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SCHACH-SPHINX/06146: Erzürne keinen normannischen Herzog! (SB)


Genügsamkeit ist eine Zierde am Schachspieler. Sitzt er am Brette, so will er nur Schach spielen, und nichts erzürnt ihn dann mehr, als wenn er gestört wird; und mögen die Gründe noch so schwerwiegend sein, er verachtet sie bloß. In "Renaud de Montauban", einer Romanze aus dem 13. Jahrhundert, findet sich eine nette Passage, wo eben von dieser Einstellung die Rede ist. Richard, Herzog der Normandie, saß im Kerker seines Widersachers Renaud und wartete auf seine Hinrichtung. Um sich die Zeit zu vertreiben, bat er Renauds jungen Sohn Yvonet um eine Partie Schach. Dieser willigte ein, trat in die Zelle, und beide gaben sich ihrer Leidenschaft hin. Nach einer Weile schickte Renaud seine Lakaien aus, um den Gefangenen zum letzten Gang abzuholen. Nun sann Richard jedoch gerade über eine wunderschöne Kombination nach. Zu verlieren hatte er nichts mehr, aber diese eine Partie wollte er unter keinen Umständen unerledigt zurücklassen. So bat er die Henkersleute um Geduld, bis er seine Partie beendet habe, dann werde er kommen und sich hängen lassen, so Richard. Statt dessen drangen die Knechte in die Zelle ein und wollten den Herzog mit Gewalt vom Brett wegschleppen. Darauf ergriff Richard seine Dame und schmetterte sie dem einen über den Kopf, den zweiten erschlug er mit dem Turm und einen dritten streckte er mit seinem Läufer hin. Als die anderen den aufflammenden Zorn in den Augen des Herzogs sahen, verließen sie stehenden Fußes das Verlies. Die Schachfiguren waren früher eben massiver als heutzutage üblich. Nun endlich konnte sich Richard wieder niedersetzen und seine letzte Partie auf Erden mit dem jungen Adelssohn zu Ende spielen. Du erkennst daran, Wanderer, daß selbst hohe Staatsgeschäfte und Dringlichkeiten wie das Hängen am Galgen warten müssen, wenn eine Partie Schach ausgetragen wird. Keine Frage, daß auch der russische Großmeister Beljawski im heutigen Rätsel der Sphinx zu derart rabiaten Mitteln gegriffen hätte, wenn man ihn von der Beendigung seiner Partie gegen seinen englischen Kontrahenten Stean abzuhalten gewagt hätte. Also, Wanderer, Stean hatte zuletzt 1...Sd7-c5? gezogen und sollte es bitter bereuen.



SCHACH-SPHINX/06146: Erzürne keinen normannischen Herzog! (SB)

Beljawski - Stean
Luzern 1982

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Das Schwert auf den schwarzen König gerichtet, zog Kindermann 1.Sf5xg7! und gewann den ritterlichen Kampf nach 1...Kg8xg7 2.Le3-d4+ Kg7-g8 3.Dh3-h6 Sf8-e6 4.Tf1xf7! Kg8xf7 5.Ta1-f1+ und Schwarz gab auf.


Erstveröffentlichung am 29. März 2004

21. März 2017


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