in einem Abhängigkeitsverhältnis von einem bedeutenden Lehrer gestanden haben, hat sich in der schiitischen Gelehrtenschaft im Unterschied zur sunnitischen so etwas wie eine Hierarchie entwickelt, in der man zunächst eine durchaus akademische Karriere machen und verschiedene wissenschaftliche Grade wie "Hujjat al-Islam" (Beweis des Islams) bis hin zum "Ayatollah" (Wunderzeichen Gottes) erreichen kann. Die religiöse Konnotation dieser im Grunde akademischen Titel ist deutlich. Zwischen den höchsten Gelehrten besteht eine schweigende Konkurrenz um den höchsten Rang in der Gelehrtenschaft, den des "Marja al-taqlid" (Quelle der Nachahmung).

Quietisten und Aktivisten

Mehrere Ayatollahs dieses Rangs kann es nicht gleichzeitig geben. Es gibt allerdings bis heute kein spezielles Wahlverfahren. Vielmehr entwickelt sich diese höchste Position in der schiitischen Gelehrtenhierarchie informell nach einem stillschweigenden Mehrheitsprinzip. Wenn also in absehbarer Zeit eine überwiegende Mehrheit der schiitischen Religionsgelehrten und ihrer Anhänger der Meinung sein sollte, dass der im Irak lebende Ayatollah Ali al-Sistani der neue Marja al-taqlid ist, dann würde eine normative Kraft des Faktischen wirken und die Krise der fehlenden Autorität des Marja al- taqlid, in der sich die schiitische Welt seit 1992 befindet, wäre zu Ende.

Die Mehrzahl der großen schiitischen Gelehrten war und ist sich der Problematik ihrer absoluten Autorität gegenüber ihren Anhängern sehr bewusst. Ihre Anweisungen an die Gläubigen sind daher in der Regel sehr vorsichtig formuliert, bestehen in der Regel eher aus allgemeinen Hinweisen und Anregungen. In die Tagespolitik haben sie sich in der Regel nur dann eingemischt, wenn sie schwerwiegende Bedenken gegen politische oder wirtschaftliche Entwicklungen hatten. Da sie jede Herrschaft außer der der Imame als illegitim ansehen, wahrten sie in der Regel eine große Distanz zu den Herrschenden. Häufig warnten sie die Gläubigen aber vor Ungehorsam gegenüber der Regierung.

Dieser quietistischen Tradition folgen auch heute noch zahlreiche bedeutende schiitische Gelehrte. Ihnen gegenüber stehen die aktivistischen Gelehrten, die in der Nachfolge des Ayatollah Khomeini im Iran der Überzeugung sind, dass die Rechtsgelehrten auch in der Tagespolitik bestimmende Funktionen haben sollten. Dieser Ideologie von der "Herrschaft der Rechtsgelehrten" folgt die derzeitige politisch-religiöse Elite im Iran.

Allerdings lassen sich hier immer wieder oppositionelle Positionen feststellen. Diese befürchten, dass die Autorität der Rechtsgelehrten angesichts der Entscheidungen in der alltäglichen Politik Schaden nehmen könnte. Politische Fehler, die als unvermeidliche angesehen werden, würden dann nicht einzelnen politisch agierenden Gelehrten zugeschrieben, sondern dem schiitischen Islam in seiner Gesamtheit. Befürchtet wird eine Abwendung vor allem der jüngeren Generation von der Religion insgesamt, die auch durch eine Verschärfung repressiver Maßnahmen nicht verhindert werden könne. Die Konsequenzen aus dieser Entwicklung seien für die iranische Gesellschaft insgesamt Besorgnis erregend. Der wahrscheinliche neue Marja al-taqlid, Ali al-Sistani, wird der Gruppe der quietistischen Gelehrten zugerechnet.

Der sunnitische Islam kennt diese ausgeprägte Hierarchisierung und Zentralisierung der Rechtsgelehrsamkeit nicht. Auch unter den Sunniten finden sich Rechtsgelehrte mit unterschiedlicher Autorität. Diese ist aber prinzipiell nicht mit der der schiitischen Gelehrten vergleichbar. Wenn ein schiitischer Gläubiger die Autorität eines Gelehrten anerkannt hat, muss er hinfort allen seinen religiösen, sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Rechtsgutachten (Fatwa) Folge leisten. Ein sunnitischer Gläubiger hat ebenfalls die freie Wahl des Rechtsgelehrten, den er um Rat fragt. Er muss sich aber an dessen Meinung nicht unbedingt halten. Bei einer anderen Frage kann er sich an einen anderen Gelehrten wenden, dessen Ansichten ebenso wenig absolut verbindlich sind wie die des ersten.

Spektakuläre Rituale des Totengedenkens

Neben diesen theologischen und rechtlich-seelsorgerischen Unterschieden sind es vor allem die verschiedenen Ritualformen, in denen sich Sunniten und Schiiten unterscheiden. Neben den gemeinsamen Ritualen von Gebet, Pilgerfahrt und Fasten und den beiden großen islamischen Festen, dem Fest des Fastenbrechens und dem Opferfest, kennt der sunnitischen Islam in seiner orthodoxen Form nur noch das Fest der Geburt des Propheten (maulid al-Nabi). Die Schiiten haben dagegen eine Reihe von besonderen Festen, deren wichtigstes "Aschura" ist, eine zehntägige Gedenkfeier des Todes von Hussein in Kerbela, die aus verschiedenen, teilweise spektakulären Einzelritualen besteht.

Das Todesgedenken wird durch die Rezitation der Leidensgeschichte begangen, Flagellanten-Umzüge finden statt und in Prozessionen und Passionsspielen werden die Ereignisse von Kerbela szenisch dargestellt. Diese Passionsspiele sind übrigens die einzige Form von dramatischer Literatur in der islamischen Welt, wenn man von den volkstümlichen Schattenspielen absieht. Die Feierlichkeiten werden vor allem von der einfacheren Bevölkerung mit inbrünstiger Anteilnahme begleitet. Moderne schiitische Gelehrte und Intellektuelle haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder einmal kritisch zu diesen Vollzügen geäußert, konnten mit ihrer Kritik aber nicht durchdringen. Sunniten haben diese Formen der Trauerbekundungen immer als exaltiert abgelehnt.

Wie so häufig bei konfessionellen Differenzen wirken sich auch die Konflikte zwischen den beiden muslimischen Konfessionen vor allem im Alltagsleben aus. Eine lange Tradition der gegenseitigem Beschimpfungen haben Verfluchungsrituale. Sunniten nutzen dabei die Formel: "Gott verdamme Ali", worauf die Schiiten mit einer ebensolchen Formel zur Verfluchung der drei ersten, der "rechtgeleiteten Kalifen" Abu Bakr, Omar und Osman antworten. Noch in den dreißiger Jahren gab es einen irakischen Politiker, der einen Zeitungsverkäufer, von dem er wusste, dass er Schiit war, regelmäßig fragte: "Bist Du Schiit oder Muslim?"

Sunniten werfen Schiiten zudem vor, dass sie das Lügen und die Prostitution erlauben. Im ersten Fall interpretieren sie so die so genannte "Taqiya" (Simulation). Schiiten dürfen ihre Religion verleugnen, wenn sie in Gefahr geraten, ansonsten getötet zu werden. Durch diese Regelung soll vermieden werden, dass sich Schiiten allzu bereitwillig dem Martyrium hingeben und so die schiitische Minderheit zahlenmäßig schwächen.

Die angebliche Erlaubtheit der Prostitution bezieht sich auf eine Besonderheit des schiitischen Rechts. Danach können nicht nur Ehen eingegangen werden, die auf Dauer angelegt sind, sondern auch solche, bei denen in den Eheverträgen die begrenzte Dauer der Verbindung von vorn herein festgelegt ist. Bei Auslaufen der vereinbarten Frist, die zwischen wenigen Stunden oder Tagen bis hin zu 99 Jahren dauern kann, erfolgt eine automatische Trennung. Eine spezielle Scheidung ist nicht mehr nötig.

Annäherungsbemühungen hatten bisher keinen Erfolg

In der Zeit des kalten Krieges wurde Schiiten von Sunniten auch gerne vorgeworfen, zum Kommunismus zu neigen. "Schii - Shuyui" (Schiit - Kommunist) war ein oft gehörter Slogan in den inter-konfessionellen Auseinandersetzungen. Obwohl einer der führenden Ayatollahs in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre festgelegt hatte, dass sich ein Schiit vom Kommunismus fernzuhalten hätte, gab es in der Tat etliche Mitglieder der Kommunistischen Parteien, die aus einem schiitischen Elternhaus stammten. In den Jahren zuvor war es immer wieder einmal dazu gekommen, dass sogar junge schiitische Rechtsgelehrte in die Sowjet-Union übergesiedelt waren. Diese Tendenzen mögen mit der Tatsache zusammenhängen, dass in vielen Ländern Schiiten eher den ärmeren und marginalisierten Teilen der Gesellschaft angehört hatten.

Auch im Iran, in dem seit 1501 die Schia Staatsreligion war, hatten die großen Schichten verarmter Bauern, Tagelöhner und Arbeiter in den sozialen, vor allem aber den messianistischen Aspekten der schiitischen Dogmatik und Ethik Hoffnung gefunden. Der Wechsel zu einer säkularen messianistischen Vorstellung, wie sie der Kommunismus darstellte, war also nicht so groß. Nicht ohne Grund war im Iran die kommunistische Tudeh-Partei immer eine starke politische Kraft. In sunnitisch geprägten Staaten war die vorherrschende säkulare Ideologie stattdessen immer die eine oder andere Spielart des Nationalismus.

Seit dem 19. Jahrhundert hat es hin und wieder Versuche gegeben, die beiden großen Konfessionen des Islams aneinander anzunähern. Dies geschah vor allem, um den Islam in seiner Auseinandersetzung mit dem modernen europäischen Kolonialismus zu stärken. Nennenswerte Erfolge haben diese Bemühungen aber nicht aufweisen können. Zu nennen wäre wohl nur, dass man vereinbarte, die wechselseitigen Schmähungen der Kalifen der früh-islamischen Zeit einzustellen. Die Gründe für die geringen Erfolge lagen teilweise in den politischen Bedingungen, unter denen diese Versuche stattfanden. Viele Staaten mit sunnitischer Bevölkerung neigten in der Zeit des Kalten Krieges den Blockfreien zu, der schiitische Iran stand dagegen fest auf der Seite der Westmächte.

Nach dem Sieg der Islamischen Revolution im Iran von 1979 bemühte sich der Iran um den Export seiner revolutionären Ideen, zu denen auch die Abschaffung von Monarchien wie denen in der Golfregion und der säkularen Regime anderswo in der islamischen Welt gehörte. Diese Versuche waren für die Politik der Annäherung zwischen den muslimischen Konfessionen nicht förderlich.

Diese politisch-strategische Situation hat sich im Grunde seit 1979 nicht geändert; im Gegenteil, die wahrnehmbaren Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten im Irak werden die Annäherungsversuche auf absehbare Zeit zum Erliegen bringen. Mit einer politischen oder militärischen Kooperation zwischen sunnitischen und schiitischen Staaten ist ebenso wenig zu rechnen wie zwischen den Milizen und Kampforganisationen von Sunniten und Schiiten im Nahen Osten.


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Peter Heine (geb. 1944), Dr. phil.; 1978 Habilitation für das Fach Islamwissenschaft; seit 1994 Professor für Islamwissenschaft des nicht- arabischen Raumes an der Berliner Humboldt-Universität; zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt "Schauplatz Irak. Hintergründe eines Weltkonflikts", Freiburg 2002; "Islam zur Einführung", Hamburg 2003.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
60. Jahrgang, Heft 10, Oktober 2006, S. 505-510
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den 16. Januar 2007