Schattenblick → INFOPOOL → REPRESSION → FAKTEN


INTERNATIONAL/221: Milagro Sala - "Heute ist es sie, morgen kannst es du sein" (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 137, 3/16

"Heute ist es sie, morgen kannst es du sein"
Haft für die argentinische Aktivistin Milagro Sala

von Caroline Kim


Seit dem Regierungswechsel in Argentiniern vom Dezember 2015 häufen sich Angriffe auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte durch die neue neoliberale Regierung Mauricio Macris. Relativ unbeachtet von der internationalen Berichterstattung kämpfen soziale Basisorganisationen in Argentinien seit Monaten für die Freilassung einer ihrer wichtigsten Aktivist_innen. Milagro Sala ist seit ihrer willkürlichen Festnahme im Januar dieses Jahres in der argentinischen Provinz Jujuy ohne Gerichtsprozess in Haft. Ihre Festnahme hat bei sozialen Organisationen im ganzen Land heftige Proteste ausgelöst und ist emblematisch - vielleicht sogar der vorläufige Höhepunkt für die zunehmende Kriminalisierung der sozialen Organisationen, der Arbeiter_innen und des politischen Aktivismus durch die neue Regierungskoalition.


Sie ist die erste politische Gefangene der neuen argentinischen Regierung: Milagro Sala, soziale Basisaktivistin und heute eine der einflussreichsten Frauen Argentiniens, befindet sich seit Januar 2016 ohne Gerichtsurteil in Haft. Sala, von den einen verehrt, von den anderen gehasst, ist in den letzten Jahren zu einer unentbehrlichen politischen Figur und sozialen Referenz in der Provinz Jujuy im Norden Argentiniens geworden. Sie ist Kopf (und Herz) der sozialen Basisorganisation Túpac Amaru, die in den 1990er-Jahren als Reaktion auf die politische Krise der Provinz gegründet wurde.

Fehlende politische Repräsentation, inaktive Parteien und die "Unregierbarkeit" einer der ärmsten Provinzen des Landes - kaum ein Gouverneur konnte seine Amtszeit regulär beenden - haben zu einem politischen Vakuum geführt, in dem Raum für neue Formen der außerparlamentarischen politischen und sozialen Organisation entstand. Die Menschen, geplagt von Massenarbeitslosigkeit und -entlassungen, machten sich diesen Raum zu eigen und entwickelten eine neue Protestkultur, in der sowohl die gewerkschaftliche Organisation als auch die Energie der Arbeitslosen kanalisiert wurde.

In dieser definierten auch Frauen ihre Rolle neu und nahmen erstmals einen starken und aktiven Platz in den sozialen Protesten ein. Milagro Salas Figur ist in dieser Zeit gewachsen, heraus aus peronistischen Jugendbewegungen und Gewerkschaften. Heute ist sie für viele Frauen eine Referenz, die sie inspiriert und sie empowert.


Túpac Amaru

Ihre Organisation Túpac Amaru hat allein in Jujuy über 70.000 Mitglieder und ist als politische und soziale Akteurin in der Provinz nicht mehr wegzudenken. Die Túpac, wie sie in Kurzform genannt wird, ist Verteilerin von Ressourcen des Staates und der gesellschaftliche Kitt, der die Nachbarschaft organisiert und zusammenhält, für Ordnung sorgt und Protestpotential bündelt. Túpac setzt sich für die ein, die es am meisten benötigen - mit Wohnraum, Bildung, medizinischer Versorgung und sozialem Zusammenhalt.

Gefestigt hat sich die Stellung der Organisation vor allem seit 2003 durch die zunächst skeptische, dann immer fruchtbarer werdende Zusammenarbeit mit den Vorgängerregierungen von Néstor und Cristina Kirchner. Túpac Amaru ist ein Paradebeispiel für die Rolle sozialer Organisationen im Kirchnerismus als Mittlerin zwischen Staat und ärmeren Teilen der Bevölkerung auf lokaler Ebene. Eine relativ neue Erscheinung - politischer Aktivismus, der zwar nicht parteilich gebunden ist, aber dennoch sehr starke Verbindungen zur damaligen Regierungspartei Frente para la Victoria unterhielt.

Über die effiziente Verwaltung von Sozialprogrammen der Bundesregierung gewann die Túpac Bedeutung und Einfluss. Dabei bildete sie ein Flaggschiff in der Entwicklung von Kooperativen und dem damit verbundenen Wirtschaftsmodell, und sie setzte sich für Arbeiter_innen- und Menschenrechte ein. In den eigens gegründeten Kooperativen zur Umsetzung von öffentlichen Programmen zum Sozialen Wohnungsbau konnten vorhandene Mittel weitaus schneller, sparsamer und zielführender eingesetzt werden als von privaten Baufirmen und dabei weitaus mehr Menschen beschäftigt werden. Mehr als 8.000 Wohnungen und ganze Stadtviertel wurden in Jujuy von den Menschen gebaut, die später selbst darin wohnen sollten. Auch das benötigte Material wurde in kooperativ betriebenen Fabriken produziert, wodurch Mittelsmänner ausgeschaltet und die eingesparten Ressourcen in Gesundheitszentren, Schulen, Rehabilitations- und Freizeitangeboten innerhalb der Wohnblöcke investiert werden konnten. Die Implementierung der staatlichen Programme hat die Túpac Amaru zu einem der größten Arbeitgeber_innen in der Provinz gemacht. Mit dem Machtwechsel in Buenos Aires fällt nun die größte Finanzgeber_in für die Túpac weg.


Kult und Hass um Milagro Sala

Um Túpac Amarus unangefochtene Führungsperson Milagro Sala existiert geradezu ein Kult. Wichtige Entscheidungen werden zwar im Plenum diskutiert, aber das Sagen hat allein Milagro Sala. Sie leitet mit Härte und Disziplin. Es heißt, nicht wenige ihrer Anhänger_innen würden bis ans Äußerste für sie gehen.

Sala hat selbst auf der Straße gelebt. Ihr politischer Aktivismus hat sie aus der Marginalität geholt, weg vom Drogensumpf und einem Leben zwischen Knast und Straße. Dort ist sie allerdings durch eine harte Schule gegangen und hat sich den Respekt der Menschen erkämpft, durch Stärke, Strenge, Commitment und Geradlinigkeit. Deswegen ist sie wie die Organisation von den villeros - den Menschen, die in den Armenvierteln leben - akzeptiert, denn sie fühlen sich durch sie repräsentiert. Milagro Sala hat zudem die Fähigkeit, sich der konkreten Probleme der Menschen anzunehmen und sie oft gar zu lösen - mit staatlichen Mitteln. So wie es eigentlich sein sollte.

Doch durch ihr zunehmendes Gewicht ist die Organisation der Machtelite ein Dorn im Auge. Und Milagro Sala, als ihr Aushängeschild, wird als "Provokation" wahrgenommen. Denn in der stark von Rassismus und Klassismus geprägten Provinz geht es nicht nur um politische und territoriale, sondern auch um symbolische Macht. Milagro Sala ist das absolute Gegenteil genau dieser Machtelite, von der sie regelrecht gehasst wird: sie ist eine Frau, sie ist Schwarz, sie stammt nicht aus der Oberschicht, sondern aus dem Slum, sie sieht aus wie eine Indígena, so wie alle einfachen Menschen im Norden Argentiniens, deren sozialer Staus mit der dunklen Hautfarbe sinkt. Sie ist stolz, rotzig und trotzig statt unterwürfig - ein Affront. Social-Media-Kampagnen gegen sie sind oft von grauenhaftem Rassismus durchzogen.

Dass Sala, dieses "Negativ" der weißen Justiz- und Politikelite, Ansehen, Macht und Einfluss gewonnen hat und in ihrer Arbeit Prinzipien umsetzt, die den herrschenden Status quo herausfordern, ist für diese eine Verhöhnung.

Für sie ist die Túpac Amaru allemal eine Unruhestifterin und gefährlich aufgrund des enormen Protestpotentials, der politischen Mobilisierungskraft und ihrer Legitimation in der Bevölkerung. Mit ihren Anhänger_innen können sie die ganze Provinz lahmlegen. In den letzten Jahren gab es Dutzende (mittlerweile eingestellte) Anzeigen gegen Sala, bei denen es immer um Widerstand gegen die Staatsgewalt ging - Demonstrationen, Besetzungen, Auseinandersetzungen mit der Polizei. Aber die Túpac ist weit mehr als bloßer Protest.


Stadtviertel der Túpac

Die von der Túpac gebauten Stadtviertel sind eine Art Sozialbau, der seinesgleichen vergeblich sucht. In der britischen Zeitung The Guardian verglich der Journalist McGuirk das von Túpac gebaute Barrio Alto Comedoro mit einer ironischen Version der Country Clubs der Reichen, einer Kombination aus Vorstadt, disneyeskem Vergnügungspark und radikalem Sozialismus. Denn neben den Freizeitbädern wurden Nachbildungen indigener Kultstätten Tiwanakus gebaut, und auf den Wasserspeichern des Viertels prangt die gesammelte revolutionäre Ikonographie: die Konterfeis Che Guevaras, Evitas und Túpac Amarus, Widerstandskämpfer der Indigenen gegen die spanische Kolonialisierung. Die Sport- und Freizeitangebote sind symbolische Gesten, die aber auch dazu führen, dass in den Vierteln eine Community nicht nur durch das Wohnen im Ballungsraum entsteht, sondern durch gemeinsame Freizeitaktivitäten, die sonst nur Reichen vorbehalten sind. Die Wohnprojekte seien ein "Stinkefinger für Politiker_innen und private Bauunternehmen", so McGuirk.


Die Inhaftierung Milagro Salas

Nicht weiter verwunderlich, dass die neu gewählte Regierung - bestehend aus der bourgeoisen Elite der Provinz - alles daransetzt, die Organisation zu zerschlagen. Es ist der ehemalige Senator Gerardo Morales, der im Dezember 2015 zum neuen Gouverneur von Jujuy gewählt wird. Er tritt für die aus Oppositionsparteien zum Kirchnerismus bestehende Wahlallianz Frente Cambia Jujuy an, der lokalen Variante der Regierungskoalition Cambiemos auf Bundesebene. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Inhaftierung Milagro Salas.

Die Anschuldigungen gegen Milagro Sala sind vage und unhaltbar und wurden im Laufe der Anklage ständig verändert. Sie sind so vage, dass man leicht den Überblick verliert, warum sie eigentlich inhaftiert ist. Es ist eine politisch motivierte Verhaftung, die zudem aufgrund zahlreicher Unregelmäßigkeiten im Verfahren unrechtmäßig ist. Festgenommen wurde Milagro Sala zunächst am 16. Januar wegen eines friedlichen Protestcamps zur Zahlung von Sozialprogrammen und Wiederaufnahme des Dialogs mit der neu gewählten Regierung - die Anklage lautet: "Anstiftung zu kriminellen Aktivitäten". Nachträglich wurde die Anklage fallengelassen, Sala aber wegen anderer Delikte beschuldigt, wie Veruntreuung öffentlicher Gelder, öffentlicher Aufruhr, Nötigung, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Bei dem Vergehen, das letztendlich vor Gericht verhandelt wird, handelt es sich allerdings um einen Eierwurf aus dem Jahr 2009 auf den damals noch als Senator tätigen Morales, zu dem Sala angeblich aufgerufen haben soll.

Keiner der Tatbestände jedoch rechtfertigt die immer noch andauernde Präventionshaft, die unter höchst dubiosen Umständen zustande gekommen ist: mit einem ad hoc erweiterten Obersten Gerichtshof, der dann von ehemaligen Abgeordneten aus der Partei neu besetzt wurde, die zuvor für seine Erweiterung gestimmt hatten; mit per Dekret ernannten Staatsanwält_innen, mit Untersuchengen ohne Durchsuchungsbefehl, mit Aufnahme von Anklagen in der Ferienzeit der Gerichte, mit Diffamierungen der Verteidigerinnen von Milagro Sala und vielen weiteren Unregelmäßigkeiten, die gegen lokale und nationale Rechtsprechung verstoßen.

In Jujuy sind Justiz und Politik so sehr miteinander verknüpft, dass praktisch keine Unabhängigkeit existiert. Man könne gar nicht von Rechtsstaatlichkeit sprechen, erklärt der Journalist und Menschenrechtler Horacio Verbitsky. Zu alledem müsste Sala als Abgeordnete des PARLASUR eigentlich parlamentarische Immunität genießen - dennoch befindet sie sich seit über sieben Monaten ohne Gerichtsurteil in Haft.

Zahlreiche namhafte Organisationen und Einzelpersonen haben sich in einem Komitee für die Freiheit Milagro Salas zusammengeschlossen und verurteilen ihre willkürliche Verhaftung und die Kriminalisierung des sozialen Protests. Sie fordern einen verfassungsmäßigen, transparenten Prozess für Milagro Sala. Die Kampagne gegen Milagro Sala und die willkürliche Festnahme sei "Freiheitsberaubung unter dem Deckmantel juristischer Prozesse", heißt es dazu in einer Pressemitteilung.

Dass das unrechtmäßige Verfahren auf Bundesebene unterstützt wird, ist besonders besorgniserregend. Denn sozialer Protest und freie Meinungsäußerung werden als schwerwiegende kriminelle Handlungen dargestellt. "Heute ist es sie, morgen kannst es du sein" ist der neue Slogan der Kampagne zur Unterstützung Milagro Salas, der die Sorge der Aktivist_innen um ein immer aggressiver werdendes Klima gegenüber sozialen Protesten im wieder neoliberal regierten Argentinien widerspiegelt.


Zur Autorin:
Caroline Kim ist Redakteurin der Lateinamerika Nachrichten und lebt in Berlin. Sie hat vier Jahre in Buenos Aires gelebt und in Internationalen Programmen zur Bekämpfung von Menschenhandel sowie sozialen Projekten im Armenviertel Villa 31 gearbeitet.

*

Quelle:
Frauensolidarität Nr. 137, 3/2016, S. 21-23
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro plus Porto
Jahresabo: Österreich 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang