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SCHACH-SPHINX/06568: Opfer unersättlicher Schnellebigkeit (SB)


Ja, in früheren Tagen wurden Turniere noch bis auf den letzten Zug mit strenger wissenschaftlicher Schärfe geführt. Nur die Bedenkzeit schränkte das Maß wohlüberlegter Züge ein. Ansonsten stand jedem Spieler die gesamte Schwungmasse seiner Gedanken zur Verfügung. Nach reiflichem Denkprozeß rückte er jeweils seine Figuren auf das bestmögliche Feld. Und gerade in den Stichpartien, die darüber entschieden, wer den Sieg und damit die Preisgelder einfuhr, wurden die Meister nicht unter Zeitdruck gesetzt und konnten nach bester Manier unter sich den Gewinner ermitteln. Diese Tradition hat spätestens seit Anfang der 1990er Jahren ausgedient. Ausgerechnet in den Stichpartien wurde die Bedenkzeit auf das erbärmliche Maß einer Schnellpartie heruntergedrückt. Plötzlich mußten die Meister in 20 Minuten in sogenannten "Tiebreaks" eine Art Jahrmarktsbudenschach spielen. Der hohe wissenschaftliche und auch künstlerische Anspruch ging damit mehr oder weniger vor die Hunde. Wer die Chronik dieser neuen Entwicklung erforscht, sieht sich von einem fassungslosen Dilemma eingeholt. Partien mit krummem Wuchs, zuweilen regelrecht verkrüppelt und unansehnlich, beherrschen weitgehend das Bild. Schauerlicher Höhepunkt dieser neuen Regelung war der WM-Kampf zwischen Anatoli Karpow und Viswanathan Anand in Lausanne. Man möchte man liebsten wegsehen vor dem Dilettantismus dieser Tiebreak-Partien, die dann notfalls sogar im Blitzschach heruntergerasselt werden. Die Entwicklung läßt sich wohl nicht mehr aufhalten, die Zeit siegte über den Geist, der den Forderungen einer unersättlichen Schnellebigkeit geopfert wurde. Im heutigen Rätsel der Sphinx aus dem 17. Interpolis- Turnier in Tilburg 1993 gewann Karpow den ersten Preis und 100.000 Gulden, nachdem dieser in der zweiten Tiebreakpartie über seinen Rivalen Wassili Iwantschuk triumphieren konnte. Iwantschuk spielte im Diagramm, gehetzt von der Zeit, 1.Se2xd4? und verlor nach 1...Sg6-e5+ 2.Kd3-e3 Se5-g4+ 3.Ke3-d3 Sg4-f2+ 4.Kd3-e3 Sf2-d1+ 5.Ke3-e2 - 5.Ke3-d3 Se4-f2+ - 5...Kd5xd4 6.Ke2xd1 Se4-c3+ 7.Kd1-c2 Sc3xa2 zunächst einen Bauern und schließlich die Partie. Nun, Wanderer, gesetzt, Iwantschuk hätte mehr Zeit zum Überlegen gehabt, wie wäre das Remis leicht zu erzwingen gewesen?



SCHACH-SPHINX/06568: Opfer unersättlicher Schnellebigkeit (SB)

Iwantschuk - Karpow
Tilburg 1993

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Zwar verlor Kasparow nicht so unsterblich wie seinerzeit Kieseritzky gegen das Königsgambit, dafür hielt er freilich auch nicht so lange durch. Kieseritzky wurde im 23. Zug mattgesetzt, Kasparow gab beim 15. Zug auf, weil er eine Figur einbüßte: 9.h2-h4! Th8-g8 10.Kf1-g1 g5xh4 11.Th1xh4 Dh6-g6 12.Dd1-e2 Sf6xe4 13.Th4xf4 f7-f5 14.Sf3-h4 Dg6-g3 15.Sc3xe4 und Schwarz gab auf wegen der kompromittierenden Folge 15...f5xe4 16.Tf4xe4+ Lb7xe4 17.De2xe4+ Ke8-d8 18.De4xa8 Dg3-e1+ 19.Lb5-f1


Erstveröffentlichung am 21. Mai 2005

18. Mai 2018


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