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SCHACH-SPHINX/05795: Nachäffer von Gewesenem (SB)


Die Kunst ist etwas, das einem - anders als die Prophetengabe - nicht in die Wiege gelegt wird, wie der Volksmund im Sprichwort gern zum besten gibt. Nein, der feine, tiefgreifende Unterschied zwischen Spiel, Laune, schlicht Gewöhnlichkeit und dem, was musenbegnadet genannt wird, ist schwere Arbeit an sich selbst und seinem Handwerk. Perlen von Schweiß müssen beispielsweise erst auf die Stirn des Dichters treten, ehe er mit seinem Herzblut zu schreiben lernt. Nicht anders ergeht es den Schachmeistern von Jugend an. Bittere Lehrjahre gehen dem späteren Können und nuancenreichen Verstehen voraus und selbst dann ist erst die niedrigste Stufe der Vollkommenheit betreten worden. Wer etwas anderes als Vollkommenheit anstrebt, etwa den Lohn der Welt in Anerkennung und Ruhm, ist ein armer Wicht, sich selbst untreu geworden und kaum mehr wert als der schnöder Nachäffer von Gewesenem auf der Bühne der Eitelkeit. Unbescheidenheit jedoch ist kein Zentimetermaß, das man an irgendein Werk anlegen könnte. Bestenfalls Winkelkriecher und Applaushascher kämen dabei heraus. Nein, die Kunst fordert den ganzen Menschen, und nur hin und wieder, versteckt in einem Augenblick, taucht sie in den Partien derer auf, die wir Großmeister zu nennen uns angewöhnt haben. Nicht immer müssen es siegreiche Begegnungen sein, die uns eine Ahnung davon vermitteln, bisweilen tritt uns die Kunst auch in einem geistvollen Remis entgegen. Meister Walbrodt stand im heutigen Rätsel der Sphinx mit den weißen Steinen vor einem prometheischen Problem. Wie das Feuer vom Himmel stehlen? Schließlich drohte Schwarz die Partie mit Sb5-c3+! sofort für sich zu entscheiden. Sein Gegenangriff benötigte jedoch ein entscheidendes Tempo, Wanderer.



SCHACH-SPHINX/05795: Nachäffer von Gewesenem (SB)

Walbrodt - Mieses
Berlin 1897

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Aljechin zog auf 1.Lc1-b2 h7-h5! und stellte damit die Drohung h5-h4 auf, dem nur durch 2.h3-h4 zu begegnen war. Und damit lief der zweite Schritt im Plan Aljechins an, nämlich mit 2...f7-f6! den Durchbruch e6- e5 durchzusetzen. Und hier zeigte sich der Kern des Drohzuges 1...h7- h5: Der weiße Bauer auf g3 war schwach geworden. Der Rest lief danach wie von selbst: 3.Lb2-c1 e6-e5 4.f4xe5 f6xe5 5.Lc1-b2 e5xd4 6.e3xd4 b5- b4! und Weiß gab auf. Geholfen hätte unterdessen auch 5.d4xe5 Ld6xe5 6.Lc1-f4 Le5xf4 7.g3xf4 Ta4xf4 nicht. Ein nettes Endspielkleinod.


Erstveröffentlichung am 18. April 2003

03. April 2016


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