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INTERNATIONAL/319: Yoreme-Dörfer in Mexiko - Indigene Paradiese oder totgeschwiegene Gewalttaten? (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Mexiko
Yoreme-Dörfer: Indigene Paradiese oder totgeschwiegene Gewalttaten?

Von R. Aida Hernández Castillo


(Mexiko-Stadt, 8. März 2018, La Jornada) - 2017 das erste Mal in die Heimat meiner Grosseltern im Yoreme-Territorium im Bundesstaat Sinaloa zurückzukehren, war eine erschütternde Erfahrung. Es war das gewalttätigste Jahr der vergangenen zwei Jahrzehnte. Die familiären Yoreme-Wurzeln waren im Anekdotenschatz der Familie verschüttet - ausgelöst durch den Rassismus in der mexikanischen Gesellschaft, der dazu führt, die indigenen Abstammungen zu leugnen und das Kastenwesen hervorzuheben.

Als Anthropologin hatte ich mich auf das Thema der Maya spezialisiert. Doch meine Mitgliedschaft in der Forschungsgruppe für soziale und forensische Anthropologie (www.giasf.org) hat mich mehrere Male in die Yoreme-Regionen zurückgebracht und die Wege beschreiten lassen, die Don Anacleto und Doña Rosenda Hernández zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts aus der Sierra von Sinaloa wegführten. Dort gibt es eine Forschungszusammenarbeit mit der Gruppe Las Rastreadoras de El Fuerte. Ein Zusammenschluss von Müttern von Verschwundenen, die mit Spitzhacken und Spaten ihre verschollenen Kinder suchen und die Arbeit verrichten, die der Staat nicht machen kann oder will. Die Zusammenarbeit hat uns ein Phänomen vor Augen geführt, das vom akademischen Sektor wenig dokumentiert ist und von den staatlichen indigenen Einrichtungen in Sinaloa totgeschwiegen wird: das zwangsweise Verschwindenlassen der indigenen Yoreme-Bevölkerung und die Vertreibung ganzer Gemeinden als Folge der Gewalt.


Las Rastreadoras suchen nach Verschwundenen

Nach Daten der Nationalen Kommission für die Entwicklung der Indigenen Völker (CDI) leben die 28.000 indigenen Mayo-Yoreme in den Landkreisen El Fuerte, Choix, Guasave, Sinaloa de Leyva und Ahoma. Es sind genau die Landkreise, in denen Las Rastreadoras die größte Zahl geheimer Gräber gefunden haben. Doch es gibt bisher keine offiziellen Dokumente über das zwangsweise Verschwindenlassen der indigenen Bevölkerung und seine Auswirkungen. Geschweige denn Sonderprogramme für die Gewaltopfer. Allein im Dorf Capomos, einem zeremoniellem Zentrum der Yoreme mit 677 Einwohner*innen, haben sieben Familien verschwundene Mitglieder zu beklagen.

Die Mütter haben in der kollektiven Organisation der Rastreadoras die Kraft gefunden, weiter nach ihren Kindern zu suchen. Im Unterschied dazu erleiden viele Yoreme-Mütter die unaufgearbeitete Trauer in aller Stille. Von den 119 Körpern, die Las Rastreadoras zurückgewannen, konnten 109 identifiziert und ihren Familienangehörigen übergeben werden. Bei der Systematisierung der Geschichten dieser "aufgefundenen Schätze", wie die Frauen sie nennen, entdecken wir nach und nach Jugendliche, Männer, Frauen der Yoreme. Ihre Körper wurden ihren Familien überreicht. Dies half, und sei es nur ein bisschen, den Schmerz, den Ungewissheit und Straffreiheit hervorrufen, zu lindern. Die Yoreme-Familien sind dankbar, aber beteiligen sich wenig. Sie haben Angst zu sprechen, Angst, anzuklagen, Angst, nach Außen zu gehen. Wegen der Kinder, die bleiben. Wegen der Ehemänner, die aufs Feld gehen. Denn ihre Körper und Leben sind Wegwerfware. In Sinaloa scheint es die Lizenz zum Töten zu geben.


Gewalt und Vertreibung

In einem Interview mit der CDI-Delegierten für den Landkreis Ahome, erklärt diese uns, dass die Gewalt kein Problem für die Mayo-Yoreme sei. Niemand habe das Thema in den durchgeführten Diagnosen erwähnt. Nicht einmal die 60 Familien der Sierra Norte von Sinaloa, die seit 2012 aufgrund der Gewalt des organisierten Verbrechens vertrieben wurden und in extremer Armut im Landkreis Choix leben. Ihre aktuelle Hauptsorge als Delegierte, sagt sie uns, sei es, nicht genug Projekte zu haben, um die 40 Millionen Pesos unterzubringen, die sie bis Ende der Regierungsperiode ausgeben muss. Denn sie möchte das Zertifikat "Indigenes Paradies" bekommen. Es wird von der CDI seit 2015 vergeben, um den Tourismus in indigenen Gebieten zu fördern. Das Problem, so erklärt uns die Delegierte, sei folgendes: "Die Yoremes sind faul und produzieren schlechtes Kunsthandwerk, darum ist es schwierig, sie zu fördern." Offenbar leben die indigene Funktionärin und Las Rastreadoras in verschiedenen Realitäten.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2018

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