Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → FAKTEN

FORSCHUNG/115: Warum wählen? - Experimentelle Studie (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 132/Juni 2011
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Warum wählen?
Viele glauben ans Gewicht der eigenen Stimme - zu Unrecht

Von Lydia Mechtenberg


Warum gehen Menschen zur Wahl, obwohl ihre einzelne Stimme doch kaum etwas beeinflussen kann? Eine experimentelle Studie zeigt, dass bei Wahlteilnehmern zwei kognitive Fehlleistungen zu beobachten sind: Selbstüberschätzung und Kontrollillusion. Viele Menschen glauben, dass sie beim Abstimmen weniger fehleranfällig sind als die anderen (Selbstüberschätzung) und dass sie mit einer nicht unbedeutenden Wahrscheinlichkeit den Ausgang der Wahl bestimmen werden, obwohl die wahre Wahrscheinlichkeit nahe bei Null liegt (Kontrollillusion).


Warum gehen Sie wählen? Auch wenn es am Wahltag in Strömen regnet? Ganz klar: Sie sind für die Demokratie und wollen Ihren Beitrag zu deren Fortbestand leisten. Das ist löblich - aber ist das wirklich der einzige Grund dafür, dass Sie zum Regenschirm greifen und sich ins Wahllokal begeben? Vielleicht wollen Sie ja auch Ihrem Ärger über die Regierung Ausdruck verleihen, indem Sie der Opposition Ihre Stimme geben. Aber könnten Sie Ihre Meinung nicht auf für Sie angenehmere Weise kundtun? Am Stammtisch? Beim Kaffeeklatsch? Könnte es sein, dass noch etwas anderes Sie motiviert, zur Wahl zu gehen? Glauben Sie womöglich, es käme auf Ihre Stimme an?

Für Politikwissenschaftler und Ökonomen ist der Glaube an die Macht der einzelnen Wählerstimme ein Mysterium, insbesondere wenn es um Urnengänge mit hoher Wahlbeteiligung geht. Wenn Millionen Menschen wählen - wie wahrscheinlich ist es dann, dass das Ergebnis anders ausgefallen wäre, wenn Sie Ihr Kreuzchen woanders gesetzt hätten? Die Wahrscheinlichkeit ist in den meisten Fällen verschwindend gering. Erstaunlicherweise wählen auch dann Millionen Menschen, wenn bereits bekannt ist, dass eine bestimmte Partei mit großem Vorsprung ins Rennen geht.

Wissenschaftler fragen daher: Wie weit geht der Glaube an die Macht der eigenen Stimme? Wie leicht oder schwer fällt es uns Menschen, in bestimmten Situationen einzusehen, dass es auf unsere persönliche Stimme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gar nicht ankommt?

Forscherinnen und Forscher der WZB-Abteilung Verhalten auf Märkten sind dem mit einer experimentellen Studie auf den Grund gegangen. Die Teilnehmer der Experimente sollten im Labor Geld für die Teilnahme an einer Abstimmung bieten können - obwohl es auf ihre Stimme fast gar nicht ankommen würde. Außerdem sollten die Teilnehmer möglichst leicht erkennen können, dass es für das Ergebnis der Wahl kaum entscheidend wäre, ob sie selbst daran teilnehmen oder nicht. Vollkommen rationale Teilnehmer sollten also nichts oder allenfalls ein paar Cent dafür bieten, an der Wahl teilnehmen zu dürfen. Die interessante Frage zu Beginn der Studie war natürlich, wie viel Geld die Teilnehmer bieten würden, um sich an der Abstimmung zu beteiligen.

Das erste Experiment konfrontierte die acht Teilnehmer mit folgender Situation: Sie sollten für A-Aktien und B-Aktien einer fiktiven Firma bieten. Von jeder Aktiensorte wurden fünf Stück versteigert. Jeder Teilnehmer konnte maximal eine Aktie pro Sorte ersteigern, also eine A-Aktie, eine B-Aktie oder eine A-Aktie und eine B-Aktie. Beide Aktiensorten waren aus finanzieller Sicht vollkommen identisch, sie warfen eine hohe Dividende von beispielsweise 20 Punkten ab, wenn der (fiktive) Manager der Firma gut war, und eine niedrige Dividende von beispielsweise zehn Punkten, wenn der Manager schlecht war. Der einzige Unterschied zwischen beiden Aktien bestand darin, dass die fünf Besitzer einer A-Aktie an einer Abstimmung über den Manager teilnehmen durften und die drei Teilnehmer ohne A-Aktie nicht. Nach der Versteigerung wurde die erste Dividende ausgezahlt. Die Höhe der ersten Dividende zeigte den Teilnehmern, ob der Manager gut oder schlecht war. Anschließend stimmten die A-Aktien-Besitzer ab, ob der Manager behalten oder durch einen neuen ersetzt werden sollte. Wenn mindestens drei A-Aktienbesitzer für bzw. gegen den Manager gestimmt hatten, wurde dieser behalten bzw. ersetzt.

Nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses wurde die zweite Dividende ausgezahlt. Auch hier bestimmte die Qualität des Managers die Höhe. Ein neuer Manager war dabei besser als ein schlechter alter und schlechter als ein guter alter. Die richtige Strategie bei der Abstimmung war daher eindeutig: Es war jedermann daran gelegen, bei einer hohen ersten Dividende am alten Manager festzuhalten, ihn jedoch zu feuern, wenn die erste Dividende niedrig gewesen war. Nach Zahlung der zweiten Dividende endete die Runde. Allen Teilnehmern wurde das Spiel genau beschrieben. Zudem wurde das Spiel 30 Mal wiederholt, damit die Teilnehmer durch Erfahrung lernen konnten.

Interessant war nun, ob die Teilnehmer für A-Aktien mehr bieten würden als für B-Aktien und wie groß der Preisunterschied sein würde. Wenn jemand konstant mehr für eine A-Aktie bot als für eine B-Aktie, bedeutete das, dass er bereit war, für die Abstimmung über den Manager zu zahlen. Einen anderen Grund konnte es nicht geben, denn aus finanzieller Sicht waren ja beide Aktientypen identisch. Das Ergebnis des Experiments zeigt eindeutig, dass vielen Teilnehmern das Abstimmen Geld wert war: Sie boten im Durchschnitt deutlich mehr für die A-Aktien als für die B-Aktien, der Preisunterschied betrug 13 Prozent des erwarteten finanziellen Werts der Aktien. Eine genauere Analyse der Daten zeigte eine interessante Aufspaltung der Teilnehmer in zwei Kategorien: Die Mehrheit platzierte dieselben oder zumindest ähnliche Gebote für A-Aktien und B-Aktien -ihnen war die Teilnahme an der Abstimmung also nichts oder fast nichts wert. Eine große und statistisch signifikante Minderheit jedoch platzierte für die A-Aktien viel höhere Gebote als für die B-Aktien - ihnen war also die Teilnahme an der Abstimmung viel Geld wert. Das Bietverhalten eines einzelnen Teilnehmers blieb über die Runden weitgehend konstant; die höheren Gebote für die A-Aktien drückten also eine konstante Bereitschaft aus, für die Teilnahme an der Abstimmung auf Einkommen zu verzichten.

Objektiv gesehen ist die Teilnahme an der Abstimmung aus finanzieller Sicht aber fast nichts wert. Um das zu begreifen, müssen zwei Dinge klar sein: Zum einen ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Stimme eines bestimmten A-Aktien-Besitzers für den Ausgang der Abstimmung entscheidend ist, da alle A-Aktienbesitzer dieselben Interessen haben und daher alle auf dieselbe Weise abstimmen sollten. Zum anderen spielt es in dem Experiment aus demselben Grund keine Rolle für den Ausgang der Abstimmung, wessen Stimme gegebenenfalls ausschlaggebend ist. Ob man selbst oder ein anderer zu den fünf Abstimmenden gehören wird, sollte daher vollkommen gleichgültig sein. Deshalb sollte man auch nicht gewillt sein, mehr für die A-Aktien zu bieten als für die B-Aktien.

Um diesen Gedankengang besser zu verstehen, muss zunächst die Wahrscheinlichkeit untersucht werden, dass die eigene Stimme für den Ausgang der Abstimmung entscheidend ist. Angenommen, Frau X nimmt an der Abstimmung teil. Dann ist ihre Stimme nur dann ausschlaggebend für den Ausgang, wenn genau zwei der anderen vier A-Aktien-Besitzer für den Manager stimmen und die anderen beiden gegen ihn - wenn es also ohne Frau X 2:2 für den Manager stehen würde. Doch wie wahrscheinlich ist das? Alle A-Aktien-Besitzer haben dasselbe Interesse, nämlich dass der Manager bei einer hohen ersten Dividende behalten und dass er durch einen neuen ersetzt wird, wenn die erste Dividende niedrig war. Alle A-Aktienbesitzer kennen die Höhe der ersten Dividende, wenn sie abstimmen, und wollen also alle dasselbe Abstimmungsergebnis erzielen. Wenn niemand beim Abstimmen einen Fehler macht, sollte es ohne Frau X, die fünfte A-Aktienbesitzerin, für den Manager also entweder 4:0 oder 0:4 stehen. Wie Frau X abstimmt, spielt dann keine Rolle, das Ergebnis kann nicht mehr gekippt werden.

Ein berechtigter Einwand ist, dass die Teilnehmer bei der Abstimmung durchaus Fehler machen, wenn auch mit geringer Wahrscheinlichkeit. Mit einer sehr kleinen, aber durchaus positiven Wahrscheinlichkeit kann es also passieren, dass sogar zwei von vier A-Aktienbesitzern aus Versehen falsch abstimmen und dass daher das Abstimmungsergebnis ohne die Stimme der fünften A-Aktienbesitzerin 2:2 ist. Selbst in einem solchen Fall ist es jedoch nur unter einer Bedingung von Vorteil für Frau X, selbst abzustimmen und das Votum zu entscheiden, anstatt die fünfte Stimme einem anderen Teilnehmer zu überlassen. Diese Bedingung ist erfüllt, wenn Frau X davon ausgehen kann, dass sie selbst mit geringerer Wahrscheinlichkeit fehlerhaft abstimmt als die anderen. Davon kann allerdings kein rationaler Teilnehmer ausgehen - diese Bedingung ist also nie erfüllt. Denn in den Daten finden sich keine "fehlerlosen" Teilnehmer, die in der Abstimmung mit höherer Wahrscheinlichkeit als die anderen ihr Kreuzchen an der richtigen Stelle setzen.

Das Experiment war also so konstruiert, dass kein rationaler Teilnehmer einen höheren Betrag für die A-Aktien bieten sollte als für die B-Aktien. Während eine Mehrheit der Teilnehmer das auch begriffen hatte, verhielt sich eine beachtliche Minderheit irrational im Sinne des Experiments, indem sie deutlich mehr für A-Aktien bot. Eine plausible Erklärung für ihr Verhalten bestand in der Annahme, dass den Teilnehmern aus dieser Gruppe zwei kognitive Fehler unterliefen: Selbstüberschätzung und Kontrollillusion. Selbstüberschätzung (overconfidence) liegt vor, wenn ein Teilnehmer annimmt, dass er selbst mit geringerer Wahrscheinlichkeit fehlerhaft abstimmen würde als die anderen. Kontrollillusion (illusion of control) hingegen bezeichnet die Überzeugung, selbst mit hoher Wahrscheinlichkeit für den Ausgang der Abstimmung entscheidend zu sein.

Um diese Erklärung für den Preisunterschied zwischen A- und B-Aktien zu testen, wurden alternative Erklärungen ausgeschlossen. Dazu gehörte die Vermutung, dass die Teilnehmer durch die Namen A- und B-Aktie irregeführt worden sein könnten: Da A vor B kommt, könnte der Name A-Aktie einen höheren Wert suggeriert haben als B-Aktie. Alternativ konnte es sein, dass manche Teilnehmer mehr Spaß daran hatten, an einer Abstimmung teilzunehmen, als den Ausgang des Votums nur abzuwarten. Um diese Alternativen ausschließen zu können, fanden mehrere Kontrollexperimente statt. In diesen Experimenten blieb der Ausgang des Votums ohne finanzielle Folgen - die Abstimmung wurde zur Umfrage. Es stellte sich erwartungsgemäß heraus, dass der Preisunterschied zwischen beiden Aktiensorten in den Kontrollexperimenten verschwand. Die Teilnehmer begriffen offenbar, dass die Label A und B nichts zu bedeuten hatten. Und auch die reine Freude am Mitmachen beim Votum war ihnen offensichtlich kein Geld wert. Die genannten alternativen Erklärungen für den Preisunterschied zwischen A- und B-Aktien im ersten Experiment wurden also ausgeschlossen.

Auch der nächste Schritt erhärtete die favorisierte Erklärung - nämlich die Vermutung, dass eine Kombination aus Selbstüberschätzung und Kontrollillusion viele Teilnehmer veranlasst hatte, mehr für die A- als für die B-Aktien zu bieten. Ein drittes Experiment wurde gestartet, das sich vom ersten nur darin unterschied, dass nun die Teilnehmer in jeder Runde direkt gefragt wurden, wie wahrscheinlich es aus ihrer Sicht war, dass ihre Stimme - wenn sie eine A-Aktie gewännen - für den Ausgang der Abstimmung entscheidend sein würde. Dieses Experiment hatte drei interessante Ergebnisse, die eindeutig für eine massive Kontrollillusion sprachen: Zum einen gab eine signifikante Minderheit von Teilnehmern an, sie glaubten mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit für den Ausgang der Abstimmung entscheidend zu sein - eine Einschätzung, die weit von der tatsächlichen, viel niedrigeren Wahrscheinlichkeit entfernt war. Diese Minderheit gab deutlich höhere Gebote für die A-Aktien ab. Zum anderen gab eine Mehrheit an, sie glaube, mit null Wahrscheinlichkeit für den Ausgang der Abstimmung ausschlaggebend zu sein - eine Einschätzung nah an der echten Wahrscheinlichkeit. Diese Teilnehmer boten fast dasselbe für A- und B-Aktien. Das dritte Ergebnis legt nahe, dass das Nachdenken über die Wahrscheinlichkeit des Einflusses der eigenen Stimme etliche Teilnehmer des dritten Experiments dazu brachte, ihre Kontrollillusion aufzugeben: Die Minderheit, die deutlich mehr für A- als für B-Aktien bot, war zwar immer noch beachtlich, aber doch kleiner als in dem ersten Experiment.

Insgesamt offenbaren die Experimente, dass Kontrollillusion im Verbund mit Selbstüberschätzung dazu führt, dass Menschen bereitwillig Kosten für die Teilnahme an Abstimmungen auf sich nehmen. Es ist also davon ausgehen, dass am Wahltag viele Menschen auch deshalb an die Urnen gehen, weil sie die Macht der eigenen Stimme über- und ihre eigene Anfälligkeit für Fehler unterschätzen. Doch das, was aus wissenschaftlicher Sicht irrational erscheint, kann für ein Kollektiv von Nutzen sein - und ganz besonders für eine Demokratie.


Lydia Mechtenberg ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin der WZB-Abteilung Verhalten auf Märkten. Sie wurde in Philosophie (Mainz) und Volkswirtschaftslehre (TU Berlin) promoviert und forscht unter anderem über Mikroökonomie, Bildungsökonomie, politische Ökonomie sowie Recht und Ökonomie.
Mechtenberg@wzb.eu


*


Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 132, Juni 2011, Seite 12-14
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2011