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BERICHT/067: Was die bosnischen Muslime modellhaft macht (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 2/2008

Brücke zur islamischen Welt
Was die bosnischen Muslime modellhaft macht

Von Hansjörg Schmid


Oft wird in den Diskussionen über einen "europäischen Islam" übersehen, dass es Muslime aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens gibt, die eine jahrhundertelange Erfahrung als Muslime in Europa mitbringen. Welche Anstöße geben bosnische Erfahrungen in Fragen des muslimischen Umgangs mit der Moderne und dem säkularen Staat? Worin sehen bosnische Muslime ihren Beitrag für Europa?


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Der Islam in Deutschland ist eine eingewanderte Religion und als solche nicht ohne Bezug zu den Herkunftsländern der eingewanderten Muslime zu verstehen. Meist richten sich dabei die Blicke in Richtung Türkei, arabische Länder oder Iran, obwohl Muslime aus dem ehemaligen Jugoslawien die größte Gruppe von Muslimen in der Schweiz und die zweitgrößte Gruppe von Muslimen in Deutschland und Österreich darstellen. Der außerhalb Bosniens wohl bekannteste Vertreter des bosnischen Islam, der 2002 verstorbene Smail Balic, sprach vom "unbekannten Bosnien" (Das unbekannte Bosnien. Europas Brücke zur islamischen Welt, Köln 1992).

Auch in der Diskussion um den europäischen Islam wurde die Stimme der balkanischen Muslime bislang weitgehend ignoriert, obwohl ihnen hier eine Schlüsselfunktion zukommt. Seit kurzem wächst das Bewusstsein, dass es zwölf Jahre nach dem Krieg nicht nur um die Frage geht, wie in Bosnien-Herzegowina dauerhaft Frieden zu erreichen ist, sondern auch darum, welchen Beitrag dieses kleine Land für Europa leisten kann. So fanden zuletzt auf Initiative von Akademien, politischen Stiftungen und Ministerien mehrere Tagungen zum "bosnischen Islam" statt.

Vor allem aufgrund der 40 Jahre andauernden österreichischen Epoche kommt dem bosnischen Islam eine Sonderrolle zu, die nicht zuletzt durch die spätere Verknüpfung von religiöser und nationaler Identität bis heute auch politisch relevant ist. Das Bewusstsein eigener Traditionen findet in Bosnien darin seinen Niederschlag, dass in der Verfassung der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien von 1997 als Quellen neben Sunna und Koran die "islamischen Traditionen der Bosniaken" und die "Erfordernisse der Zeit" genannt werden (Artikel 4).

Das im 6. und 7. Jahrhundert christianisierte Bosnien-Herzegowina wurde 1463 Teil des Osmanischen Reiches und entwickelte sich dort zu einem multireligiösen Gebiet, nachdem viele Bewohner auch aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen zum Islam konvertierten. Auf dem Berliner Kongress 1878 wurde Bosnien-Herzegowina unter habsburgische Verwaltung und Besatzung gestellt und blieb nur noch formell Teil des Osmanischen Reichs. Indem die bosnischen Muslime sich plötzlich unter nichtmuslimischer Herrschaft wiederfanden, waren sie mit einer Situation konfrontiert, die in vielem der Situation der Muslime in Westeuropa heute entspricht. Im Gegensatz zum Istanbuler Shaich ul-Islam sprachen sich in dieser Zeit bosnische Gelehrte, unterstützt vom ägyptischen Reformtheologen Muhammad Rashid Rida, dafür aus, dass keine Auswanderung geboten ist und Muslime verpflichtet sind, ihren Dienst auch in einer nicht-muslimischen Armee zu leisten. Beides prägte den Weg der Integration, den die bosnischen Muslime gegangen sind.

Es folgte eine Periode vielgestaltiger Reformen, welche eine Europäisierung und Modernisierung in Anknüpfung an lokale Traditionen mit sich brachten (vgl. dazu Fikret Karcic, The Bosniaks and the Challenges of Modernity. Late Ottoman and Habsburg Times, Sarajevo 1999). Das osmanische Millet-System, das den religiösen Minderheiten ein hohes Maß an Selbstverwaltung gewährte, wurde unter dem Vorzeichen christlicher Herrschaft gewissermaßen umgedreht. Das muslimische Schulwesen bestand weiter und wurde reformiert. Der Islam wurde strukturell verkirchlicht und erhielt eine moderne, von Istanbul unabhängige Organisationsform.

An der Spitze stand fortan der Rais ul-Ulama ("Oberhaupt der Gelehrten"), der nach österreichischem Recht den Status eines Erzbischofs hatte. Ihm wurden ein vierköpfiger regierender Rat und ein wie eine Synode organisierter Rat der Gelehrten zur Seite gestellt. Die Schariatsgerichte aus osmanischer Zeit blieben bestehen und wurden als Staatsorgane dem österreichischen Rechtswesen eingegliedert. Die Scharia wurde weiter angewandt, aber nur im Bereich des Erb- und Familienrechts. Eine Modernisierung fand hier dadurch statt, dass mit dem Hohen Schariagericht in Sarajevo eine Berufungsinstanz eingeführt wurde und die fortan durch die nicht-muslimischen Herrscher eingesetzten Kadis eine moderne juristische Ausbildung erhielten.


Bosnien entwickelte sich zum am meisten säkularisierten Teilstaat Jugoslawiens

1908 wurde Bosnien-Herzegowina annektiert; im Islamgesetz von 1912 wurden die Anerkennung des Islam als Religionsgesellschaft und die Selbstverwaltung unter Staatsaufsicht festgeschrieben, womit eine vollständige Eingliederung in den Habsburgerstaat erfolgte. Allerdings endete 1918 die Habsburgerherrschaft, wodurch Bosnien Teil des südslawischen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen wurde, in dem die Muslime einen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust erlitten. 1930 wurde die staatliche Kontrolle über die islamische Verwaltung verstärkt und deren Autonomie vorläufig beendet.

Ein neues Kapitel von Veränderungen - vergleichbar mit dem nach 1878 - begann nach dem Zweiten Weltkrieg. In der ab 1945 bestehenden jugoslawischen Föderation wurden die Schariatsgerichte abgeschafft, ein Teil der religiösen Stiftungen ebenso wie religiöse Schulen bis auf die ohne Unterbrechung seit 1537 bestehende Gazi-Husrevbeg-Madrasa in Sarajevo wurden verstaatlicht. All das hatte zur Folge, dass sich Bosnien zum am meisten säkularisierten Teilstaat Jugoslawiens entwickelte. Eine wachsende Liberalität des Regimes ermöglichte jedoch ab den siebziger Jahren einen "Islamic revival", den eine neue Generation muslimischer Intellektueller prägte, die an jugoslawischen Universitäten oder Hochschulen in islamischen Ländern studiert hatten. In dieser Zeit wurden zahlreiche Moscheen gebaut und die publizistischen Aktivitäten der Muslime intensiviert, insbesondere durch die seit 1970 erscheinende zweiwöchentliche Zeitschrift "Preporod" ("Renaissance"). In der neuen Verfassung von 1974 wurden die bosnischen Muslime als eigene ethnische Gruppe unter der Bezeichnung "Muslimani" anerkannt und konnten sich somit als Muslime im nationalen Sinn deklarieren.

Nach dem Ende Jugoslawiens wandten sich die Muslime im Bosnienkrieg (1992-1995) angesichts der europäischen Zurückhaltung verstärkt islamischen Staaten zu. Seit Ende des Krieges sind die sich nun als Bosniaken bezeichnenden Muslime wie auch die beiden anderen Volksgruppen Bosnien-Herzegowinas, die Serben und Kroaten, mit großen Herausforderungen konfrontiert: Wiederaufbau von Staat und Zivilgesellschaft, Versöhnung zwischen den Volksgruppen, Umgang mit wachsendem Nationalismus und äußeren Einflüssen (vgl. HK, September 2005, 423ff.; Juni 2002, 295ff.).

Mit der Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas hat die Islamische Gemeinschaft ihre Freiheit zurückgewonnen. Sie bildet eine muslimische Einheitsvertretung, neben der keine anderen Organisationen bestehen. Als solche ist sie in sich pluralistisch und umfasst traditionalistische wie modernistische Strömungen ebenso wie Sufis. Nach der neuen Verfassung der Islamischen Gemeinschaft von 1997 ist die Amtszeit des Rais ul-Ulama, der als Symbolfigur der islamischen Einheit verstanden wird, auf sieben Jahre mit einmaliger Wiederwahl begrenzt. Der Sabor ("Hauptversammlung") mit 83 Mitgliedern ist eine Art Parlament, das auch gewählte Vertreter der Diaspora aus Westeuropa, Nordamerika, Australien in seinen Reihen hat. Der von der Hauptversammlung gewählte Rijaset mit 15 Mitgliedern stellt eine Art kollektive Präsidentschaft und Regierung dar. Daneben gibt es entsprechend der Gewaltenteilung auch ein Verfassungsgericht.

Auf den verschiedenen administrativen Ebenen, die nach dem Territorialprinzip organisiert sind, gibt es jeweils gewählte Laienräte und eine geistliche Hierarchie, die von Imamen über Hauptimame und Muftis bis zum auch als Großmufti bezeichneten Rais ul-Ulama reicht. Nach dem bosnischen Gesetz über Religionsfreiheit aus dem Jahr 2004 hat die Islamische Gemeinschaft einen privatrechtlichen Status; sie unterhält jedoch religiöse Schulen, erteilt Religionsunterricht und kooperiert mit dem Staat im Bereich der Sonderseelsorge. Blickt man auf Struktur und Geschichte der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien, so stellen diese in vielerlei Hinsicht Antworten auf gesellschaftliche Veränderungen und auf staatliche Anforderungen dar, die von außen an die Muslime herangetragen wurden (vgl. Fikret Karcic, Administration of Islamic Affairs in Bosnia and Herzegovina, in: Islamic Studies 38 [1999], 535-561, 554).


Bosnische Theologen bereichern die Debatte in Westeuropa

Diese geschichtlichen Entwicklungen brachten auch eine neue Interpretation des Islam hervor, auf die der islamische Modernismus einen großen Einfluss ausübte. So war der von 1913 bis 1930 amtierende bosnische Großmufti Mehmed Dzemaludin Causevic ein Schüler des ägyptischen Reformers Muhammad Abduh. Prägend für die heutige Generation bosnischer Muslime ist der Reformtheologe Husein Djozo (1912-1982), dessen Anliegen eine zeitgemäße und traditionskritische Islaminterpretation war: "Selbst wenn es sich um dasselbe Problem handeln würde, nur in einer anderen Zeit und unter anderen Umständen, gäbe es zwei verschiedene Lösungen und Anwendungen. Es ist unmöglich, zu welchem Problem auch immer eine endgültige konkrete Lösung zu bieten und darüber das letzte Wort zu sagen" (Izabrana djela, Bd. 1.: Islam u vremenu, Sarajevo 2006, 358). Wenn sich die heutigen Vordenker des bosnischen Islam mit dem Verhältnis von Islam und Europa befassen, greifen sie dabei mehr oder weniger auf Djozos Leitprinzip zurück.

Der Rechtswissenschaftler und frühere Berater des Rais ul-Ulema, Fikret Karcic (geb. 1955), knüpft an die geschichtlichen Entwicklungen nach 1878 und 1945 an. Die Scharia sieht er nicht mehr als positives Gesetz, das vom Staat durchzusetzen ist, sondern als religiöse und ethische Norm, die für das Gewissen des Einzelnen und die Gemeinschaft der Muslime eine Rolle spielen kann. Auch rechtliche Bestimmungen der Scharia sind ethisch und von den grundsätzlichen Normen und Zielen der Scharia her zu interpretieren (vgl. Applying the Shari'ah in Modern Societies. Main Development and Issues, in: Islamic Studies 40 [2001], 207-226). Daher votiert er mit den meisten bosnischen Theologen unzweideutig für einen religionsneutralen säkularen Staat, zu dem eine so interpretierte Scharia nicht im Widerspruch steht. Eine Wiedereinführung des vormodernen Millet-Systems lehnt er ab, da es als Personenrecht dem heutigen Territorialrecht widerspricht und weniger als dieses geeignet ist, Muslime in die Staaten Europas zu integrieren.

Der Koranwissenschaftler Enes Karic (geb. 1958) vermittelt zwischen klassischen islamischen Autoren und moderner Hermeneutik und spricht von der "multi-interpretability" des Koran (Essays [on Behalf] of Bosnia, Sarajevo 1999, 211). Der Koran bringt eine niemals abgeschlossene Interpretationsgeschichte hervor und stellt ein universales Buch dar, bei dessen Interpretation auch die Erfahrungen von Nicht-Muslimen zu berücksichtigen sind. Wie in Fragen der Koraninterpretation geht es Karic auch auf politischer Ebene darum, islamische und europäische Identität miteinander zu verbinden und nicht als Gegensatz zu betrachten.

Ziel für Karic ist ein universaler Islam, der gerade nicht lokale Traditionen wie Bekleidungsgewohnheiten zu universalen religiösen Identitätsmarkern aufwertet: "Euro-Islam, das wäre ein universal verstandener Islam, der europäische Muslime aus ihrer Selbst-Gettoisierung und aus der Gettoisierung des Islam in Westeuropa befreien würde" (Essays on our European Never-Never Land, Sarajevo 2004, 28).

Der systematische Theologe Adnan Silajdzic (geb. 1957) geht von der gegenwärtigen Krise muslimischer Identität aus. Sein Ziel ist es, in einem "synthetic approach" Islam und westliche Kultur, Tradition und Erneuerung miteinander zu verbinden (Muslims in Search of an Identity, Sarajevo 2007, 70). Schließlich betrachtet er den Islam als eigentlichen Schöpfer des gesellschaftlichen Pluralismus und sieht im muslimischen Gelehrten al-Biruni, der um die erste Jahrtausendewende in Indien gelebt hat, einen Pionier der vorurteilsfreien Wahrnehmung des anderen. Verbunden mit scharfer Kritik an der westlichen Politik gegenüber der islamischen Welt fordert er Islam und westliche Welt auf, sich einander anzunähern. Obwohl er sich mit westlichen Philosophen und christlichen Theologen auseinandersetzt, legt Silajdzic in seinem Entwurf den Akzent weniger auf eine säkulare Hermeneutik wie Karic sondern auf islamische Traditionen. Vielfach gewinnt man den Eindruck, dass Silajdzic sich stärker mit der islamischen Welt identifiziert und sich so in ein Gegenüber zu Europa begibt.


Die Islamische Fakultät in Sarajevo als Modell für Westeuropa

Alle drei Denker formulieren Positionen von großer Tragweite, die die Debatte in Westeuropa bereichern könnten. Bedauerlich ist nur, dass die Werke bosnischer Autoren bislang fast ausschließlich Spezialisten bekannt sind und über weite Strecken nur in bosnischer Sprache vorliegen. Übersetzungen ins Englische und ins Deutsche sowie eine größere Verbreitung von in Bosnien publizierten Titeln stellen somit eine wichtige Aufgabe für die nächsten Jahre dar.

Sarajevo, das religiöse und kulturelle Zentrum der Muslime auf dem Balkan, wird oft mit Jerusalem verglichen, da sich dort auf engem Raum Kirchen, Moscheen und Synagogen befinden. Sarajevo ist aufgrund seiner Geschichte und Ausstrahlung dazu prädestiniert, verstärkt ein Ort für die Identitätssuche europäischer Muslime zu werden und würde sich auch als Ort für ein Auslandsjahr in Deutschland studierender zukünftiger islamischer Religionslehrer und Imame anbieten. In der Tradition des Ortes wurde im Juli 2007 gemeinsam von den vier ansässigen Religionsgemeinschaften (jüdisch, muslimisch, katholisch und serbisch-orthodox) ein interreligiöses Institut nach dem Vorbild kirchlicher Akademien gegründet.

Denkschmiede des bosnischen Islam ist die "Fakultät für Islamische Studien" in Sarajevo, die 1977 im Zusammenhang mit dem "Islamic revival" gegründet wurde (vgl. www.fin.ba). Sie knüpft räumlich und ideell an die 1887 gegründete und 1946 von den Kommunisten geschlossene Schule für Scharia und Theologie an, an der Scharia und österreichisches Recht, orientalische und westliche Sprachen sowie moderne Geistes- und Naturwissenschaften unterrichtet wurden. Seit 2004 ist die Fakultät mit der Universität Sarajevo assoziiert und hat so einen einzigartigen Charakter in Europa. Etwa 380 Studierende belegen dort derzeit die nach den Bologna-Kriterien aufgebauten Studiengänge für Theologie, islamische Religionspädagogik und Imame; hinzu kommen noch Studierende verschiedener Fernstudiengänge.

Begegnet man Mitarbeitern der Fakultät, die an den verschiedensten europäischen und außereuropäischen Universitäten studiert haben, so beeindruckt deren weiter Horizont und internationale Erfahrung. Zwei der muslimischen Professoren haben in Zagreb und Paris katholische Theologie studiert. Neben den klassischen islamischen Disziplinen stehen auch Englisch, Entwicklungspsychologie und vergleichende Religionswissenschaft auf dem Stundenplan. Eine Anthologie christlicher Texte dient als Lehrbuch mit dem Ziel, christliche Selbstdarstellungen, die vielfach vom koranischen Bild überdeckt wurden, adäquat wahrzunehmen. Dozenten der franziskanisch-theologischen Fakultät in Sarajevo halten zudem regelmäßig Gastvorlesungen.

Der bis Oktober 2007 amtierende Dekan Enes Karic betrieb eine Politik der Öffnung und Internationalisierung, die sein Nachfolger Mehmet Busatlic fortsetzen möchte. Gegen wahhabitische Einflussversuche erwies sich die Fakultät als resistent. Inzwischen bestehen Hochschulpartnerschaften mit Erfurt und Tübingen, die in Zukunft auch Studierenden aus Deutschland das Kennenlernen des bosnischen Islam ermöglichen werden. Ein englischsprachiges Studienprogramm befindet sich in Vorbereitung. Neben Bosnisch ist inzwischen Englisch und nicht mehr wie früher Türkisch oder Deutsch Wissenschaftssprache für bosnische Theologen. Aber auch das Erlernen der deutschen Sprache wird an der Fakultät gefördert.

Erfreulicherweise beteiligt sich inzwischen Dzevad Hodzic, Dozent für Ethik an der Fakultät, als erster bosnischer Theologe am deutschsprachigen Forschungsnetzwerk "Theologisches Forum Christentum - Islam" (vgl. seinen Beitrag: Muslimische Auffassungen der Geschichte des Islam und die Erfahrung des Leids, in: Prüfung oder Preis der Freiheit? Leid und Leidbewältigung in Christentum und Islam, Regensburg 2008, 112-118).


Die kirchenähnliche Struktur des Islam in Bosnien findet in Deutschland ihre Fortsetzung

Auch wenn jeder vierte Bosnier außerhalb des Landes lebt, wurde die Diaspora der bosnischen Muslime noch wenig untersucht. Mit der Unbekanntheit des bosnischen Islam geht bislang vielfach eine Nichtbeachtung der bosnischen Muslime in Westeuropa einher. In den achtziger Jahren entstanden in Deutschland jugoslawische Kulturvereine, zum Teil mit Gebetsräumen. Mit dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens kam es zu einer Ausdifferenzierung in bosnische und kosovo-albanische Gemeinden.

Seit 1994 besteht mit dem VIGB (Verband Islamischer Gemeinden der Bosniaken in Deutschland) ein Dachverband der bosnischen Muslime, der 62 Moscheegemeinden umfasst. Hauptsitz ist die Bergarbeiterstadt Kamp-Lintfort westlich von Duisburg. Die aus einem Wohnhaus hervorgegangene Moschee liegt am Rande der Stadt und stellt die einzige bosnische Diasporamoschee außerhalb des ehemaligen Jugoslawien mit Minarett dar. Lokal ist die Moschee gut eingebunden, sie liegt aber abseits. Daher gibt es Überlegungen, in eine Großstadt umzuziehen.

An der Spitze des Verbandes steht seit 1994 Mufti Mustafa Klanco, der von der Hauptversammlung mit Delegierten der einzelnen Gemeinden gewählt wird. Analog zu den acht Muftibezirken (Muftiluks) in Bosnien handelt es sich um einen Auslandsbezirk der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien, der zwei Delegierte in die Hauptversammlung nach Sarajevo entsendet. Deutschland ist wiederum in sechs Regionen mit jeweils einem Hauptimam unterteilt. Die kirchenähnliche Struktur des Islam in Bosnien findet also in Deutschland ihre Fortsetzung und zeigt sich vor Ort darin, dass bosnische Gemeinden stärker als andere auf ihre Imame ausgerichtet sind.

Der VIGB ist Mitglied des Islamrats und des Zentralrats der Muslime in Deutschland, sieht sich dort aber nur in einer beobachtenden Rolle und hält sich bislang in der Öffentlichkeit zurück. Mit einer Person ist der VIGB in einer Arbeitsgruppe der Deutschen Islamkonferenz vertreten. Wie andere muslimische Verbände ist der VIGB auch erst ansatzweise in deutscher Sprache im Internet präsent. Im November 2007 veranstaltete der VIGB in Kooperation mit der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart erstmals eine öffentliche Tagung, was als ein Schritt hin zu mehr Außenaktivitäten angesehen werden kann.

An vielen Orten spielen die bosnischen Moscheen keine erkennbare öffentliche Rolle. In zahlreichen Fällen wie beispielsweise in Köln, Wiesbaden, Mannheim, Ulm oder Stuttgart gibt es jedoch gute Erfahrungen der Zusammenarbeit. Ein kirchlicher Partner bosnischer Muslime in Mannheim beobachtet, dass diese Erfahrungen interreligiösen Zusammenlebens aus Bosnien einbringen und spitzt seine Wahrnehmung zu: "Die Bosnier sind schon ganz anders." Wer bosnische Moscheen aufsucht, stellt fest, dass dort im Schnitt mehr und besser Deutsch gesprochen wird als in türkischen Moscheen. Manche von bosnischen Muslimen gegründete Gemeinden wie das "Islamische Forum Penzberg" und die "Islamische Gemeinschaft Stuttgart" wenden sich verstärkt mit deutschsprachigen Angeboten an Muslime. Dies hat zur Folge, dass sie bei Muslimen unterschiedlichsten Hintergrunds auf Resonanz stoßen und sich in Zukunft zu multiethnischen Zentren mit Deutsch als Kommunikationssprache entwickeln werden.

Andernorts steht das bosnische Element stärker im Mittelpunkt. Nimmt man Bosnien selbst als Vorbild, wo nach 1878 eigene Strukturen aufgebaut wurden und man sich nicht als türkische Diaspora verstanden hat, legt sich eine klare Ausrichtung auf die Einwanderungsländer nahe. Derzeit werden die bosnischen Muslime auch politisch als Ansprechpartner entdeckt, so dass hier in den nächsten Jahren dynamische Entwicklungen zu erwarten sind. Von den zu beobachtenden Annäherungen zwischen den großen muslimischen Verbänden profitieren die bosnischen Muslime bislang nicht, sehen sie sich doch im Schatten der türkischen Vereine, die ihrer Wahrnehmung nach oft unter sich bleiben.

Der bosnische Islam weist eine lange Erfahrung im Umgang mit Europa und im Zusammenleben mit Christen auf. Die geschichtlichen Entwicklungen haben zu einer "dialogoffenen, toleranten und westlichen Werten verpflichteten Glaubensgemeinschaft" geführt (Thomas Bremer, Kleine Geschichte der Religionen in Jugoslawien, Königreich - Kommunismus - Krieg, Freiburg 2003, 63). Bosnien ist der beste Beleg dafür, dass es eine europäische Geschichte des Islam und eine islamische Geschichte Europas gibt. Die Trennung von Staat und Religion stellt für die bosnischen Muslime seit 1878 eine unhinterfragte Wirklichkeit dar. Zudem haben sie eine transparente Organisationsstruktur entwickelt, die synodale und hierarchische Elemente miteinander verbindet. Auch was die Imamausbildung betrifft, setzt die Islamische Gemeinschaft in Bosnien Maßstäbe, setzt doch seit 2005 die Tätigkeit als Imame ein abgeschlossenes Theologiestudium voraus, das bereits tätige Imame gegebenenfalls nachholen müssen.

Der seit 1993 amtierende derzeitige Rais ul-Ulama Mustafa Ceric propagiert das bosnische Organisationsmodell für ganz Europa und hat selbst Ambitionen, Mufti der europäischen Muslime zu werden. Anlässlich der im Juli 2007 in Sarajevo begangenen Feierlichkeiten zu 600 Jahren Ankunft des Islam in Europa erinnerte er erneut daran, dass es eingeborene Muslime in Europa gibt. Er hat 2006 eine "Erklärung europäischer Muslime" formuliert, die die Muslime auffordert, selbstkritisch und dialogbereit als gute Bürger Europas zu leben. Umgekehrt soll sich die Europäische Union für eine dauerhafte und gesellschaftlich sichtbare Präsenz der Muslime öffnen.

Das Dokument enthält eine vorbehaltlose Anerkennung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Indem Ceric jedoch die Muslime in Europa mittels eines Gesellschaftsvertrags eingegliedert sieht und eine Anerkennung des islamischen Familienrechts wie in der österreichischen Zeit fordert, bleibt seine Position missverständlich. Auch in der eigenen Gemeinschaft ist Ceric nicht unumstritten, da er seinem Amt entsprechend einen Weg des Kompromisses zwischen modernistischen und traditionalistischen Strömungen geht.

Die Kontexte sind zu verschieden, als dass der bosnische Islam unmittelbar als Modell herangezogen werden könnte, das einen konkreten Weg für die Muslime in Westeuropa vorgibt. Manches mag nur in der spezifischen Tradition und Situation Bosniens Bestand haben. Die Reformen im bosnischen Islam sind jedoch ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass und wie massive, von neuen politischen Umständen angestoßene Veränderungsprozesse im Islam ohne den Preis einer Selbstaufgabe vonstatten gehen können. Es entstanden so Institutionen und Theologien, die Religiöses und Weltliches, Tradition und Moderne verbinden.

Im Unterschied zu Bosnien befinden sich die Muslime in Westeuropa in einer Migrationssituation und stellen eine kleine Minderheit in multiethnischer Zusammensetzung dar. Hier eine einheitliche Institutionalisierung des Islam nach dem bosnischen Modell zu realisieren, bedarf noch Kreativität und Überzeugungsarbeit. Muslime kämen mit einer analog zur Islamischen Gemeinschaft in Bosnien aufgebauten Organisation jedoch sicher in eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber dem Staat.

Auch Europa sollte all diese Ressourcen nutzen und Bosnien nicht sich selbst überlassen, denn die Menschen in Bosnien sehen sich auf der Schattenseite Europas. Aufgrund ihrer europäischen Geschichte wünschen sie sich Interesse und Zugehörigkeitserweise von Seiten Europas. Die beschriebene Brückenfunktion ist einzigartig, auch wenn die bosnischen Muslime vielfach erfahren, wie sie zwischen den Stühlen sitzen. Man hört von ihnen öfters den Satz: "Die Araber sagen, wir sind keine richtigen Muslime. Die Europäer sagen, wir sind keine richtigen Europäer." Europa sollte alles tun, damit Letzteres in Zukunft nicht mehr der Fall ist.


Hansjörg Schmid (geb. 1972), Dr. theol., ist Referent an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart mit dem Schwerpunkt christlich-islamischer Dialog. Er hat zuletzt den Band "Prüfung oder Preis der Freiheit? Leid und Leidbewältigung in Christentum und Islam" (Regensburg 2008) herausgegeben.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 2, Februar 2008, S. 98-103
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Februar 2008