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SCHACH-SPHINX/05452: Wirrwarr auf dem Papier (SB)


Niemand kann von einem Schachmeister erwarten, daß er sich auf dem Höhepunkt der Brettschlacht auf so etwas Nebensächliches konzentriert wie Schönschrift auf dem Partieformular. Wo die Schachuhr mit grauenhafter Eile tickt, auf dem Brett die Stellung brennt und Sieg und Niederlage nur durch schnelle Gedanken gewährleistet werden können, wer will sich da schon auf einen eleganten Federstrich besinnen. Doch was Erstklässler mühsam lernen, kann einem Schachspieler, sofern er es bis dahin nicht gelernt hat, eine ganze Partie kosten. Wie das? Nun, in der Bundesliga-Saison 1992/93 war es am Spitzenbrett zwischen Bayern München - ja damals leistete sich der Fußball-Klub noch eine Großmeisterriege von höchstem Format, heute nicht mehr, wegen Geldknappheit, wie man hört - und Erfurt-West zur Begegnung zwischen Robert Hübner und Kuczyinski gekommen. Daß ausgerechnet der Altphilologe und Ägyptologe Hübner auf seinem Formular einen krausen Hierogylpenwirrwarr abbildete, wollte der gestrenge Schiedsrichter nicht in Kauf nehmen. Da seiner Meinung nach die Partie nicht mehr nachvollziehbar war wegen Hübners unleserlicher Schrift, wurde seinem Kontrahenten der Punkt zuerkannt. Hübner kochte innerlich, war jedoch zu sehr Philosoph, um sich über den Kleingeist eines Zeitgenossen zu echauffieren und lächelte im Vorübergehen. Hinterher ging das Gerücht, die Bundesliga-Spieler hätten vor Beginn der nächsten Saison mit Feder und Tinte gerade Buchstaben zu schreiben geübt. Zum Glück hatte Meister Alexander Khalifman vorgesorgt und seine Züge fein leserlich aufs weiße Blättchen geschrieben, sonst hätte seine Gewinnpartie nicht im heutigen Rätsel der Sphinx veröffentlicht werden können. Lesen und Schreiben wollen gelernt sein. Das ist wahr, aber vielleicht sollte man im Ernstfall einer krakeligen Handschrift statt des Schiedsrichters einen Apotheker konsultieren? Meister Wisoschin hatte in Verkennung der Gefahr zuletzt 1...Dc7-d7? gespielt. Wie tief fiel er in seiner Ahnungslosigkeit, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05452: Wirrwarr auf dem Papier (SB)

Khalifman - Wisoschin
Moskau 1997

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Daß auch ein gutes Wort treffen kann, ins Herz, ins Hirn oder ins trübe Gedärm, das wußte auch Meister Jemelin, aber um wieviel mehr noch ein Läuferlanzenstoß wie 1.Ld4xe5+! Wozu das Opfer? Einen Augenblick Geduld, denn nach 1...d6xe5 2.Sd5-f6 sah Meister Nepomniaschtschi schon klarer, nur war es da schon zu spät: Die Folge 2...Le7xf6 3.g5xf6 Te8-g8 4.Td1-d8! schmeckte ihm nämlich ganz und gar nicht.


Erstveröffentlichung am 13. Mai 2002

22. April 2015


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