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SCHACH-SPHINX/05963: Im Dienste der Eigensucht (SB)


Die Versuchung ist groß, es den Vorbildern in der edlen Schachkunst nachzumachen. Also werden prompt Systeme nachgespielt, die diese ins Leben gerufen haben. Die ersten Züge ankern fest im Gedächtnis. Mit lockerem Handgelenk schüttelt man dann aus dem Ärmel, was an Gedankengut in den Lehrbüchern geschrieben steht. Der siebte, achte Zug, alles läuft reibungslos und im Geiste träumt man bereits von der sagenhaften Kombination, die irgendwann - war es der 20. oder der 21. Zug? - wie selbstverständlich folgen muß. Die Verehrung der Meister als Götzen im Dienste der Eigensucht findet allerdings jäh ein Ende, wenn das Gegenüber den eigenen Kopf gebraucht und von der seligen Hauptvariante abweicht. Nun herrscht plötzlich Dunkelheit im obersten Kämmerchen. Ist man so auf sich allein gestellt, scheint die siegessichere Variante einem mit einemmal gar nichts mehr zu sagen. Der Dialog mit dem Lehrbuch, der die Schritte ganz unverfänglich zum Sieg ihn lenkte, wird zum trügerischen Seiltanz. Natürlich geht die Partie in die sprichwörtliche Hose. Doch statt aufzuwachen aus dem eitlen Wahn der Nachahmerei, läuft der Novize mit verzweifeltem Gemüt zum Buchheiligtum, blättert eilig nach und findet die richtigen Züge. Beruhigend fallen alle Ängste und Zweifel zu Boden. Nun, da er den Weg gefunden glaubt, bemerkt er nicht, vielleicht weil er es nicht wissen will, daß Bücher totes Wissen sind, solange der Mensch nicht auf eigenen Füßen steht. Es wird zuletzt ein teurer Spaß, so warnt bereits das Sprichwort, wer sich mit fremden Federn schmückt. Überhaupt ist vor jeglichem Verkehr mit einem Traum zu warnen, sonst kommt man von einem Himmel in die Hölle, wie es Meister Treybal widerfuhr, als er, einem Luftgespinst nachjagend, nunmehr 1.Lc5xb6? spielte und im heutigen Rätsel der Sphinx heftig von der Wirklichkeit durchgeschüttelt wurde. Also, Wanderer, was übersah der Träumer Treybal?



SCHACH-SPHINX/05963: Im Dienste der Eigensucht (SB)

Treybal - Lewitzky
Breslau 1912

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Eindeutiger geht's nimmer, so dachte sich Meister Unzicker. Die Mattdrohung auf g2 wird mein Schlüssel zum Sieg: 1...Lf3-g2 2.Df1-f2 Sf6-g4 3.Df2-d2 Lg2-h3 mit der tödlichen Drohung Te8-e1+! Meister Honfi stand im Zugzwang und blieb es bis zuletzt: 4.Lc1-a3 Sg4-e5 5.Sf5-h4 h7-h6 6.d3-d4 Se5-f3+ 7.Sh4xf3 Dc6xf3 8.d4xc5 g7-g6 und nachdem der schwarze König sich ein schachsicheres Fleckchen auf h7 geschaffen hatte, war gegen die Drohung 9...Te8-e2 nichts mehr zu erfinden.


Erstveröffentlichung am 30. September 2003

19. September 2016


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