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FRAGEN/001: "Ethnische Pluralität löst keine Kriege aus" (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - 2/2007
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Fokus Gesellschaft im Konflikt

"Ethnische Pluralität löst keine Kriege aus"


Viele Konflikte werden als ethnisch wahrgenommen - fälschlicherweise. Günther Schlee, Direktor am Max-Planck-Institut für Ethnologie, analysiert kriegerische Auseinandersetzungen: Letztlich gehe es meist um Ressourcen. Im Kampf um Wasser, Öl und Weidegründe seien die Mitglieder der eigenen Ethnie dann nur nahe liegende Verbündete.


MaxPlanckForschung: Herr Professor Schlee, mit Ihrem Buch Wie Feindbilder entstehen wollen Sie einige Klischees widerlegen. Sie wenden sich vor allem gegen die These, dass ethnische und religiöse Konflikte der Hauptgrund sind für Kriege und Krisen seit den Neunzigerjahren. Was war der Ursprung dieses Gedankens?

SCHLEE: Ich bin ja nicht der Erste, der behauptet, Ethnien seien keine naturgegebenen Einheiten. Ethnien sind Konstrukte, das ist seit Jahren vorherrschende Meinung in den Sozialwissenschaften. Auch dass man religiöse Grenzen enger oder weiter ziehen kann und Religion nicht per se Konfliktursache ist, sondern in unterschiedlicher Weise von politischer Rhetorik instrumentalisiert wird, gehört zur allgemeinen Erkenntnis. Und nur wenige Historiker würden behaupten, dass es in Religionskriegen in erster Linie um Theologie geht. Genauso wenig ist Ethnizität die Ursache ethnischer Konflikte.

MPF: Aber die Medien sind voll von Berichten über ethnische und religiöse Ursachen in auseinanderbrechenden Staaten oder Bürgerkriegen?...

SCHLEE: Wenn man sich die Konflikte empirisch ansieht, stellt man fest: Ethnizität ist etwas, was sich im Laufe eines Konfliktes entwickelt und verändert. In Reaktion auf Grenzziehungen, auf Ausgrenzung und die Notwendigkeit, Allianzen zu gründen. So entstehen Feindbilder: Man zieht die eigene Gruppengrenze im Konfliktfall viel schärfer als sonst. Leider scheint die sozialwissenschaftliche Erkenntnis, dass Ethnien nicht naturgegeben sind, weder in die populäre noch in die wissenschaftliche Konflikttheorie vorgedrungen zu sein. Es gibt neuerdings im Jargon der Konfliktanalytiker auch eine Unterscheidung zwischen identity-based conflicts und resource-based conflicts. Ich halte das für eine völlig unsinnige Trennung.

MPF: Warum?

SCHLEE: Im weitesten Sinne ist jeder Konflikt ein Kampf um Ressourcen. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwort, wer gegen wen steht und wo die Fronten verlaufen. Dass es in bestimmten Konflikten um Öl oder Wasser geht, determiniert noch nicht, wer sich gegen wen verbündet. Fakt ist: Wer schwächer ist, sucht sich Verbündete, mit denen er den Erfolg später teilen muss. So weit reicht eine Erklärung, die ausschließlich den Wert von Ressourcen und den des Einsatzes betrachtet, den man zu ihrem Erwerb oder ihrer Verteidigung leistet. Die Anzahl der notwendigen Verbündeten kann man so vielleicht noch gerade erklären. Wer das aber sein wird, unterliegt nicht ausschließlich dieser ökonomischen Logik. Bei der Wahl der Verbündeten spielt eine Rolle, bei wem man identitäre Anknüpfungspunkte findet, mit wem man sprachliche, kulturelle oder religiöse Gemeinsamkeiten hat.

MPF: Die Kriege auf dem Balkan wurden gerne mit historischen Gegensätzen zwischen den Volksgruppen und Religionen erklärt. Dabei weisen Sie in Ihrem Buch nach, dass es noch in den Siebzigerjahren in Jugoslawien ein friedliches Zusammenleben, eine gemeinsame Identität und Sprache gab. Wie erklären Sie sich dann die blutigen Konflikte in den Neunzigerjahren?

SCHLEE: Es ist aufschlussreich, den Beginn dieser Konflikte topografisch zu betrachten. Angefangen hat der Verfall Jugoslawiens im Nordwesten und er ist dann nach Südosten vorangeschritten. Die erste Republik, die sich abspaltete, war Slowenien: Der wirtschaftlich fortschrittlichste Teil hatte allen Grund, seine Ressourcen für sich zu behalten - und nicht mehr mit den anderen zu teilen. Natürlich hat es auf dem Balkan seit dem 19. Jahrhundert Nationalismen und Mikro-Nationalismen gegeben, aber dass es die gab, bedeutet ja nicht, dass sie auch in jedem Falle politisch obsiegen mussten. Erst mussten für relevante Gruppen von Akteuren die Anreize stimmen, und dann wurde allerlei nationalistisches Gedankengut instrumentalisiert, um eine politische Neuordnung einzuleiten.

Hier mischen sich ökonomische Kalküle und die Komponente von Inklusion und Exklusion - die bewusste Ausgrenzung einzelner Gruppen. Das spielt in fast jede politische Entscheidung hinein, bei der es um Allianzen und Frontverläufe geht. Rein ökonomische Erklärungen für einen Konflikt, etwa Kosten-Nutzen-Rechnungen im Sinne der rational choice theory, bedürfen immer der Ergänzung durch eine Theorie der sozialen Identifikation. Dass man eine Entscheidung streng nach individuellen Interessen fällt, ist eher unwahrscheinlich. Das kann man ja auch im Kleinen beobachten: Meist trifft man berufliche Entscheidungen in Abhängigkeit von einer Gruppendefinition, etwa mit Rücksicht auf die Familie. Überzeugte Nationalisten oder Anhänger von Religionsgemeinschaften ziehen diese Gruppengrenzen noch weiter.

MPF: Wie entstehen denn Feindbilder auf der staatlichen Ebene? Gehen sie meist von Eliten aus, die sich vom Krieg Profit oder eine Machterweiterung versprechen?

SCHLEE: Häufig ist die Bildung und Verbreitung von Feindbildern elitengesteuert. Es müssen aber nicht unbedingt die Eliten, die wirtschaftlich Einflussreichen oder Gebildeten sein, die solche Prozesse steuern: Auch der Terrorismus hat einen stark polarisierenden Effekt. Wer in eine Menschenmenge hineinschießt, kann extreme Reaktionen hervorrufen.

MPF: Wissenschaftler sprechen von der Asymmetrie der neuen Kriege und Konflikte.

SCHLEE: Obwohl das kein neues Phänomen ist. Bereits die Antike kennt die Auswirkungen von politischem Mord und Terror. Fakt ist: Wenige Täter genügen, um Millionen Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen und die politische Lage eskalieren zu lassen. Es kann dann leicht passieren, wie wir das etwa in Jugoslawien erlebt haben, dass einzelne Bevölkerungsgruppen bei der eigenen Miliz Zuflucht suchen oder sich, in Fällen, in denen die Volks- oder Religionszugehörigkeit fast vergessen war, dadurch erst wieder bilden. Solche Prozesse werden leicht durch radikale Minderheiten ausgelöst. Auch im heutigen Afghanistan und im Irak kann man das täglich beobachten: Es erfordert immer einen viel geringeren Aufwand, einen gezielten politischen Mord oder ein Attentat zu begehen als solche Anschläge zu verhindern. Der Aggressor ist dabei stets im Vorteil. Erschreckend ist allerdings, wie skrupellos die Selbstmordattentäter vorgehen - sie nehmen in Kauf, dass nach dem Zufallsprinzip völlig unbeteiligte Menschen sterben.

MPF: Inwieweit hat sich denn der Charakter der Konflikte seit dem Ende des Kalten Krieges verändert? Es fällt auf, dass in Ihrem Buch der Begriff der Ideologie fast gar keine Rolle spielt.

SCHLEE: Der Ost-West-Konflikt ist zwar nun schon seit einigen Jahren vorbei, doch stattdessen haben wir das Aufreißen neuer Fronten erlebt. Seit 1990 und speziell seit dem 11. September 2001 hat sich die Nato neue Feindbilder gesucht, wobei der Islam gezielt in ein ungünstiges Licht gerückt wurde. Westliche Politiker haben dazu beigetragen, dass neue Feindbilder konstruiert wurden. Auf der Gegenseite - bei militanten Islamisten - gab es wiederum Ideologen, die genau das hören wollten, weil sie an einer Polarisierung, an einer Radikalisierung von Konflikten interessiert sind. Es wird zusehends schwieriger, als gemäßigter Muslim friedlich zu leben, wenn die radikalen Kräfte ständig an Einfluss gewinnen. In meinem Buch habe ich in diesem Zusammenhang den Prozess der Purifizierung erläutert: Die immer striktere und engere Definition, wer ein wahrer Muslim oder ein wahrer Christ ist, entscheidet darüber, welche Gesellschaftsgruppen man von der Macht ausschließen kann, indem man ihnen unterstellt, dass sie nicht die reine Lehre befolgen. Bei diesem Prozess geht es nicht nur um die Deutungshoheit, also um Glaubensfragen. Oft stecken handfeste Interessen dahinter: der Kampf um die politische Macht und die Ausschaltung möglicher Gegner.

MPF: Ihre Beschreibung könnte zum heutigen Iran passen, wo eine Kaste von religiösen Führern die Deutungshoheit über die Religion, aber auch über die Politik beansprucht.

SCHLEE: Ich denke schon. Aber der Begriff ist auch anwendbar auf viele traditionelle afrikanische Gesellschaften, in denen der Chief oder der Herrscher Speisetabus und Rituale befolgen und überwachen muss. Wir sollten uns übrigens nicht immer nur auf den Islam konzentrieren. Auch in westlichen Gesellschaften kann man mit Hilfe von Tabus und Verboten Menschen von der Macht ausschließen - denken Sie nur an die strikte Auslegung einer monogamen Sexualmoral. In den Vereinigten Staaten werden Politiker auch heute noch danach beurteilt, ob sie brave Familienväter sind. Selbst kleinere Jugendsünden werden im Wahlkampf instrumentalisiert. Man kann gewisse Reinheitskriterien immer höher schrauben, um Konkurrenten zu diskreditieren und von der Macht auszuschließen.

MPF: Was kann die Konfliktforschung, was können westliche Wissenschaftler von der Begegnung mit Afrika lernen?

SCHLEE: Grundlegende Konfliktkonstellationen lassen sich an allen möglichen Beispielen untersuchen. An größeren und kleineren Gesellschaften, an Agrar- oder Industriegesellschaften, an historischen und gegenwärtigen Gesellschaften. Um genügend Anschauungsmaterial für unsere Analysen zu bekommen, lohnt es sich, möglichst viele Fälle vergleichend zu studieren. Die ethnographischen Gesellschaften bilden dabei gar keine besondere Fallklasse: Auf dem Dorfplatz eines afrikanischen Ortes geht es genauso um Verrat, Ausschluss von der Macht, Allianzwechsel, Demagogie oder das Prinzip von Mitläufer und Führer. Diese Gesellschaften sind uns strukturell ähnlicher, als wir wahrhaben wollen. Aber es gibt noch einen zweiten Grund, afrikanische Gesellschaften genauer zu betrachten: Eine ganze Reihe von aktuellen gewaltförmigen Konflikten spielen sich in einem Bereich ab, in dem längst nicht alle Akteure Staaten sind - oder auch nur mit Staaten etwas zu tun haben. In afrikanischen Konflikten verlaufen die Fronten meist ähnlich kompliziert: Ein Teil der Akteure zählt zwar zur Polizei, zum Militär, zur lokalen Verwaltung, aber auch diese Akteure repräsentieren nicht den Staat; oft verfolgen sie vielmehr private Interessen.

MPF: Politologen, für die der Staat noch immer eine wichtige Kategorie darstellt, dürften bei dieser Gemengelage ihre Probleme bekommen.

SCHLEE: Nun, die Grenze zwischen staatlich und nicht staatlich ist in vielen dieser Länder fließend. Zumal neben diesen halbstaatlichen Akteuren auch prästaatliche Machtstrukturen existieren: Klane, Abstammungslinien, Stämme. Wie schwierig es ist, in diesen Regionen politische Grenzen festzulegen, haben die Versuche der einstigen Kolonialherren gezeigt. Die Briten haben in Kenia Distriktgrenzen gezogen und gegen den Widerstand vieler versucht, Bevölkerungsgruppen auseinanderzusortieren und bestimmten Gebieten zuzuordnen - heute allerdings berufen sich gewaltsame Akteure auf diese kolonialzeitlichen Ansprüche, als wären sie naturgegeben. Auch Politiker rekurrieren auf willkürliche Grenzen, indem sie mögliche Wähler in ihren Wahlkreisen versammeln, weniger loyale Gruppen aber vertreiben. Einerseits spielt die moderne Verwaltungsordnung und die Konkurrenz um politische Ämter in die lokalen Konflikte hinein; andererseits geht es oft um ganz traditionelle Konflikte um Weide und Wasser. Unterschiedliche Gruppen von Akteuren haben unterschiedliche Wahrnehmungen, worum es eigentlich geht. Auf derselben Seite zu stehen, bedeutet noch nicht, dieselben Ziele zu haben.

MPF: Sind das nicht Konflikte, wie sie Europa vor etlichen Jahrhunderten ganz ähnlich erlebt hat?

SCHLEE: Natürlich. Ein Banden- oder Klanchef, der in einem afrikanischen Bürgerkrieg kämpft, lässt sich durchaus mit dem Gewaltunternehmer im frühen Mittelalter vergleichen. Auch damals fehlte in Europa ein staatliches Gewaltmonopol. Aus dem organisierten Verbrechen einer Epoche entsteht die Aristokratie der nächsten. Vom Raubrittertum zu einer stabilen feudalen Ordnung bis hin zum Nationalstaat war es ein weiter, oft gewaltsamer Weg. Der Aufstieg Englands zur Weltmacht wäre beispielsweise ohne Piraterie im Namen der Krone kaum vorstellbar gewesen. Auch heute noch gibt es häufig ein enges Zusammenspiel zwischen staatlichen Akteuren, wirtschaftlichen Interessen und kriminellen Elementen - beispielsweise bei Staaten, die vom Drogenexport leben. Kein ganz neues Phänomen, wie der Opiumkrieg in China im 19. Jahrhundert zeigt, in dem Europäer eine unrühmliche Rolle gespielt haben.

MPF: Die optimistische These, dass der gesellschaftliche Fortschritt unaufhaltsam ist, teilen Sie in Ihrem Buch nicht.

SCHLEE: Nein. Geschichte ist keine Einbahnstraße. In Afrika ist es vielerorts zu Prozessen der Entstaatlichung gekommen. Auch in westlichen Demokratien beobachten wir eine rechtliche Aussonderung großer Bereiche: Global agierende Konzerne entziehen sich weitgehend dem staatlichen Einfluss. Oftmals können sie bereits ein größeres Budget vorweisen als kleinere Staaten. Wir können daher nicht mehr von einer rein staatlich organisierten Welt ausgehen. Viele Prozesse sind nicht mehr international - sie werden transnational gesteuert, von Akteuren unterhalb der staatlichen Ebene. So beobachten wir vielfach die Umkehrung früherer Entwicklungen. Was wir dabei als Fortschritt betrachten, hängt davon ab, welche Richtung wir als "vorne" definieren.

MPF: Sie selbst waren in unterschiedlicher Funktion in Somalia tätig, unter anderem als Berater bei Friedensgesprächen 2002. Welche Folgen hatte dort der Zusammenbruch der Staatlichkeit?

SCHLEE: Zunächst mal gab es eine starke Fragmentierung. Keine der verbleibenden politischen Kräfte hatte es geschafft, eine nationale Regierung zu etablieren oder das Land unter Kontrolle zu bekommen. Im Grunde existierten in Somalia autonome De-facto-Staaten nebeneinander oder gegeneinander: Somaliland im Nordwesten, Puntland im Nordosten. In diesen beiden Landesteilen gab es ein gewisses Maß an Staatlichkeit, was meist nur auf die Sicherheit beschränkt blieb. Weder das Rechtssystem noch das Erziehungssystem funktionierten mit staatlichen Einnahmen, also über Steuerfinanzierung. Im Süden erreichte die Zersplitterung eine ganz andere Dimension, was in Mogadischu sogar zu regelrechten Stadtteilkriegen führte.

MPF: Was sind die Gründe dafür, dass es gerade in Somalia zum Zusammenbruch der staatlichen Ordnung gekommen ist?

SCHLEE: Das Machtvakuum entspricht nun einmal dem Zustand, in dem Somalia sich schon immer befand. Ohne Kolonialmacht und massive Einflussnahme von außen hat es dort nie eine einheitliche Staatsmacht gegeben. Für die Kolonialmächte - die Engländer im Norden und die Italiener im Süden - bedeutete das an Bodenschätzen arme Somalia stets ein Zuschussgeschäft. Anschließend lebte das Land lange davon, dass die rivalisierenden Supermächte ein strategisches Interesse am Horn von Afrika hatten. Eines lässt sich am Beispiel von Somalia jedenfalls lernen: Ethnische Pluralität per se löst keine Kriege aus. Somalia als der am fundamentalsten gescheiterte Staat in Afrika ist zugleich derjenige mit der höchsten ethnischen und religiösen Homogenität, während der Nachbarstaat Kenia mit 29 Sprachen und diversen Volksgruppen relativ stabil war.

MPF: In diesem Jahr erinnern viele Publikationen, aber auch afrikanische Staaten selbst an die Aufbruchstimmung vor einem halben Jahrhundert, als die Entkolonisierung an Schwung gewann. Viele Konflikte werden bis heute den einstigen Machthabern angelastet, dem schwierigen historischen Erbe.

SCHLEE: Diese Haltung zeugt von einer gewissen Idealisierung der vorkolonialen Vergangenheit. Auch vor dem Zugriff der europäischen Mächte gab es in Afrika Gewaltunternehmer und blutige Kriege. Die Ressourcenlage war damals jedoch viel entspannter, weil weit weniger Menschen dort lebten. Einige koloniale Regime funktionierten durchaus effizient, etwa beim Aufbau der Infrastruktur oder des Gesundheitswesens. Die Engländer konnten in Kenia beispielsweise mit einer minimalen Anzahl von Verwaltungsbeamten die öffentliche Ordnung aufrechterhalten. Das Gewaltniveau war dort in der Kolonialzeit vergleichsweise niedrig, das Gesundheitssystem gut genug, ein starkes Bevölkerungswachstum auszulösen, und der Erziehungssektor zwar so klein, dass er nur einen Teil der Jugend ereichte, aber von der Qualität her oft durchaus respektabel. Heute schaffen viele afrikanische Staaten diesen Standard kaum mehr - trotz eines aufgeblähten Verwaltungsapparats. Das liegt daran, dass jeder darum wetteifert, den Staat zu betrügen.

MPF: Warum tun sich afrikanische Staaten so schwer mit der Demokratie und dem Rechtsstaat?

SCHLEE: Eine komplizierte Frage. Gemeinsames, koordiniertes, legales Handeln muss sich lohnen, sonst haben die Menschen keine Veranlassung, sich einer Institution zu unterwerfen und sich am Gemeinschaftsunternehmen Staat zu beteiligen. Für einige Jahre Mitte des vergangenen Jahrhunderts sah es so aus, als würde sich dieses Engagement lohnen. Als die Kolonialmächte verschwanden, war auf einmal der öffentliche Dienst neu zu besetzen. Damals gab es eine Generation von gut ausgebildeten afrikanischen Schulabgängern und Hochschulabsolventen, die ihre Chance bekamen. Doch irgendwann waren alle Stellen im öffentlichen Dienst vergeben - und die nächste Generation ging leer aus, auch weil das prognostizierte Wirtschaftswachstum ausblieb. Eine Entwicklung mit schlimmen Folgen: Wer keine Chance für sich sieht, wird auch nicht zur Schule gehen wollen. Und ein Staatsbediensteter, dessen Gehalt nur für wenige Tage des Monats ausreicht, neigt dazu, sich alternative Geldquellen zu suchen. Korruption hat häufig etwas mit dieser ausweglosen Situation zu tun. Der Staat muss etwas zu bieten haben, er muss in der Lage sein, Loyalität zu belohnen. Sonst entziehen sich ihm die Menschen oder funktionieren ihn um.

MPF: So wie in Somalia.

SCHLEE: Richtig. In Somalia gab es in den Neunzigerjahren überhaupt nichts mehr zu verteilen, außer UN-Hilfsgüter. Die Ressource, um die es bei den Konflikten ging, war die Entwicklungshilfe. Die Kriegsparteien wollten sich des Staates bemächtigen, um die Entwicklungshilfe lenken zu können - in die eigene Tasche. Irgendwann hat die internationale Gemeinschaft ihr Interesse an Somalia aufgegeben. Der Staat als Zankapfel trat daraufhin in den Hintergrund und es hat sich ein kleineres Gruppenmosaik ergeben, in dem sich die Warlords auf einem relativ niedrigen Gewaltniveau respektieren. Keine Frage: Wenn Entwicklungshilfe wahllos in nicht befriedeten Gebieten ausgeschüttet wird, wirkt sie sich oft kontraproduktiv aus.

MPF: Sie selbst üben in Ihrem Buch Kritik an der Friedenskonferenz für Somalia - und plädieren eher für eine dezentrale Entwicklungshilfe für ganz gezielte Projekte.

SCHLEE: Wenn sich einzelne Gruppen erst durch Gewalttätigkeit für eine Friedenskonferenz qualifizieren müssen, setzt man einen vollkommen falschen Anreiz. Bei der Konferenz im kenianischen Eldoret 2002 wollte man bewusst die gesamte Firepower, also sämtliche Warlords an einen Verhandlungstisch bringen. Was zur Folge hatte, dass es zuvor regelrechte Ausscheidungskämpfe zwischen den Akteuren gab. Die Anführer wollten ihrer eigenen Klientel und der Konkurrenz gleichermaßen beweisen, wie handlungsfähig sie sind. Sogar noch während der Konferenz in Kenia wurden Scharmützel per Mobiltelefon gesteuert...

MPF: Als Wissenschaftler, der in Afrika Feldforschung betreibt, kommen Sie direkt mit den Menschen in Kontakt. Wie geht ein Anthropologe in dieser Region vor?

SCHLEE: Das wichtigste Forschungsinstrument ist das offene Gespräch. Sie werden bei Gruppen, die noch nie einen standardisierten Fragebogen gesehen haben, mit einem solchen nicht weit kommen. Außerdem weiß man nie genau, welche Fragen vor Ort am wichtigsten sind: Ethnologen müssen auf die Realität reagieren können. Sehr wichtig ist daher die Sprachkompetenz und die genaue Beobachtung einer Gesellschaft. Ausführliche Gesprächsprotokolle und Tagebücher gehören zum Alltag des Feldforschers.

MPF: Wie viele Sprachen sprechen Sie?

SCHLEE: Zehn, davon sieben oder acht fließend. Aber es gibt Regionen, in denen ich mich sprachlich gar nicht auskenne, etwa in Zentralasien, wo ein anderer wichtiger Schwerpunkt der Forschungen in meiner Abteilung liegt. Da konnte ich zwar einmal mit dem Imam in einer Moschee ein wenig Arabisch sprechen und einen guten Eindruck hinterlassen. Ich beherrsche aber weder das Russische noch eine einzige Turksprache und wäre, wenn ich dort unsere Forschungsprojekte besuche, ohne meine Mitarbeiter im Alltag schnell aufgeschmissen.

Interview: Christian Mayer


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

> "Ethinizität ist etwas, was sich im Laufe eines Konfliktes verändert."

> Der Islam wurde in ein ungünstiges Licht gerückt. Das macht es gemäßigten Muslimen schwerer, friedlich zu leben.

> Militante Islamisten betreiben die Radikalisierung der Muslime. Dieser Attentäter sprengte sich im April in Algerien in die Luft.

> "Heute berufen sich gewaltsame Akteure auf kolonialzeitliche Ansprüche."

> "Gemeinsames, koordiniertes, legales Handeln muss sich lohnen."

> 1992 töteten Serben in Brcko 79 Muslime und Kroaten - wenige Jahre vorher waren Ethnien in Jugoslawien fast vergessen.

> Nur unter Bewachung verteilt die UN in Somalia Hilfsgüter - in den 90er-Jahren bemächtigten die Bürgerkriegsparteien sich gewaltsam der Entwicklungshilfe.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft 2/2007, S. 38-43
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2007