Schattenblick → INFOPOOL → REPRESSION → FAKTEN


INTERNATIONAL/334: Kolumbien - Nachforschungen bringen zehntausend staatliche Verbrechen unter der Regierung Uribe ans Licht (Teil 1) (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Kolumbien: Nachforschungen bringen zehntausend staatliche Verbrechen unter der Regierung Uribe ans Licht - Teil 1

Von Nicolás Herrera und Sergio Segura



Foto: marcha

Protest gegen die staatlichen Verbrechen
Foto: marcha

(Buenos Aires, 8. Juni 2018, marcha/poonal) - In einem Gespräch mit Omar Eduardo Rojas Bolaños, Co-Autor des Buches "Außergerichtliche Hinrichtungen 2002-2010. Blinder Gehorsam auf fiktiven Schlachtfeldern", erzählt er von den Ergebnissen seiner Nachforschungen. Das vor wenigen Monaten erschienene Buch von Omar Eduardo Rojas Bolaños und Fabián Leonardo Benavides Silva ist in Zusammenarbeit mit Wirtschafts- und Geschichtswissenschaftler*innen, Psycholog*innen und Soziolog*innen entstanden und bezieht verschiedenste Quellen ein. Damit ist es die bisher umfassendste und genaueste Studie zum Thema der falsos positivos in Kolumbien. Als falsos positivos werden zivile Opfer bezeichnet, die während des Bürgerkrieges von Soldat*innen der kolumbianischen Armee wahllos erschossen wurden und als gefallene Guerilla-Kämpfer*innen ausgegeben wurden, um so in den Genuss von Sonderprämien, wie Urlaub oder Beförderungen, zu kommen.

Artikel 11 der kolumbianischen Verfassung von 1991 legt kategorisch fest: "Das Recht auf Leben ist unantastbar. Es wird keine Todesstrafe geben." Von daher handelt es sich bei den außergerichtlichen Hinrichtungen [1] oder den falsos positivos um ein Morddelikt an Zivilist*innen, verübt durch das Militär. Auch wenn die Nachforschungen ergeben haben, dass die ersten Fälle bereits Mitte der 1980er Jahre registriert wurden, hat sich die systematische Praktik dieser Verbrechen erst mit der sogenannten "Demokratischen Sicherheitspolitik", der Aufstandsbekämpfungsstrategie unter der Regierung Álvaro Uribe Vélez (2002-2010), entwickelt. Ziel war es gedemütigte Guerillera-Mitglieder und militärische Erfolge zu zeigen.


Foto: marcha

Omar Rojas, Autor des Buches 'Außergerichtliche Hinrichtungen in Kolumbien, 2002-2010' Foto: marcha


Verwirrende Zahlen

Als Álvaro Uribe 2002 an die Macht kam, erklärte das Militär, dass die Aufständischen aus etwa 30.000 bewaffneten Personen bestünden. Am Ende seiner zweiten Amtszeit im Jahr 2010, präsentierten die gleichen Militärs folgende Zahlen: 19.405 Tote, 63.747 Festnahmen, 44.954 demobiliserte Aufständische. Das ergibt eine Bilanz von 128.106 Aufständischen, die entweder getötet, festgenommen oder demobilisiert wurden. Woher kamen all die getöteten, festgenommenen und demobilisierten Aufständischen auf einmal?

Die Zahlen zu den sogenannten falsos positivos sind verwirrend. Die Demokratische Sicherheitspolitik von Uribe spricht lediglich von 42 Fällen, in denen es zu einer außergerichtlichen Hinrichtung kam, während die Generalstaatsanwaltschaft im Jahr 2015 bereits 4.500 Fälle registriert hatte, die Menschenrechtsorganisation Kolumbien-Europa-USA CCEEU (Coordinación Colombia-Europa-Estados Unidos) 5.700 Fälle verzeichnete und weitere NGOs von bis zu 6.200 Fällen berichten.

Im Jahr 2010 bestätigte der Verteidigungsminister die Zahl der Gefallenen von 19.405. In einer Statistik von 2014 tauchten dann nur noch 15.925 Tote auf. Was ist mit den mehr als 4.000 Personen passiert, die in den offiziellen Zahlen nicht mehr auftauchen? Für Omar Rojas sind das falsos positivos: "Diese etwa 4.000 Toten kommen noch zu den über 6.000 falsos positivos hinzu, die von den NGOs angegeben werden. Damit haben wir über 10.000 Fälle. Das sagen selbst die Verantwortlichen für die außergerichtlichen Hinrichtungen", sagt Rojas und verweist auf die offiziellen Quellen, die das belegen. Und es geht noch weit darüber hinaus. So erzählt Rojas, dass "einer der Verantwortlichen, den wir interviewt haben, uns versichert hat, dass auch wenn es lediglich in 48 Fällen Beweise gegen sie gibt, er in Wahrheit mehr als hundert Personen ermordet hat".

Antioquia war das Departamento, dass durch diese Verbrechen am meisten Opfer zu beklagen hatte und gleichzeitig war es die politische Festung Álvaro Uribes. Das überrascht Rojas wenig und er gibt zu bedenken, dass "Antioquia eines der Departamentos ist, in dem es das größte Beziehungsgeflecht zwischen Paramilitär, Drogenhandel und Staatsdiener*innen - also Polizei oder Militär - gibt". Die Zahlen bestätigen dies. Die Berichte der Gruppe Historische Erinnerung GMH (Grupo de Memoria Histórica) geben an, dass von den 1.982 Massakern, die zwischen 1980 und 2012 von bewaffneten Gruppen verübt wurden, 598 in Antioquia stattfanden, was 30 Prozent aller Massaker entspricht. Zu diesen Massakern sollte man auch die Vernichtungspläne gegen die Partei Patriotische Union UP (Die Unión Patriótica ist eine sozialistische Partei in Kolumbien, die 1985 aus dem politischen Arm der Guerillaorganisation FARC-EP sowie der Kommunistischen Partei Kolumbiens PCC hervorging, Anm.d.Ü.) und die soziale Bewegung hinzurechnen, die 2007 von dem Senator Gustavo Petro und 2014 vom Senator Iván Cepeda Castro öffentlich verurteilt wurden. Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen den FARC-EP und der kolumbianischen Regierung im Jahr 2016, wurden allein in Antioquia 32 Anführer sozialer Bewegungen ermordet.


Das Wie und das Wer

In den staatlichen Verbrechen, genannt "außergerichtliche Hinrichtungen", waren alle bewaffneten Kräfte beteiligt: Die Armee, die Polizei, die Marine und die Luftwaffe. Laut Angaben des Buches errichteten sowohl die Polizei als auch die Armee Straßensperren. Sie hielten Busse an, gingen hinein, kontrollierten die Papiere und forderten junge Leute zum Aussteigen auf, die später wieder als Leichen auftauchten. Rojas erklärt, dass "90 Prozent der Verbrechen vom Militär verübt wurden, aber wir zeigen auch Operationen auf, bei denen alle bewaffneten Kräfte zusammengewirkt haben, z.B. beim Transport der Opfer in Helikoptern der Luftwaffe. Auch das Nationale Institut für Haftanstalten INPEC (Instituto Nacional Penitenciario y Carcelario) hat falsos positivos auf dem Gewissen, denn sie lieferten Gefangene ab, um sie hinrichten zu lassen".

Auch wenn der 2011 aufgelöste Inlandsgeheimdienst DAS (Departamento Administrativo de Seguridad) nicht direkt in die Verbrechen der falsos positivos verwickelt war, unternahm er doch zahlreiche Überwachungen und illegale Verhöre und versorgte den Staat und das Paramilitär mit den notwendigen Daten von Gewerkschafter*innen, sozialen Anführer*innen, linken Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen, um sie umzubringen. Das Buch berichtet auch darüber, wie paramilitärische Gruppen ungehorsame Männer aus den eigenen Reihen beim Militär ablieferten, um sie zu brechen und ihnen Gehorsam beizubringen. Zugleich kam es auch zu Infiltrierungen in die Bacrims (Bandas Criminales, Kriminelle Banden): "Die Militärs haben ihnen gesagt, das sie wüssten, wo die Waffen und das Geld der Guerilla versteckt seien und versprachen ihnen, wenn sie diese holten, die Hälfte der Beute. Als die Bacrims ankamen, trafen sie auf ein Einsatzkommando, welches sie eliminierte."

Rojas gibt zu bedenken, dass die bestehende Information über die Demobilisierung von Guerilla-Mitgliedern auch dazu benutzt wurde Geschäfte abzuwickeln, die auf gezielte Verbrechen hinausliefen. "Es war eine Allianz zwischen den staatlichen und paramilitärischen Kräften, wo es zu willkürlichen Verhaftungen kam, man Opfer hat verschwinden lassen und sie dann ermordete."

Auch viele der von Paramilitärs verübten Massaker wurden im Nachhinein in den Massenmedien als Niederschlagung der Guerilla dargestellt: "Sie gingen in ein Dorf, ermordeten zwei, drei Bauern, verständigten das Militär und dieses übernahm die Verantwortung für die Operation. Also sind es weder falsos positivos noch außergerichtliche Hinrichtungen; was diese Studie zeigt ist, dass es staatliche Morde sind. Das haben wir hinreichend mit Beweisen belegt."


"Hilfe" aus Nordamerika - Ohne Geld keine falsos positivos

Die Ausmaße der Studie zeigt, dass mit Hilfe der allseits bekannten wirtschaftlichen Vergünstigungen, der Ehrenauszeichnungen, Beförderungen, des Sonderurlaubs und weiteren Anreizen für die Militärs, das politische Ziel der Demokratischen Sicherheitspolitik erreicht wurde. Der Öffentlichkeit wurde gezeigt, dass die Operationen effektiv waren und dass die Militärs den Krieg gewinnen, finanziert durch die USA. Rojas berichtet: "Ein General der Armee, den wir für die Studie interviewen konnten sagte mir, dass alles möglich gewesen sei, weil es genug Geld gab, Geld von allen Seiten, und das habe man nutzen müssen, weil jeder die Hand nach dem Geld ausgestreckt habe. Die USA verlangte Ergebnisse für die Finanzierung des Plan Colombia. Dieses Geld wurde also auch für außergerichtliche Hinrichtungen genutzt, um den USA Ergebnisse präsentieren zu können. Ein anderer Geldtopf, der angezapft wurde, war ein spezieller Rücklagen-Etat, den Uribe allein für die Belohnungen nutzte. Ohne Geld keine falsos positivos. Zum Beispiel im Falle der falsos positivos von Soacha. Hier brauchte man Geld, um die Rekrut*innen, die oft Ex-Mitglieder von paramilitärischen oder militärischen Einheiten waren, zu bezahlen. Danach musste der Transport von Soacha nach Bucaramanga bezahlt werden, einigen wurde die Fahrt über den Landweg bezahlt und man gab ihnen einen Vorschuss, um sie glauben zu machen, dass die Arbeitsversprechen ernst gemeint waren. Sie haben Uniformen und Stiefel gekauft, Computer eingerichtet; sie kauften Waffen von den Paramilitärs, sie bezahlten die Anführer*innen, die Soldat*innen (...). Die Offiziere bereicherten sich nicht nur an diesem Geld, sondern heimsten darüber hinaus auch noch die Belohnungen ein; das war ein kriminelles Unternehmen. Die Beweise über die Herkunft dieses Geldes sind in dem Buch aufgeführt."

In einer Studie vom Versöhnungsbund FOR (Fellowship of Reconciliation) und der CCEEU wurde die Beziehung zwischen dem Plan Colombia und den falsos positvos untersucht. Man kam zu dem Schluss, dass ein hoher Prozentsatz der Offiziere, die sich für diese Verbrechen hergegeben hatten, in der US-amerikanischen Escuela de las Americas militärisch ausgebildet worden waren. So zeigt sich in der Studie auch die direkte Beziehung zwischen den falsos positivos, der imperialistischen Doktrin und der Ausbildung, die die Mitglieder des kolumbianischen Militärs von den USA erhalten hatten.


Die Verwaltung der Todesfälle

Keiner anderen Studie ist es bisher gelungen aufzuzeigen, dass es ein Davor, ein Während und ein Danach gab. Diese drei Planungsphasen wurden von verschiedenen Kommandeuren der Armee ausgeführt. Sie stimmten die Einsatzorte ab, an denen scheinbare Niederschlagungen der Guerilla stattfinden sollten, vereinbarten woher sie die Opfer nehmen und wie sie sie ermorden würden. Das heißt "kein falso positivo war ein Zufallsprodukt", so Rojas, alles war geplant.

Beim Davor spielte der psychologische Faktor eine große Rolle, sowohl der interne wie der externe. Rojas veranschaulicht dies: "Die Verantwortlichen für die psychologische Kriegsführung und auch der Geheimdienst näherten sich den Gemeinden, die es anzugreifen galt, an und sorgten dort für Unsicherheit, um die Gemeinden zum Schweigen zu bringen." Intern indoktrinierten sie die Soldat*innen, um sie glauben zu machen, dass sie die Moral der kolumbianischen Gesellschaft verteidigten und die Pflicht hätten, die kommunistischen castro-chavistischen Feinde zu eliminieren. Man sagte ihnen, dass der Feind im eigenen Land die Verteidiger*innen der Menschenrechte und die Anführer*innen der sozialen Bewegungen seien und überzeugten sie davon, dass der Kommunismus dabei wäre Kolumbien zu übernehmen. Diese Gruppe aus Verantwortlichen lud auch Journalist*innen ein, militärische Einheiten oder die Polizei für zwei oder drei Tage zu besuchen; sie schliefen mit ihnen im Urwald, ließen sie bei den militärischen Übungen zuschauen, um sie mit Stolz zu erfüllen. Als es dann zu den Hinrichtungen kam, hatten sie sich die Loyalität bereits erkauft."

Dann kam das Während, also die Ermordungen im eigentlichen Sinne (die immer noch geschehen) und die anschließende Inszenierung der Ermordeten. Das Danach zeichnet sich aus durch die Strategie der Desinformation und der Unterlassung von Untersuchungen. Ein neuer Akteur erschien auf der Bühne: Das Militärgericht. Dazu Rojas: "Die Militärrichter*innen kamen am Schauplatz der Verbrechen an, aber nicht um Untersuchungen durchzuführen, sondern um den Soldat*innen Anweisungen zu geben, wie sie ihre Aussagen machen sollten. In einem dieser Fälle kam eine Richterin des militärischen Strafgerichts zu einem Tatort, wo sie vier Jungen getötet hatten. Ein weiterer Junge war noch am Leben und als er die Richterin sah, rief er 'ich lebe', sie drehte sich daraufhin um und sagte 'ich habe nichts gesehen', danach erschoss ihn ein Soldat."

Zu alledem kommen noch die vermeintlichen Demobilisierungen der Paramilitärs hinzu, die nur ihren Namen in "Golf-Clan" oder "kriminelle Banden" abgeändert haben. Rojas weist darauf hin, dass nichts getan wurde, um den Paramilitarismus zu beenden: "Ich weiß wovon ich spreche, denn ich war im Militär. (...) Das Militär zwinkert den Paramilitärs zu. Es gibt Beweise, die wir auch im Buch aufzeigen, wo Paramilitärs Hand in Hand mit dem Militär und der Polizei patrouillieren. Ich habe in einem Dorf in Antioquia gelebt, wo die Paramiltärs regiert haben."

Fortsetzung folgt.


Anmerkungen:
[1] https://www.npla.de/poonal/anstieg-der-extralegalen-hinrichtungen-durch-sicherheitskraefte/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/poonal/kolumbien-nachforschungen-bringen-zehntausend-staatliche-verbrechen-unter-der-regierung-uribe-ans-licht-teil-1/


Der Text ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

*

Quelle:
poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
Köpenicker Straße 187/188, 10997 Berlin
Telefon: 030/789 913 61
E-Mail: poonal@npla.de
Internet: http://www.npla.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang