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REZENSION/004: Dr. Karsten Müller/Yakov Konoval - Understanding Rook Endgames (SB)


Dr. Karsten Müller/Yakov Konoval


Understanding Rook Endgames

New insights - Deep understanding - Helpful guidelines



Wer sich heutzutage ans Schachbrett setzt, unabhängig davon, ob er ein Turnier bestreitet oder aus reiner Lust am Spiel eine Partie wagt, der sollte nicht so sehr Mattbilder im Kopf haben, als vielmehr sich im Endspiel auskennen. Besser noch, er wappnet sich gegen Turmendspiele. Denn statistisch gesehen fällt die Entscheidung in 50 Prozent aller Partien in einem Turmendspiel. Mit strategischen Lehrsätzen oder theorieaffinen Eröffnungskenntnissen kommt man an dieser Stelle nicht weiter, um Materialvorteil oder positionelles Übergewicht zu verwerten. Gefragt sind mehr noch als alles andere präzise Manöver und exakte Berechnung. Nur muß man dazu wissen, daß jedes Turmendspiel in sich eine Schlüsselposition birgt, deren genaue Kenntnis und Anwendungssicherheit erst eine gewinnführende Operation oder die Rettung ins Remis ermöglicht.

Die letzte Phase einer Partie ist, trotzdem weniger Figuren auf dem Brett stehen, höchst kompliziert und erfordert über eine jahrelange Erfahrung hinaus eine Systematisierung der Schritte. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail, wie aber den Beelzebub erkennen, wenn die Uhr unbarmherzig die Bedenkzeit verschlingt und die Suche nach dem problematischen richtigen Zug die Gedanken verwirrt? Ein Buch hat die Eigenschaft, Kenntnisse zu vermitteln. Man lernt an Beispielen und entlang didaktischer Strukturen, aber in der heutigen Zeit des Überangebots an fachspezifischer Literatur ist die Auswahl ebenso groß wie tückisch. Je mehr Bücher im Verkaufsregal stehen, desto unsicherer ist die Hand. Welchem Autor soll man sich anvertrauen, welcher Methode den Vorzug geben?

Endspielliteratur hat vor allem das Problem der Nachvollziehbarkeit. Ein Meister kann auf seinem Terrain ein Virtuose sein und dennoch nichts von Wissensvermittlung verstehen. Seine Analysen mögen bestechend, grandios und zweifelsohne richtig sein, doch nützt es einem Laien oder erfahrenen Klubspieler, der die Endspiellücke in seinem Repertoire schließen möchte, herzlich wenig, wenn sich ihm keine Tür hinein öffnet und er staunend vor der Fassade resümieren muß, daß er außer Beifallklatschen nichts Substantielles mit nach Hause nimmt. An einem Haar hängt der Lerneffekt. Ist die Last zu groß, schwer geworden durch eine Fülle nebensächlicher, oft selbstverliebter Varianten, die von der eigentlichen Spur wegführen, hinterläßt dies beim Leser eine Wüste der Resignation. Wird im umgekehrten Extrem die Motivation nur mit Allgemeinplätzen gefüttert, die weder Fleisch ansetzen noch die Sehnen stärken, lernt man nie den Flug durch den Gewittersturm.

Karsten Müller und Yakov Konoval haben einen Mittelweg beschritten, der insofern den Erwerb notwendiger Kenntnisse auf dem Gebiet der Turmendspiele erleichtert, als die gesamte Bandbreite der Problematiken anhand von Fallbeispielen vor allem aus der modernen Turnierpraxis in eine systematische Gliederung geordnet und aufbereitet ist. Man wird sich allerdings mit dem Umstand anfreunden müssen, daß die begleitenden Textpassagen alles andere als in einen Roman ausufern. Das hat den Vorteil, daß nur erläutert wird, was zum Erfassen der Fragestellung notwendig ist. Ornamentik gehört insbesondere auf dem Felde der Eröffnungs- und Endspielliteratur in der Regel nicht zum bevorzugten Stilmittel von Gambit Publications Ltd. Der konziliante Gebrauch von Worten wird im englischen Sprachraum oft als weitschweifig und überflüssig empfunden, man gibt sich knapper, ist in der Sache eher pragmatisch orientiert. Aufs deutsche Gemüt mag dies zuweilen spartanisch wirken, weil die pädagogische Flankierung durch Lernhinweise und Erklärungshilfen weitgehend entfällt. Die Sparsamkeit der Worte soll jedoch den Verstand anregen, sich selbst auf den Weg zu machen, die Komplexität exemplarisch auszuforschen, was durch eine katechistische Vorgabe auf einen allzu engen Nutzwert verkürzt würde.

Vorbildlich am Buch ist, daß die Kapitel Turm und Bauer gegen Turm, Turm und zwei Bauern gegen Turm, Turm und Bauer gegen Turm und Bauer sowie Turm gegen Bauer in vielen Spielarten und Variationen durchexerziert und durch Fallbeispiele belegt werden. Den größten Raum nimmt allerdings die Rubrik Turm und zwei Bauern gegen Turm und Bauer ein, weil dieser Stellungstyp in der Turnierpraxis am häufigsten vorkommt und schon deshalb ein besonderes Augenmerk verdient. Karsten Müller gilt als einer der besten Kenner der Endspieltheorie und hat seinen Ruf mit einer Reihe lobenswerter Fachpublikationen gefestigt. Die Zusammenarbeit mit Yakov Konoval, der als Programmierer und Experte im Generieren von Endspieldatenbanken eine federführende Rolle spielt, hat das Buch in hohem Maße bereichert, nicht nur, weil berühmte Großmeister- und historische Partien auf den neuesten Wissensstand gebracht werden, sondern der Leser darüber hinaus einen Einblick in die Geschichte und Verwendung insbesondere der Sieben-Steine-Datenbanken gewinnt.

Bei aller kultivierten Kritik an Endspielautoren, in die sich Rezensenten gelegentlich fast schon mit exzentrischer Borniertheit verlieren, um auch noch das kleinste Haar in der Suppe zum erbeuteten Skalp aufzubauschen, darf nicht vergessen werden, welchen Sinn und Zweck Endspielliteratur tatsächlich hat. Die Suggestion zu erwecken, im Anschluß an die Lektüre eines Buches gleichsam mit hundert Argusaugen ins Wesen eines jeden Turmendspiels hineinblicken zu können, wäre angesichts der unverzichtbaren Praxis und Auseinandersetzung mit dem Thema nicht nur vermessen und hanebüchen. Es würde die Endspiellehre zudem von ihrer eigentlichen Aufgabe, einen Kompaß zur Orientierung anzubieten und mit der Grundlegung entwickelbarer Kenntnisse Lust am Weiterforschen zu generieren, um Lichtjahre entfernen und gewissermaßen an die Stelle der Lernschritte ein echte Fortschritte im Verständnis neutralisierendes Dogmensystem errichten. Vor diesem Hintergrund leistet das Buch eine verdichtete Ein- und Weiterführung in die Materie, die über das reine Erlernen von Prinzipien oder das verallgemeinerungswütige Plazieren von Merksätzen und Faustregeln hinausgeht. Die haben zudem nur beschränkten Wert, da die Folgerichtigkeit der Züge im Endspiel anders als die Strategeme des Mittelspiels keine Sache der Auslegung und Empfehlung ist. Gerade weil ihre Logik und innere Stringenz dem Auge oftmals fremd erscheinen, müssen sie durch Erfahrung und nachfassendes Analysieren erst einmal erschlossen werden.

Fehlentscheidungen der Großmeister, denen sie häufiger als man erwartet zum Opfer fallen, zum Lernstoff zu machen, mutet im ersten Moment zwar wie eine Überforderung an und strenggenommen stimmt das auch, aber wer tiefer in die Geheimnisse eindringen will, muß sich früh mit den Schwierigkeiten in der Entscheidungsfindung am Brett konfrontieren. Über den konkreten Umweg der Analyse tatsächlich einen Denkprozeß in Gang zu setzen, ist hierbei Struktur und probates Mittel zugleich. An diesem Punkt wird der Wert dieses Theoriewerkes deutlich: Auch wenn der Leser viele der im Buch herausgearbeiteten Erkenntnisse in seiner eigenen Praxis vielleicht nie zur Anwendung bringt, werden sie seine Auffassung vom Schachspiel und insbesondere der Turmendspiele schärfen und in einer Weise durchdringen, die es ihm späterhin erleichtert, im Dickicht des Waldes die notwendigen Muster zum Aufspüren der Remis- bzw. Gewinnpfade zu erkennen.

Darin drückt sich das Alpha und Omega im Studium der Turmendspiele aus. Es geht nicht darum, zu einer x-beliebigen Stellung den einzig korrekten Zug im Kopf zu speichern, um ihn bei Bedarf abzurufen. Gerade weil Lösungswege mitunter verquer zur Sehgewohnheit verlaufen und dem Denken kapriziöse Sprünge abfordern, ist es um so wichtiger, sie in die eigene Erfahrung einzubetten. Zur Abrundung finden sich zu jedem Kapitel Aufgaben samt Lösungsteil, um empirisch zu vertiefen, was Auge und Verstand gerade zu lernen beginnen. Understandig Rook Endgames versteht sich nicht als ein auf Konsum und Unterhaltung abgestelltes Kompendium endspieltheoretischer Aha- und Rationalisierungseffekte, sondern - ganz alte Schule - als fundierte Anleitung zum schachanalytischen Arbeiten: für den Laien und Lernenden eine wahre Fundgrube.

29. Juni 2016


Dr. Karsten Müller/Yakov Konoval
Understanding Rook Endgames
New insights - Deep understanding - Helpful guidelines
Gambit Publications Ltd 2016
287 Seiten, 24,30 Euro
ISBN: 978-1-910093-81-8


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