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ETHNOLOGIE/007: Provinz Aceh in Indonesien - Konflikte nach der Katastrophe (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 1/2010

Konflikte nach der Katastrophe

Von Birgit Fenzel


Bei den Diskussionen über das Verhältnis von Mensch und Klima geht es zumeist um die Auswirkungen menschlichen Handelns. Wie klimatische Ereignisse die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung beeinflussen können, beobachtete Arskal Salim bei Feldstudien in der indonesischen Provinz Aceh, die im Dezember 2004 von einem Tsunami getroffen worden war. Der Wissenschaftler arbeitete am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle.


Die Riesenwelle, die an Weihnachten 2004 über die Küsten im Golf von Bengalen hinwegrollte, hat das Schicksal vieler Menschen so verändert wie nur wenige Naturkatastrophen zuvor in der jüngeren Geschichte. Schätzungen zufolge fielen in den betroffenen Regionen rund 230 000 Menschen den Fluten zum Opfer. Am schlimmsten hatte es Aceh, die nördlichste Provinz der indonesischen Insel Sumatra, getroffen. Dort walzte die Welle über 800 Kilometer Küste, riss mehr als 160 000 Menschen in den Tod und hinterließ eine Schneise der Verwüstung. Mehr als 250000 Häuser wurden komplett oder teilweise zerstört.

Schlamm, Sand oder Erosion vernichteten rund 23330 Hektar Reisfelder und 126 806 Hektar weitere Anbaufläche, schätzungsweise 300 000 Landparzellen gingen verloren. Hinzu kam, dass viele Landmarken verschwanden - die Pfade und Bäume, die einst Grundstücksgrenzen in Küstennähe markierten, waren wie alles andere in den Fluten verschwunden. Abgesehen von den menschlichen Dimensionen dieser Katastrophe gerieten auch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung in den betroffenen Gebieten durcheinander.

"Es kam vermehrt zu Streitigkeiten", beschreibt Arskal Salim die konfliktträchtige Stimmungslage in Aceh nach der Katastrophe. Momentan unterrichtet der Experte für islamisches Recht am Institut zur Erforschung Muslimischer Kulturen der Aga Khan Universität in London. Zuvor hatte er drei Jahre lang am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/ Saale gearbeitet und dort unter dem Dach der Projektgruppe Rechtspluralismus das Rechtssystem des Inselstaates erforscht.

Im Rahmen seiner Studien verbrachte Salim, der selbst von der indonesischen Insel Sulawesi stammt, zwischen 2007 und 2008 insgesamt zehn Monate in Aceh. Während dieser Zeit entstanden gleich mehrere Arbeiten, die sich vor dem Hintergrund der Katastrophe mit dem spannungsreichen Verhältnis von staatlichen Zivil- und Religionsgerichten, Islam und dem Adatrecht als jenem vorislamischen und heute noch weitgehend geltenden ethnischen Recht der Gesellschaften im indonesischen Archipel befassten. "Ich wollte herausfinden, wie die Menschen ihre Konflikte in einem Rechtssystem lösen, das eine Vielzahl miteinander in Wettbewerb stehender Subsysteme, Gesetze, Normen und Wertvorstellungen zulässt", sagt Salim.


Landmarken und Urkunden einfach weggespült

Denn durch die vielen Todesfälle und Vermissten standen die Überlebenden plötzlich vor der Aufgabe, Eigentumsfragen neu zu klären. Dabei wurden Erbrechtsfragen ein wichtiges Thema. Viele der Überlebenden waren minderjährige Waisen. Nun galt es zu klären, wer das Sorgerecht für sie tragen sollte und wie sich gewährleisten ließ, dass sie im Zuge ihrer Volljährigkeit tatsächlich die ihnen zustehenden Häuser und Grundstücke erhielten. Doch mussten vor dem Wiederaufbau die Eigentumsverhältnisse an den Grundstücken zweifelsfrei geklärt werden.

Wie Salim bei seinen Rechtsrecherchen in der Post-Tsunami-Region feststellte, gestaltete sich dies in der Praxis alles andere als einfach. "Der Tsunami hatte auch Landmarken und Grundstücksgrenzen verschlungen", sagt Salim und nennt damit eines der großen Probleme, die bei der Klärung von Rechtsfragen im Wege standen. Weil auch die meisten Besitzurkunden und Dokumente in den Fluten verschwunden waren, sei es in vielen Fällen schwergefallen, Grundstücke oder deren Begrenzungen eindeutig zuzuordnen.

"Diese Situation bot für viele eine Gelegenheit, Ansprüche auf Land anzumelden oder den Besitz, den sie bei früheren Reformen verloren hatten, wieder für sich zu requirieren. Andere eigneten sich einfach so verlassene Parzellen an, deren ursprüngliche Besitzer oder Erben unbekannt waren", schildert der Forscher das Szenario nach der Katastrophe.

Nach den Fluten sei der Unfriede über die Region gekommen. Plötzlich hätten sich Nachbarn, die zuvor in friedlicher Harmonie lebten, über Grundstücksgrenzen und Nutzungsrechte gestritten. "Auf einmal gab es viel Neid zwischen den Leuten", beschreibt Arskal Salim seinen Eindruck von den gärenden Konflikten in den Dorfgemeinschaften. Wenn etwa ein Nachbar für den Wiederaufbau seines Hauses mehr Geld aus Hilfsfonds erhalten hatte als der andere, keimte die Missgunst jenseits des frisch gezogenen Gartenzauns.

Für Wissenschaftler, die sich wie der 39-jährige Salim für Konfliktlösungen innerhalb eines pluralistischen Rechtssystems interessieren, bot die Provinz im Nordosten der Insel Sumatra bei der Bewältigung der Folgen der Katastrophe reichhaltiges Anschauungsmaterial.


Katastrophe als Katalysator des Friedens

"Rechtspluralismus hat in Indonesien eine lange Tradition", so Salim über die Geschichte des Rechtssystems des Inselstaates, dessen Wandel und Wettbewerb der Normen, Gesetze und Gepflogenheiten ihn seit Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn interessieren. So sei schon zur Zeit der Sultanate im 16. Jahrhundert lange vor der Verbreitung des Islam ein Gewohnheitsrecht praktiziert worden, wobei die Vorstellungen des Adat darüber, was Recht ist, regionale Unterschiede zeigen.

Während der niederländischen Kolonialzeit, nach der Unabhängigkeitserklärung und im Rahmen der Bemühungen, einen modernen Zentralstaat zu schaffen, entwickelte das Rechtssystem immer neue Facetten. So erlaubte die indonesische Regierung in den frühen 1990er-Jahren, dass bestimmte Provinzen - oft mit ethnisch unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen - besondere Gesetze haben, die nur für sie gelten. "Paradoxerweise entwickelte sich diese Subkultur ausgerechnet vor dem Hintergrund der Bemühungen Indonesiens, eine einheitliche Struktur mit moderner, homogener Gesetzgebung zu schaffen", so Salim.

Diese Versuche der Vereinheitlichung des Vielfältigen kollidierten jedoch häufig mit den ethnischen Unterschieden und regionalen Besonderheiten in traditionellen Rechtsvorstellungen und Religionsgesetzen. Im Fall der Provinz Aceh wuchsen sich diese zu einem blutigen Bürgerkrieg aus, der rund 12000 Menschenleben kostete und fast 30 Jahre dauerte. Dabei ging es allerdings vor allem auch um die Kontrolle über die vielen Bodenschätze, die von der Zentralregierung und dem Militär beansprucht wurden. Beendet wurde dieser Konflikt acht Monate nach dem Tsunami durch ein Friedensabkommen, das Vertreter der Rebellenorganisation 2 "Bewegung Freies Aceh" und der indonesischen Regierung im August 2005 in der finnischen Hauptstadt Helsinki unterzeichneten.

"Die gegenwärtige Ordnung ist jenen gesellschaftlichen und politischen Vorgängen zu verdanken, die sich nach dem Tsunami abgespielt haben", so Arskal Salim über die Rolle der Naturkatastrophe bei diesem Prozess. Unmittelbar beeinflusst hat sie diese Veränderungen seiner Meinung nach nicht. Vielmehr funktionierte sie eher wie ein Katalysator. So scheint es fraglich, ob es ohne die fatale Riesenwelle zu dem Friedensabkommen gekommen wäre, das die "Bewegung Freies Aceh" und Vertreter der indonesischen Regierung unterzeichneten.

"Im Versuch, diesen blutigen Konflikt zu befrieden, hatte die indonesische Regierung der Unruheprovinz weitreichende rechtliche Zugeständnisse gemacht", erklärt Salim jenen Schritt, der den Weg zum Frieden ebnen sollte. Offiziell erhielt Aceh einen autonomen Sonderstatus, der nicht nur traditionelle Rechtsvorstellungen nach dem Adatrecht wieder legitimierte, sondern auch die Umwandlung der Religionsgerichte in autonome Institutionen der Scharia erlaubte. "Diese wurden mit weiterreichenden Befugnissen in der Rechtsprechung ausgestattet als andere Religionsgerichte außerhalb Acehs", sagt der Wissenschaftler.

Für ihn stellte sich jetzt die Frage, inwieweit die wiedergewonnene Autorität der Scharia oder religiöse Vorstellungen anderer Natur in rechtliche Konflikte hineinwirken, die durch den Tsunami aufgeworfen wurden. Das war sein Teilprojekt in Aceh, das er im Rahmen des vergleichenden Forschungsprojekts der Projektgruppe, geleitet von Keebet und Franz von Benda-Beckmann, ausführte. Speziell interessierte er sich dabei für Auseinandersetzungen, die sich um Landrechte drehten.

"Dazu muss man wissen, dass die Beziehung zwischen Landrechten und Islam in muslimischen Gesellschaften auf der Vorstellung basiert, dass Land etwas Heiliges ist und mehr als Treuhandgabe Gottes denn als Besitz oder Gebrauchsgegenstand betrachtet wird", erklärt Salim. Es sei zwar erlaubt, Land für produktive Zwecke zu nutzen, nicht aber es zu verschwenden oder auszubeuten. Diese Art Gemeinschaftsgüter sind typisch für die indonesischen Adatsysteme, die auch - im Gegensatz zum islamischen Recht - die Unverkäuflichkeit des Landes mit diesem rechtlichen Status regeln.


Unfrieden durch Kompensationszahlungen

In den zehn Monaten, die sich Arskal Salim zwischen 2007 und 2008 zu Feldstudien in Aceh aufhielt, stieß er auf zwei Fälle, die ihm Aufschluss darüber boten, wie die Bewohner dieser Provinz im Zweifelsfall ihre Gretchenfrage beantworten. Es ging um Landbesitz, der sich in einer der am schlimmsten betroffenen Regionen Acehs befindet: in Lhoknga, etwa 20 Kilometer südwestlich der Provinzhauptstadt Banda Aceh.

Dort hatten das Erdbeben und der Tsunami 2004 besonders schlimme Verwüstungen hinterlassen. So wurden nicht nur mehrere Schulen, ein Krankenhaus und viele andere öffentliche Gebäude zerstört, sondern auch die wichtigste Straße in der Region.

Die Schnellstraße, die die Gemeinde mit der Hauptstadt verbindet, wurde so schwer beschädigt, dass es besser schien, sie an anderer Stelle gleich ganz neu anzulegen. Die Eigentümer der Grundstücke, über die die neue Straße führen würde, sollten für den Verlust ihres Landbesitzes finanziellen Ausgleich erhalten. Das Geld dafür stand schon bereit. Es stammte von der United States Agency for International Development (USAID), der Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung. Für die Akquisition der Landparzellen war die indonesische Regierung zuständig. Doch in zwei Fällen erhob die Gemeinde Einspruch, und die Rekonstruktion der Hauptverkehrsader wurde auf Eis gelegt.

Konkret ging es dabei um zwei Grundstücke. Das eine davon, eine Parzelle von 6102 Quadratmeter, befand sich auf der rechten Seite der früheren Hauptstraße und sollte seinem Besitzer Kompensationszahlungen in Höhe von einer Milliarde Rupien (etwa 80 000 Euro) einbringen. Das andere umfasste 7204 Quadratmeter Land in der Küstenlinie und sollte mit 1 440 800 000 Rupien (etwa 115 000 Euro) ausgeglichen werden. Diese Summen beanspruchten zwei Männer für sich und konnten sogar Dokumente vorlegen, auf denen ihr Landrecht an dem jeweiligen Grundstück verbrieft war.

Einer der beiden besaß eine Urkunde über sein Recht an dem Grundstück auf der Grundlage einer Erbpacht. Dieses Recht hatte er von einer niederländischen Firma erhalten, die seit der Kolonialzeit Plantagen in der Region bewirtschaftete. Zwar hatte die indonesische Regierung Anfang der 1960er-Jahre Kolonialbesitz enteignet und in Staatseigentum umgewandelt, doch war der Eigentümer davon ausgegangen, dass sein Erbpachtrecht davon nicht betroffen war - hatte er sich doch im Jahr 1955 vorsichtshalber seine Ansprüche vom indonesischen Justizminister offiziell bestätigen lassen.

Trotzdem hätte er sein Erbpachtrecht nach 20 Jahren erneuern lassen müssen, denn Anfang der 1960er-Jahre war im Zuge einer erneuten Landrechtsreform die Erbpacht in Indonesien in ein zeitlich limitiertes Nutzungsrecht an Staatseigentum umgewandelt worden. Das hatte der Grundstückseigentümer jedoch versäumt, wobei er in dem Verfahren gegenüber der Behörde, die für die Kompensationszahlungen zuständig war, besondere Umstände geltend machte. "Er begründete dies damit, dass seit den späten 1950er-Jahren fast das ganze fragliche Gebiet vom Militär besetzt war und er deshalb seine Landrechte nicht erneuern konnte", so Salim.


Gretchenfrage im Duell der Rechtssysteme

Als Beweis präsentierte der Eigentümer einen Brief des damaligen Befehlshabers der Armee in Aceh, der ihm diese Aussage bestätigte. Als er überdies ein Schreiben des gegenwärtigen Militärbüros in Aceh vorlegte, das besagte, dass ihm die Armee sein Grundstück ganz offiziell wieder zurückgegeben hatte, stand der Auszahlung der Kompensationszahlung behördlicherseits nichts mehr im Wege.

Doch dann legte die Gemeinde Widerspruch ein und erhob selbst Ansprüche auf die Milliarde. Vertreten durch zwei Anwälte, reichten die Dorfältesten Klage beim Zivilgericht ein. "Damit konnten sie die Auszahlung vorerst stoppen, denn laut dem Handbuch für Landakquisition für öffentliche Infrastruktur in den Tsunamigebieten können solche Zahlungen nur erfolgen, wenn die Besitzverhältnisse eindeutig geklärt sind", erklärt Salim den Fortgang des Geschehens. Bei einem seiner Treffen mit Vertretern des Ältestenrates erfuhr er deren Sichtweise der Dinge. "Nach Meinung eines ihrer Mitglieder gehörte das Land als Gemeinschaftsgut allen und konnte demnach überhaupt nicht von Fremden erworben werden."

Wenn also in der Kolonialzeit die niederländischen Plantagenbetreiber Land erhalten hätten, dann könne dies niemals in Form von Besitztum erfolgt sein, sondern bestenfalls im Sinne einer Leihgabe in irgendeiner Form oder schlicht dadurch, dass sie es den eigentlichen Besitzern weggenommen hatten. "So hätte das Land nach dem Ende der Kolonialzeit wieder an seine ursprünglichen Besitzer zurückgegeben werden müssen", sagt Salim über die dieser Auffassung zugrunde liegenden adatrechtlichen Prinzipien.

Mit einem ähnlichen Argument habe die Gemeinde auch bei dem zweiten Grundstück die Kompensationszahlungen verhindert. Auch hier hatte der Anspruchsteller der Behörde amtliche Unterlagen vorgelegt. So besaß er ein Zertifikat von der indonesischen Landbehörde aus dem Jahr 1991, das ihn als Eigentümer der Parzelle auswies. "Rechtlich gesehen waren seine Besitzansprüche viel stärker als die des anderen Anspruchstellers, weil seine durch ein offizielles Verfahren nach dem neuen indonesischen Landrecht erteilt worden waren", erklärt Salim.

Trotzdem gelang es der Gemeinde durch ihren Widerspruch, die Auszahlung des Geldes zu verhindern. So landete der Fall vor dem Zivilgericht in Jantho, wo beide Konflikte mit der Gemeinde zusammen verhandelt wurden. Bei seinen Recherchen traf sich Arskal Salim mit der Richterin, die für dieses Verfahren den Vorsitz hatte. Von ihr erfuhr er, dass der Konflikt schon nach drei kurzen Anhörungen friedlich beigelegt wurde. Wie sie ihm erklärte, habe sie dabei nicht viel mehr getan, als den Parteien eine Kompromisslösung nahezulegen - ganz so, wie es das Gesetz in solchen Fällen vorschreibt.


In Truppenstärke zum Gerichtstermin

Dabei war es bei den drei Gerichtsterminen alles andere als ruhig und friedlich zugegangen. Denn inzwischen hatte die Gemeinde eine Vielzahl von Mitgliedern als Zuhörer mobilisiert, ihnen gegenüber saß die Anhängerschar des Erbpächters, die sich aus den Reihen früherer Widerstandskämpfer rekrutierte, die sein Sohn zusammengetrommelt hatte. Auch der zweite Grundbesitzer brachte zu den Anhörungen eine Zuhörerschar in Truppenstärke mit.

Die Lösung sei im Wesentlichen den Bemühungen eines Anwalts zu verdanken, der das Mandat von vier Dorfältesten der Gemeinde und einem Vertreter des Bezirks erhalten hatte. "Nach seiner Sicht hatte keine der Parteien eine besonders starke Position hinsichtlich der Landrechte", weiß Salim aus Gesprächen mit dem Rechtsvertreter. Doch damit hätte auch keine der Parteien Anspruch auf die Kompensationszahlungen gehabt. Das wiederum sei dem Anwalt so gar nicht recht gewesen, meint der Forscher: "Schließlich dachte dieser auch daran, woher die Gemeinde das Geld nehmen würde, um sein Honorar zu zahlen."

Da der Anwalt mit Sicherheit nicht vorgehabt habe, seine Dienste umsonst zu leisten, habe er nichts unversucht gelassen, um die Parteien an den Verhandlungstisch zu bekommen. Letztlich sei es der Erbpächter gewesen, der den Weg zu einem Kompromiss aufgezeigt habe. "Er bot an, einen Teil der Kompensationszahlungen für den Wiederaufbau der vom Tsunami zerstörten Moschee zu stiften", schildert Salim den ersten Schritt zur Lösung der Landstreitigkeiten. Danach hätten sich die Parteien noch eine Weile über die Höhe dieser Spenden gestritten, sich aber letztlich darauf geeinigt, dass beide Männer je 300 Millionen Rupien für den Wiederaufbau der Moschee an die Gemeinde zahlen.

Die Vorgehensweise der Parteien in diesem Konflikt sei charakteristisch für das Geschick der Menschen in Aceh, in einem pluralistischen Rechtssystem zu lavieren und buchstäblich zu ihrem Recht zu finden, sagt Salim: "Man erkennt, wie verschiedene Interpretationen von Fakten, Normen, Regeln, Institutionen, Akteuren, Motivationen und Interessen in Ansprüchen kulminieren, die sich in leidenschaftlich geführte Dispute verwandeln, und wie dann diese wiederum zu einer Lösung führen."

Dabei stammten die miteinander konkurrierenden Normen, mit denen die Streitparteien ihre Rechte an den Grundstücken reklamierten, aus der ganzen Palette, die das pluralistische Rechtssystem in Aceh zu bieten hat: Adatrecht, Erbpachtrecht aus der niederländischen Kolonialzeit, nationales Landrecht verschiedener Reformstufen und islamisches Recht. So gesehen erinnert das Verhalten der Menschen in diesem Teil des indonesischen Archipels an die Musterkunden eines schwedischen Möbelkaufhauses, das mit dem Slogan wirbt: "Entdecke die Möglichkeiten." Salim: "Die Art und Weise, wie die Acehnesen aus dem Angebot diverser Regeln und Normen, die der Pluralismus in ihrer Provinz bietet, jene Argumente herauspicken, von denen sie sich den größten Erfolg versprechen, hat etwas von Justification shopping."


Ziviler Papierkrieg statt Religionsrecht

Auch zu seiner Frage, welche Bedeutung religiösen Vorstellungen bei der Lösung von Landdisputen zukommt, bietet ihm dieser Fall interessante Indizien. "Angesichts der großen Rolle, die Religion im Alltag der Menschen in Aceh spielt, und der Betrachtung von Land als Gottesgabe, sollte man eigentlich davon ausgehen, dass sie in irgendeiner Weise auch hier zum Tragen kommt", meint der Forscher. Tatsächlich erinnere der Ablauf der Mediationsverhandlungen auf den ersten Blick an das traditionelle Verfahren islamischer Konfliktlösung, die Musyawarah. "Frei übersetzt würde dies so etwas heißen wie 'Reden, bis man eine Lösung hat'."

Üblicherweise sei dieses Prozedere in einen religiös-kulturellen Rahmen eingebettet. Es beginne mit einem gemeinsamen Gebet, am Ende entschuldigten sich die Streitparteien gegenseitig und man begehe ein gemeinsames Festmahl. Überdies finde das Ganze in einer Moschee oder zumindest in einem Gemeindehaus statt. All diese Rahmenbedingungen, die dem Prozedere religiösen Charakter verleihen, seien allerdings im Streitfall um die beiden Grundstücke nicht gegeben. "Die Initiative war vom Zivilgericht ausgegangen, das Ganze wurde von einem Anwalt vorangetrieben, Gebete und Festmahl fehlten und man hatte sich in einem Nebenraum des Zivilgerichts getroffen", so Salim über den säkularen Charakter dieser Mediation.

Auch auf der Ebene der Argumentation suche man vergeblich nach religiös inspiriertem Gedankengut. Stattdessen hätten die beiden Grundbesitzer einen Papierkrieg mit amtlichen Schriftsätzen und Urkunden nach den Regeln säkularer Rechtskunst geführt, wohingegen sich ihre Gegenpartei auf das Adatrecht berief. "Tatsächlich erschien Religion in diesem Verfahren nur auf der Ebene des Resultats der Konfliktlösung, indem sich die Parteien einigten, einen Teil der Kompensationszahlungen für den Wiederaufbau der vom Tsunami zerstörten Moschee zu verwenden", lautet das Fazit des Ethnologen und Rechtswissenschaftlers. Übrigens nahmen es die Beteiligten letztendlich nicht so genau, wie Arskal Salim Mitte 2008 bei einem weiteren Besuch in der Provinzstadt sah. "Die Moschee war nur teilweise renoviert, wobei man das Geld dafür aus der Staatskasse für Wiederaufbau erhalten hatte." Was mit der Spende der beiden Grundbesitzer geschehen war, erfuhr Salim von einem der Dorfältesten: Das Geld hatte man für die Parkplatzerweiterung vor der Moschee ausgegeben.


Glossar

Rechtspluralismus
Als Rechtspluralismus bezeichnet man die Koexistenz mehrerer rechtlicher Ordnungen in demselben sozial-politischen Raum (Dorf, Provinz wie in Aceh, Staat, bis hin zum globalen Raum). Inzwischen spricht man auch von global legal pluralism.

Scharia
Die religiösen Verhaltensanforderungen des Islam und des islamischen Rechts.

Adat
Umfassender Terminus, mit dem in den meisten ethnischen Gesellschaften Indonesiens Moral, Gewohnheiten, Gebräuche, gesellschaftliche Organisation, Recht und teils vor-islamische Glaubensvorstellungen angedeutet werden. Große Teile der rechtlichen Aspekte der Adats wurden in der Kolonialzeit als Adatrecht behandelt, das auch in der staatlichen Rechtsordnung als geltendes Recht anerkannt wurde. Aber auch jenseits dieser Anerkennung gelten viele adatrechtliche Institutionen als Dorf- oder Stammesrecht weiter. Adatrecht wird manchmal als Gewohnheit oder Gewohnheitsrecht übersetzt - was zu Missverständnissen führen kann, da die Adatrechte flexibel sind und sich den veränderten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umständen weitgehend angepasst haben.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 1/2010, Seite 69-75
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2010