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SCHACH-SPHINX/05294: Zeitloses Märchen von Seinsmächten (SB)


"Das Mittelalter", so der große Schachhistoriker Antonius van der Linde in seinem Werk 'Geschichte und Literatur des Schachspiels', "begnügte sich ungern mit der bloßen Äußerlichkeit: das nächste, gewöhnlichste mußte immer noch etwas Ferneres und Höheres bedeuten und nur die verkörpernde Hülle eines tiefer liegenden Sinnes sein. Mochte auch Symbol und Symbolisiertes nicht aufs schicklichte zueinander passen und die Verbindung beider das ethische und ästhetische Gefühl verletzen, um so willkommener gerade dem deutenden Scharfsinn." Aus diesem mystifizierenden Brunnen schöpften die Schriftkundigen das zeitlose Märchen vom Schach als eines im Kern die menschliche Gesellschaft abstrakt widerspiegelnden Spiels, also den Widerstreit zweier sich verbindender und gleichermaßen lösender Kräfte darstellend. Dieser vielbeschworene Dualismus, im Chinesischen sagt man nicht weniger demutsvoll Yin-Yang dazu, durchzieht natürlich viel ältere Schichten im Zivilisationsprozeß der Menschwerdungen, und so war das Schach nur ein gern verwendeter Reflektor von Zuständen, die durch Besitz, Unterscheidung und Zwang zur Richtlinie der Anpassung gemacht worden waren; nicht war es jedoch so, daß diese in irgendeinem kosmischen Buch oder einer Sternenweisheit als letzte und einzig gültige Weisheit standen, lange bevor es den Menschen gab. Und so wäre es billig, falsch interpretiert und zudem völlig nutzlos, im Schach eine Art Spiegel schicksalhafter Seinsmächte zu vermuten. Das Schach war der zweckentfremdete Steigbügel jener Interessen, die ihre Botschaft von der Unantastbarkeit der sozialen Verhältnisse und damit ihres Vorteils in ein "göttliches Spiel" verpackten. Kein Wunder also, daß der geistige Stand aus dem Schach eine Art Allegorie ihrer weltlichen Ansprüche machte. Ansprüche an den Sieg stellte auch der heute in Holland lebende Bosnier Ivan Sokolov, als er 1988 als 19jähriger an der Jugoslawischen Meisterschaft teilnahm. Da er sich nicht mit Mystizismus aufhielt, und auch keine Rechtfertigung brauchte für sein materielles Anliegen, hielt er den Aufwand gering und sparte sich die Kräfte für das Erringen des Meistertitels. So wirst du im heutigen Rätsel der Sphinx einen Weg finden müssen, Wanderer, wie Sokolov mit den weißen Steinen eine Mehrfigur behaupten konnte.



SCHACH-SPHINX/05294: Zeitloses Märchen von Seinsmächten (SB)

Sokolov - Abramovic
Jugoslawien 1988

Auflösung letztes Sphinx-Rätsel:
Die weiße Stellung war zum Erstürmen reif wie ein Apfel, der gepflückt werden wollte. So opferte Meister Rogers mit 1...La8xg2+! in die Rochadestellung hinein. Der Opferreigen hatte damit den ersten Ton angeschlagen, es folgte noch eine kleine Sieges- und Mattmelodie nach: 2.Kh1xg2 Tf8xf2+! 3.Kg2xf2 Db8-g3# oder 3.Tf1xf2 Db8-g3+ 4.Kg2-f1 Dg3- g1# bzw. 3.Kg2-h1 Db8-a8+ usw.


Erstveröffentlichung am 14. Dezember 2001

15. November 2014





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