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BERICHT/084: Vielfältige Beweggründe - Konversion zum Islam in Europa (Herder Korrespondenz)



Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 08/2010

Vielfältige Beweggründe
Konversion zum Islam in Europa

Von Susanne Leuenberger

Der Islam ist nicht nur eine Religion zugewanderter Fremder in Europa, sondern auch die einer kleinen, aber wachsenden Zahl von Konvertiten. Was suchen Europäer im Islam? Wie werden islamische Praktiken angeeignet - und entstehen dadurch europäische Formen des Islam?


Die Konversion zum Islam ist kein neuartiges Phänomen in Europa. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts fanden erste Europäer zum Islam. So kam der Basler Gelehrte Johann L. Burckhardt (1784-1817), der Wiederentdecker der Felsenstadt Petra, durch seine ausgedehnten Orientreisen zum Islam. Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konvertierte eine Reihe von illustren europäischen Figuren, etwa der Österreicher Leopold Weiss (alias Muhammad Asad, 1900-1992) oder die Abenteurerin und Schriftstellerin Isabelle Eberhardt (1877-1904), zum Islam. Eine Gruppe von Künstlern und Schriftstellern rund um den Franzosen René Guénon (1886-1951), den deutschstämmigen Künstler Frithjof Schuon (1907-1998) und den Schweizer Titus Burckhardt (1908-1984) suchten im Islam eine spirituelle Alternative zum säkularen Westen und gründeten in den vierziger Jahren in Frankreich und der Schweiz erste Sufi-Zirkel.

Wie viele Konvertiten zum Islam heute in Europa leben, ist schwer zu sagen. Verfügbare Schätzungen zur Situation in Skandinavien gehen von einem Anteil von 1,5 bis 2,5 Prozent der jeweiligen Bevölkerungsgruppe mit islamischem Hintergrund aus (Anne-Sofie Roald, New Muslims in the European Context. The Experience of Scandinavian Converts, Leiden 2004, 1). Extrapoliert man diese Prozentzahl auf den deutschen Sprachraum, dürfte sich die Zahl der Konvertiten auf etwa 40000 bis 60000 Personen in Deutschland und in der Schweiz und Österreich auf je etwa 10000 Männer und Frauen belaufen. In den Medien wird seit dem 11. September 2001 und in jüngster Zeit im Zusammenhang mit europaweiten Islam-Debatten vermehrt von einer Vervielfachung islamischer Konversionen berichtet. Inwiefern es sich bei dieser Darstellung um eine Medienhysterie beziehungsweise islamische Propaganda handelt, ist schwer abzuschätzen. Eine gegenwärtig erhöhte Zahl von Übertritten ist jedoch aufgrund der erhöhten Medienpräsenz des Islam plausibel - wenn auch im Zusammenhang mit negativen Schlagzeilen. "Keine Werbung ist schlechte Werbung", so ein Gesprächspartner in einem islamischen Zentrum in Bern. Zudem wächst der muslimische Bevölkerungsanteil in Westeuropa. Dadurch steigt auch die Chance einer Begegnung mit dem Islam und Muslimen.


Hinter dem Phänomen der Konversion zum Islam stehen vielfältige Beweggründe und Zugangsweisen. Der Islam steht spätestens seit dem 11. September 2001 und den dadurch ausgelösten Diskussionen in vielerlei Hinsicht für das "Fremde" und "Andere" hiesiger Gesellschaften. Dabei setzt diese Wahrnehmung des Islam an einer jahrhundertealten Geschichte der Kulturbegegnung und Auseinandersetzung an, die seit je zwischen Abwehr und Faszination oszilliert.


In westlichen Gesellschaften verloren geglaubte Werte und Vorstellungen

Während die negativen Assoziationen Gewalt, Unterdrückung von Frauen, Fanatismus und Rückständigkeit dominieren, übt der Islam als Gegenhorizont gleichzeitig auf nicht wenige Europäerinnen und Europäer eine Anziehung aus. Für viele beginnt die Auseinandersetzung mit dem Islam durch die Faszination islamischer Ausdrucksformen. Ein Schweizer Konvertit schildert seine erste Erfahrung mit dem Islam so: "Es war im Familienurlaub in Tunesien. Mit meinen Eltern haben wir ein kleines Dorf unweit des Touristenstrandes besucht. Als wir aus dem Reisebus ausgestiegen sind, ist der Adhân (Gebetsruf) von einer Moschee ertönt. Irgendwie ist mir das tief reingegangen. Irgendetwas hat sich geregt in mir."

Viele Konvertiten sehen den Islam als eine alternative Lebensweise und suchen nach in westlichen Gesellschaften verloren geglaubten Werten und Vorstellungen. Die Befragten nennen die Logik und Einfachheit der islamischen Religion, den strengen Monotheismus, den direkten Bezug zu Gott, die Spiritualität, sowie die den gesamten Alltag umfassende Lebensweise als Beweggründe, den islamischen Glauben anzunehmen. Im Islam wichtige Werte wie Gemeinschaft, Gastfreundlichkeit sowie Familienorientierung sind Punkte, die von den Konvertiten ebenso hervorgehoben werden. So meint eine junge Schweizer Konvertitin: "Für mich ist der Islam eine umfassende Lebensweise. Es geht um das Zusammenleben der Menschen, die Solidarität unter den Menschen. Das ist das, was mich am meisten beeindruckt am Islam, einfach die Gleichheit und Gemeinschaft unter den Menschen."


Während die frühen Konvertiten über Reisen in den Orient und das Studium islamischer Texte mit dem Islam in Berührung kamen, konvertiert heute ein Großteil der Frauen und Männer im Rahmen einer Liebesbeziehung zu einem Partner oder einer Partnerin muslimischer Herkunft. Oft handelt es sich um Bekanntschaften, die in Europa geknüpft wurden. Die Konversion zum Islam ist tendenziell ein weibliches Phänomen, etwa 60 bis 70 Prozent der Konvertiten sind Frauen. Viele Männer, aber auch manche Frauen vollziehen den Übertritt aus eher formalen Gründen (viele islamisch geprägte Länder erkennen eine Ehe zwischen einer Muslima und einem Nichtmuslimen nicht an). Für viele dieser Muslime endet die Zugehörigkeit zum Islam im Falle einer Trennung vom islamischen Partner und bleibt eine vorübergehende Episode im Lebenslauf. Für andere stellt die Konversion einen langjährigen intensiven Prozess im Rahmen ihrer bikulturellen Partnerschaft dar.

Wieder andere begegnen dem Islam über muslimische Freunde und Bekannte, im Rahmen von Aufenthalten in muslimischen Ländern oder aber sie finden über eine persönliche religiöse Sinnsuche zum Islam. Ein Gesprächspartner kommt während einer Sinnkrise in seiner Adoleszenz über muslimische Berufskollegen mit dem Islam in Berührung: "Ich habe mich viel mit verschiedenen religiösen Traditionen auseinandergesetzt zu dieser Zeit. Ich bin nicht auf das Christentum fixiert gewesen, aber für mich war immer klar, dass es einen Gott gibt. In meinem Umfeld hatte es viele Libanesen und ich habe begonnen, mit ihnen zu diskutieren, über Religion und so weiter. Ich habe sie gefragt, wie sie das praktizieren, und habe begonnen, den Koran zu lesen. Das war der Anfang."


Eine Konversion verläuft meist über einen längeren Zeitraum

Das Spektrum der religiösen Ausrichtungen unter Konvertiten reicht von einer streng am Vorbild des Propheten Muhammad und der islamischen Frühgemeinde orientierten Lebensweise, wie sie von salafitisch geprägten Formen des Islam praktiziert wird, bis hin zu mystisch ausgerichteten Praktiken, in denen innere Begegnungen mit Gott und rituelle Selbsterfahrungspraktiken im Zentrum stehen.

Entgegen der weitläufigen Vorstellung von Konversion als einer Art blitzartigen Erfahrung, die den Ausschlag zu einem abrupten Wechsel des Lebenswandels und der Identität gibt, verläuft die Konversion meist über einen längeren Zeitraum. Schrittweise werden Praktiken wie das Fasten im Ramadan, das Beten oder der Verzicht auf Schweinefleisch und Alkohol "ausprobiert" und eingeübt. Die Information und das Wissen über den Islam gewinnen Konvertiten vor allem über die Lektüre islamischer Texte und Einführungswerke, und, in den letzten Jahren, über das Internet. Meistens werden die Konvertierten von einzelnen Muslimen in ihrem Lernprozess begleitet.

Oft vergehen Jahre, bis die Konvertiten die Schahada, das islamische Glaubensbekenntnis, aussprechen, welches als ritueller Akt, vor zwei Zeugen ausgesprochen, den Übertritt markiert: Aschhadu an La Illah illa Allah wa Muhammadan Rasul Allah (Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Gott und Muhammad sein Gesandter ist). Viele Konvertiten legen sich auch einen neuen islamischen Namen zu. Dieser ersetzt in manchen Fällen den früheren Vornamen. Andere benutzen den islamischen Namen als Zweitnamen oder entscheiden je nach sozialer Situation, wie sie genannt werden wollen. Die männliche Beschneidung ist keine religiöse Pflicht, wurde aber von einigen Gesprächspartnern vollzogen.

Während das Ablegen des Glaubensbekenntnisses sowie die Aneignung ritueller Pflichten wie das Beten oder Fasten von den befragten Konvertiten als kontinuierlicher Übergang beschrieben wird, markiert das Anlegen islamischer Kleidung, insbesondere das weibliche Kopftuch, nach außen einen sichtbaren Bruch mit der Vergangenheit und dem nichtmuslimischen Umfeld. Viele konvertierte Musliminnen zögern lange, bis sie diesen Schritt wagen. So erinnert sich eine junge konvertierte Muslimin: "Bevor ich meine Mutter das erste Mal mit Kopftuch besuchte, habe ich ihr ein SMS geschrieben, um sie darauf vorzubereiten, dass ich ein Kopftuch trage." Eine andere Gesprächspartnerin vergleicht diesen Schritt des Kopftuchanlegens mit dem "coming out" eines Homosexuellen, was die Tragweite der sozialen Konsequenzen und Reaktionen angeht. Andere konvertierte Musliminnen tragen nie ein Kopftuch, außer zum Gebet.


Konflikte mit der Herkunftsfamilie

Nicht zuletzt weil die islamische Religion einen schlechten Ruf besitzt, stoßen neue Muslime und Musliminnen zumeist auf wenig Verständnis in ihrem Herkunftsumfeld. Während es in manchen Fällen zu einem zumindest zeitweiligen Abbruch des Kontaktes kommt, finden andere Familien und Freunde gemeinsam mit den Konvertiten humorvolle und kompromissbereite Umgangsformen.

Konflikte mit der Herkunftsfamilie entstehen beispielsweise dann, wenn gemeinsame Familienrituale wie Weihnachten, Hochzeiten, Taufen oder Mahlzeiten, bei denen Alkohol getrunken wird, von den Konvertiten gemieden werden. Die Umgangsweisen mit gewohnten Familientraditionen und Praktiken, die mit islamischen Geboten schwer zu vereinbaren sind, fallen sehr individuell aus und hängen von der islamischen Ausrichtung sowie der Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten ab.

Oftmals ist zu beobachten, dass frisch Konvertierte einen sehr strikten Islam praktizieren. Die äußerst korrekte Ausführung islamischer Normen und Gebote hängt einerseits damit zusammen, dass die Konvertiten ihr Wissen vom Islam meist "angelesen" haben, also im wahrsten Sinne des Wortes einen buchstäblichen Islam praktizieren und auch rituelle Körperpraktiken wie Fasten und Gebet bewusst eingeübt werden. Die Aneignung des Islam bringt viele Änderungen im Alltag mit sich, auf die die neuen Muslime achten. Dies bedeutet, dass der Islam und die Bemühung um eine richtige Praxis einen großen Raum in ihrem Leben einnehmen. Andererseits suchen die neuen Konvertiten auch die Anerkennung ihrer Glaubensbrüder und -schwestern über die korrekte Ausübung des Islam. Oftmals legt sich die anfängliche Rigorosität der islamischen Auslegung und Praxis mit einer gewissen Routine der Konvertiten.


Tendenziell sind die sozialen Spannungen mit dem Herkunftsumfeld und am Arbeitsplatz für konvertierte Frauen schwerwiegender, insbesondere wenn sie Kopftuch tragen. Ebenso wie viele andere Musliminnen werden viele Konvertitinnen vor die Entscheidung gestellt, das Kopftuch während der Arbeit abzulegen, den Beruf zu wechseln oder ihn ganz aufzugeben. Demgegenüber bleibt die islamische Identität vieler konvertierter Männer, sofern sie keine ostentativen islamischen Körper- und Bekleidungskodes wie den typisch islamischen Bart, lange Hemden, Pluderhosen und Turban annehmen, für das Umfeld "unsichtbar" und damit unproblematisch. Bei den Männern wird die Zugehörigkeit zum Islam oftmals erst dann bemerkt, wenn sie in geselligen Runden auf Alkohol verzichten, kein Fleisch mehr essen oder es aus religiösen Gründen ablehnen, einer Frau die Hand zu reichen.

Während das nichtmuslimische Umfeld die Konversion als sozialen Bruch wahrnimmt, werden die Konvertiten von islamischen Gemeinschaften meist freudig aufgenommen. Als einer, der auch eine andere religiöse und kulturelle Tradition kennt und sich für den Islam entscheidet, ist ein Konvertit eine Art lebender Beweis für die Überlegenheit der eigenen Religion. Zudem stärken Konvertiten das Selbstbewusstsein der Minderheitenreligion, die ein schlechtes Image besitzt. So berichtet ein Konvertit: "Die Muslime haben sehr Freude, wenn ein Schweizer zum Islam kommt. Wenn wir irgendwo hingegangen sind, wenn meine muslimischen Kollegen mich vorgestellt haben, ist immer das Erste, was sie sagen: Er ist ein Schweizer."

Oftmals treten Konvertierte bei islamischen Veranstaltungen auf und erzählen vor Publikum ihre Konversionsgeschichte. Es handelt sich dabei um ein kollektives Ritual, in dem über die Geschichte des Konvertiten, das Mitfühlen und Nacherleben seiner Erfahrungen und Einsichten im Publikum das Gefühl der Zusammengehörigkeit bestärkt wird - und auch die islamische Identität des Redners sich stabilisiert.


Konvertiten werben für den Islam

Trotz aller Freude über die neuen Glaubensgeschwister sind die Mehrheit der islamischen Gemeinschaften und Organisationen weder sprachlich noch kulturell an die Bedürfnisse der neuen europäischen Muslime angepasst. Bestehende Vereine und Organisationen sind meist nach ethnischen Kriterien organisiert und decken eher traditionelle und kulturelle Bedürfnisse der Einwanderergeneration ab. Konvertiten unterscheiden zwischen "Religion" und "Kultur" und suchen einen Islam, der losgelöst ist von traditionellen Praktiken und Vorstellungen. So meinte ein Konvertit: "Da wir Konvertiten ja keinen islamischen Hintergrund und keine Kultur haben, können wir einfach wirklich den Islam lernen, wie er ist."

Mission unter Europäern war lange Zeit ein eher marginales Phänomen, welches vor allem von weltweit organisierten Organisationen wie der Ahmadiyya-Gemeinschaft oder Sufi-Gruppen betrieben wurde. Erst in den letzten Jahren sind neue Organisationen entstanden, häufig von Konvertiten ins Leben gerufen, die auf die Bedürfnisse und Fragen europäischer Menschen besser zugeschnitten sind. Diese neuen Vereinigungen "übersetzen" den Islam in europäische Sprachen und kulturelle Kontexte und sind so für Konvertiten und junge Muslime, die in Europa aufwachsen, attraktiv.

So erstaunt es nicht, dass der zurzeit erfolgreichste Islamprediger im deutschen Sprachraum, Pierre Vogel, selbst ein Konvertit ist. Seine Bühnenauftritte und seine Webseite "Einladung zum Paradies" (www.einladungzumparadies.de) verzeichnet vor allem bei jungen deutschsprachigen Muslimen mit Migrationshintergrund und Konvertiten großen Erfolg. Vogel und sein Umfeld verkünden einen fundamentalistischen Islam und werden in der Öffentlichkeit kritisch diskutiert und vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet. Vogels popkulturelle Bildersprache und der plakative Stil, der sich an die Rhetorik evangelikaler Prediger anlehnt, ist attraktiv für junge Deutsche, Schweizer und Österreicher. Seine Videoclips werden ausgetauscht und bieten jungen Menschen auf der Suche nach Identität Orientierung durch einfache moralische Anleitungen.


Auch im Bereich des Sufismus, der islamischen Mystik, fällt auf, dass Konvertiten wichtige Rollen einnehmen. In Deutschland ist etwa die "Osmanische Herberge" rund um den Deutschen Sufi-Shaykh und Musiker Hassen Dyck zu erwähnen, dessen Naqshbandi-Orden vor allem deutsche Konvertiten beiderlei Geschlechts in seinen Reihen weiß (www. osmanische-herberge.de).

Grundsätzlich lässt sich seit längerer Zeit beobachten, dass Konvertiten zum Islam beiderlei Geschlechts Verbandsarbeit leisten, deutschsprachige Moscheen gründen oder neue Formen des Islamunterrichts entwickeln. Konvertierte Frauen sind maßgeblich an der Entstehung islamischer Frauenorganisationen beteiligt, da viele traditionelle islamische Angebote strukturell und räumlich nach wie vor von Männern dominiert sind (vgl. auch Herder Korrespondenz Spezial, "Die unbekannte Religion. Muslime in Deutschland", 2-2009, 28ff.). Das deutsche Netzwerk "Al-Huda" etwa wird von Konvertitinnen präsidiert und bietet eine Plattform für muslimische Frauen und deren Anliegen (www.huda.de).

Auch in der Schweiz kam es seit den neunziger Jahren auf Initiative konvertierter Frauen zur Gründung einer Reihe islamischer Frauenvereine, etwa dem Berner "Dar an-Nur", das Raum zum Austausch und islamische Bildungsmöglichkeiten bietet. Häufig anzutreffen sind Konvertiten zum Islam in Sprecher- und Übersetzerpositionen.

In Deutschland ist die Position des Vorsitzes des Zentralrats der Muslime von einem Konvertiten, dem Akademiker Ayyub Axel Köhler, besetzt. Auch im Bereich islamischer Medien sind Konvertiten aktiv. Die in Berlin verlegte "Islamische Zeitung" etwa wird vom konvertierten Rechtsanwalt Abu Bakr Andreas Rieger herausgegeben (www.islamische-zeitung.de). Zahlreiche islamische Texte und Einführungswerke werden von Konvertiten ins Deutsche übersetzt.

Das Spektrum der "Übersetzungsarbeit" der Konvertiten ist breitgefächert: nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell findet eine Anpassung der vielfältigen Formen des Islam an den europäischen Kontext statt. Konvertiten zum Islam besitzen "doppeltes symbolisches Kapital", insofern sie sowohl auf ihren europäischen Hintergrund zurückgreifen können wie auch den Islam kennen. Sie nehmen nicht nur innerhalb der muslimischen Gemeinschaften Vermittlerpositionen ein, sondern sie richten sich auch selbstbewusst an die nichtislamische Öffentlichkeit.

So kam es in der Schweiz im Zusammenhang mit der Annahme der Minarettinitiative (vgl. HK, Januar 2010, 7ff.) zur Gründung des Islamischen Zentralrats Schweiz, dessen Vorstand sich mehrheitlich aus Schweizer Konvertiten zusammensetzt (www.izrs.ch). Der Zentralrat versteht sich als Basisorganisation muslimischer Menschen in der Schweiz und fordert mittelfristig die öffentlich-rechtliche Anerkennung der islamischen Religion, die Etablierung islamischer Schulen sowie die Einrichtung eines islamischen Fatwa-Rats. Die konvertierten Protagonisten, die einen fundamentalistisch orientierten Islam vertreten, sorgten jüngst durch ihre eloquenten Auftritte im öffentlichen Raum für mediale Debatten rund um die Radikalität von Konvertiten zum Islam und die Frage nach der Integration der Muslime in der Schweiz.


Die Konversion zum Islam ist kein einseitiger Lernprozess

Die Konversion zum Islam ist jedoch kein einseitiger Lernprozess, bei dem ein Konvertit eine Identität annimmt und sich dabei vollständig von alten Gewohnheiten löst. Ein Konvertit zum Islam bringt auch immer Vertrautes in die "fremde" Religion ein: das Bild des radikalen Überläufers trifft so nicht zu, da jede Konversion auch eine Übersetzungs- und Anpassungsleistung darstellt, wie radikal oder liberal die Auslegung des Islam auch immer ausfällt.

Auch auf der Ebene der Alltagspraxis sind so neue Formen europäisch-islamischer Lebensweisen zu beobachten. Unter jungen konvertierten Muslimen beliebte Freizeitaktivitäten sind etwa Bergwanderungen oder Fahrradtouren, wie sie auch zum Grundrepertoire europäischer Freizeitgestaltung gehören. In einem muslimischen Frauenverein in Zürich wurde so unlängst von einer jungen Konvertitin ein Fahrrad-Reparier-Kurs angeboten. Auch Elemente christlicher Traditionen fließen in die islamische Praxis von Konvertiten ein. So bietet ein islamischer Kinderbuchverlag in der Schweiz islamische Ramadan-Kalender an, die an den weihnachtlichen Adventskalender angelehnt sind.

Die Konversion zum Islam kann im Rahmen einer Ehe mit einem muslimischen Partner auch eine symbolische Ressource zur Gestaltung des gemeinsamen Alltags darstellen. So meint ein Konvertit: "Als ich meine indonesische Frau kennenlernte, diskutierten wir viel. Auf welcher Basis würden wir unsere Beziehung gründen? Und wir sehen es nun so, dass der Islam unser gemeinsames Fundament bildet." Islamische Rituale wie das Gebet, aber auch Festivitäten wie Ramadan ordnen dann das gemeinsame Leben ebenso wie typische lokale Traditionen. Beliebt ist etwa in dem Schweizer Kontext das Zubereiten eines "islamischen Fondues" (zubereitet mit Apfelsaft statt Weißwein und Kirschschnaps) im Familien- und Freundeskreis. Hier verschmelzen dann im wahrsten Sinne des Wortes islamische Gastfreundschaft und Schweizer "Heimeligkeit".


Susanne Leuenberger (geb. 1978) ist Forschungsassistentin am Institut für Religionswissenschaft an der Universität Bern. Studium der Religionswissenschaft, Islamwissenschaft und Philosophie in Bern und Kairo. Sie arbeitet an einer vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Dissertation zu Schweizerinnen und Schweizern, die zum Islam konvertieren.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 8, August 2010, S. 422-426
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2010