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SCHACH-SPHINX/05676: Licht verdirbt Auge und Charakter (SB)


Wenn die Sonne den Himmel in feurige Farben taucht, die Gräser unter der Glut aufstöhnen und alles Leben ringsherum in die Schatten flieht, schwelgt so mancher Schachmeister in seinen schönsten Träumen. Kein Drandenken, sich der Höllenhitze auszusetzen! Das Licht verdirbt Auge und Charakter, so mag wohl auch der Großmeister Fritz Sämisch gedacht haben, denn er unterließ es tunlichst, vor drei Uhr am Nachmittag aufzustehen. Sämisch war ein Kauz in seinem Verhalten, aber ein Genie in seinen Einfällen. Ihn beflügelte das Dunkel der Nacht. Wenn die Welt schlief, war für ihn der Raum frei für seine Gedanken. Nachtwandelnd trieb es ihn dann, nachdem er um Mitternacht seine erste Mahlzeit zu sich genommen hatte, nach draußen. So kam es nicht selten vor, daß er Freunde um vier Uhr morgens aus den Bett klingelte, um ein kleines Schwätzchen mit ihnen zu halten oder um diese oder jene Variante, die ihm im Kopf herumspukte, zu diskutieren; am besten natürlich bei einer Schachpartie. Ein Feind war er aller Hektik, weswegen er in seinen Partien auch häufig in Zeitnot geriet. Sein innerer Zeiger kannte keinen Takt. Was sich ihm in Gedanken auftat, das mußte er reiflich überlegen. Wenn er gekonnt hätte, am liebsten wäre er zwischen den Zügen spazierengegangen. Dieser Zug zur Langatmigkeit war auch Wolfgang Unzicker zu eigen. Tiefer Stellungsblick, Gründlichkeit in Vorbereitung, Planung und Ausführung zeichneten seine Partien aus, als er zum Beispiel auf der Mannschaftsweltmeisterschaft in Amsterdam seine Partien bestritt. Gegen den israelischen Meister Czerniak gelang ihm dabei mit den weißen Steinen ein ganz besonders schönes Stück. Czerniak hatte zuletzt 1...Ld7-b5 gezogen. Unzicker dachte jedoch gar nicht daran, sich mit einem Qualitätsgewinn abspeisen zu lassen. Statt dessen versank er auf dem Stuhl, ging im Kopfe spazieren, wie es Sämisch gerne tat und fand ... - nun Wanderer, das heutige Rätsel der Sphinx ist für deine Sohlen wie maßgeschustert!



SCHACH-SPHINX/05676: Licht verdirbt Auge und Charakter (SB)

Unzicker - Czerniak
Amsterdam 1954

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Der Pedant siegte über die Zerfahrenheit des Geistes, und Tschigorin fand, streng nach seinem Lebenssinn, das Matt in drei Zügen sogar blind: 1...Df2xg2+! 2.Kh1xg2 Le2-f3+ Kg2-f1 Sg4-h2#


Erstveröffentlichung am 20. Dezember 2002

06. Dezember 2015


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