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SCHACH-SPHINX/04571: Scheu und schüchtern nachgeahmt (SB)


Groß ist die Versuchung, es den Vorbildern in der edlen Schachkunst nachzumachen. Also werden prompt Systeme nachgespielt, die die Heroen ins Leben gerufen hatten. Die ersten Züge sitzen noch fest im Gedächtnis. Aus lockerem Handgelenk spielt man aus, was an geraubtem Gedankengut in den Lehrbüchern geschrieben steht. Der siebte, achte Zug läuft reibungslos und in Gedanken träumt man bereits von der sagenhaften Kombination, die irgendwann wie selbstverständlich folgen muß. Die Verehrung der Meister als Götzen im Dienste einer eigensüchtigen Religion findet allerdings jäh ein Ende, als der Spielpartner den eigenen Kopf gebraucht und von der seligen Hauptvariante abweicht. Nun herrscht plötzlich Dunkelheit im obersten Kämmerchen. Ist man so auf sich allein gestellt, scheint die siegessichere Variante mit einemmal gar nicht mehr so vertrauenswürdig zu sein. Der Dialog mit dem Lehrbuch, der seine Schritte eben noch ungefährdet lenkte, wandelt sich jählings zur babylonischen Sprachverwirrung. Natürlich geht die Partie in die sprichwörtliche Hose. Doch statt aufzuwachen aus dem eitlen Wahn der Nachahmerei, läuft der Novize mit verzweifeltem Gemüt zum Buchheiligtum, blättert eilig nach und findet die Züge, die das Malheur verhindert hätten. Auf diese Weise beruhigt, entgeht ihm die Einsicht, daß Bücher nur totes Wissen vermitteln. Wer Siege scheu und schüchtern bloß kopieren will, wird nie zum Schlachtenlenker. Ihm ergeht es dann wie Meister Treybal, der im nächsten Zug, einem Luftgespinst nachjagend, 1.Lc5xb6? spielte und im heutigen Rätsel der Sphinx aufs heftigste von der Wirklichkeit eingeholt wurde. Also, Wanderer, was übersah der Träumer Treybal?



SCHACH-SPHINX/04571: Scheu und schüchtern nachgeahmt (SB)

Treybal - Lewitzky
Breslau 1912

Auflösung letztes Sphinx-Rätsel:
Eindeutiger geht's nimmer, dachte sich Meister Unzicker. Die Mattdrohung auf g2 wird mein Schlüssel zum Sieg: 1...Lf3-g2 2.Df1-f2 Sf6-g4 3.Df2-d2 Lg2-h3 - mit der tödlichen Drohung 4...Te8-e1+! Meister Honfi fand bis zuletzt keinen Ausweg aus dem Dilemma: 4.Lc1-a3 Sg4-e5 5.Sf5-h4 h7-h6 6.d3-d4 Se5-f3+ 7.Sh4xf3 Dc6xf3 8.d4xc5 g7-g6 und nachdem der schwarze König sich ein sicheres Fleckchen auf h7 geschaffen hatte, war gegen die Drohung 9...Te8-e2 nichts mehr zu erfinden.


Erstveröffentlichung am 05. Januar 2001

22. November 2012





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