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MELDUNG/104: Zweckfrei nützlich - wie die Geistes- und Sozialwissenschaften regional wirksam werden (idw)


Institut für Hochschulforschung (HoF) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg - 22.05.2013

Zweckfrei nützlich: wie die Geistes- und Sozialwissenschaften regional wirksam werden



Die Frage nach regionalen Effekten der Geistes- und Sozialwissenschaften erscheint der Mehrheit ihrer Vertreter/innen suspekt. In der Tat: In kognitiver Hinsicht gibt es keine regionalen Geistes- und Sozialwissenschaften. Doch da es regionale Gebietskörperschaften sind, welche die Grundfinanzierung der Hochschulen tragen, sollte man auf die Frage nach regionalen Wirkungen vorbereitet sein.

Auch wenn es keine regionalen Geistes- und Sozialwissenschaften gibt: Regionale Funktionen können sie gleichwohl wahrnehmen. Doch bedürfen sie dafür des Kontakts zu den Fronten des Wissens - und diese verlaufen nicht regional. Zugleich gilt: Allein das Normensystem der Wissenschaft - Unabhängigkeit, Kritik, Methodenbindung usw. - zu vertreten, sichert noch keine organisationale, genauer: überlebensrelevante Stabilität.

Das kollidiert einerseits beträchtlich mit dem Selbstbild der Geistes- und Sozialwissenschaften als 'zweckfrei' forschende und lehrende Fächer, die sich ausschließlich innerhalb des Kosmos der Wissenschaften zu legitimieren hätten. Andererseits besteht außerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften häufig ein nur sehr unzureichendes Bild davon, was diese Fächer bereits heute an Beiträgen für die Entwicklung ihrer Sitzregionen leisten.

Um das etwas sperrige Thema "Regionale Relevanz der Geistes- und Sozialwissenschaften" angemessen zu erschließen, wurde ein Analysemodell entwickelt und dieses exemplarisch am Fall Sachsen-Anhalts durchdekliniert:

Zum einen werden Ausstattung und Strukturen, Forschungsstärke, Studienerfolgsquoten, Transfertätigkeiten und spezifische Wertschöpfungsbeiträge sowie demografische Effekte erfasst und bewertet.

Zum anderen werden die regionalen Entwicklungsbeiträge, die sich nicht unmittelbar quantifizieren lassen, qualitativ beschrieben.

Darüber hinaus bedarf eine angemessene Betrachtung der Geistes- und Sozialwissenschaften zweier Perspektiven, die parallel zu schalten sind: einer 'verstehenden Innenperspektive' und einer funktionalen Außenperspektive. Die Innenperspektive erschließt die Sichtweise der Wissenschaftler/innen auf ihre eigenen Fächergruppen. Hierbei lassen sich als anschlussfähig an die Forderung nach regionalen Entwicklungsimpulsen identifizieren:

Aufklärung hier und heute: Die Geistes- und Sozialwissenschaften kultivieren in ihrer Forschung Distanzierungsfähigkeiten, die, vermittelt vor allem durch die Lehre, in die Gesellschaft hineindiffundieren. Sie fördern dadurch eine langfristig breitenwirksame Form der Aufklärung, durch die es besser gelingt, gesellschaftliche Konflikte in sachliche Diskurse zu überführen. Die Widerstandskräfte etwa gegen extremistische Ideologien können gestärkt werden - gerade auch unter ökonomisch schwierigen Bedingungen.

Kulturelles Erbe - Identität - Image: Die Geisteswissenschaften erschließen das kulturelle Erbe des Landes. Sie schaffen damit die Voraussetzungen für eine positive Identifikation der Bevölkerung mit dem Land und seinen Kommunen - die dann wiederum eine positive überregionale Wahrnehmung des Landes begünstigt. Auf vielfältige Weisen wirken die Geisteswissenschaften als Motoren des Imagewandels und unterstützen die Entwicklung des Kulturtourismus-Sektors.

Soziales Frühwarnsystem, soziale Innovatoren: Die Sozialwissenschaften sind das soziale Frühwarnsystem einer Gesellschaft. Indem sie gesellschaftliche Entwicklungen laufend beobachten, ermöglichen sie rechtzeitige Gegensteuerung. Indem sie soziale Innovationen konzipieren, beteiligen sie sich ganz direkt an der Lösung der Probleme.


Die funktionale Außenperspektive auf die Geistes- und Sozialwissenschaften macht regionale Entwicklungsbeiträge sichtbar, welche die Fachvertreter selbst in aller Regel nicht ins Feld führen - z.B. weil sie fürchten, einer ihrer Arbeit letzten Endes abträglichen Verpflichtung auf wissenschaftsexterne Nutzeneffekte das Wort zu reden. Hier lassen sich die folgenden Beiträge identifizieren:

Beschäftigungserfolge: Die Absolventinnen und Absolventen tragen entgegen des Images 'brotlose Kunst' ebenso zur ökonomischen Wertschöpfung bei wie die Absolventen anderer Studiengänge auch: Sie arbeiten nicht mehr nur auf herkömmlichen Berufsfeldern, sondern haben sich längst neue Beschäftigungschancen erschlossen.

Dienstleister für die Wissensgesellschaft: Ein wachsender Anteil der Wertschöpfung vollzieht sich in Gestalt von wissensbasierten Dienstleistungen. Die Absolventen der Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich in der Wissensgesellschaft bisher Zug um Zug ihren Platz erobert.

Demografische Rendite: Die Abwanderung begabter junger Menschen - insbesondere von Frauen - verschärft die demografische Schrumpfung. Die Studienanfänger der Geistes- und Sozialwissenschaften sind jung, begabt - und überproportional weiblich. Die für sie aufgewandten Mittel sind Investitionen in steuerzahlende junge Akademikerfamilien, die eine demografische Rendite versprechen.


Abschließend werden Handlungsoptionen für eine aktivere Außenkommunikation der Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelt. Diese gehen davon aus, dass anschlussfähig argumentiert und präsentiert werden muss, da über den Anschluss an Kommunikationsangebote immer die Empfängerseite, nicht der Absender disponiert. Im einzelnen:

Reden über das, was bereits geschieht: Selbst dort, wo sie es gar nicht als ihre wichtige Aufgabe ansehen, verfügen die Geistes- und Sozialwissenschaften in ihrem Handeln über durchaus zahlreiche regionale Anknüpfungspunkte und vorzeigbare Ergebnisse mit regionaler Relevanz. Diese herauszustellen, da sie ja nun einmal vorhanden sind, ist ein erster und nahe liegender Schritt.

Qualitativ und quantitativ argumentieren: Geistes- und Sozialwissenschaftler argumentieren professionstypisch vorzugsweise inhaltlich. Doch lässt sich qualitatives Argumentieren auch immer quantitativ ergänzen: mit Zahlen zu Studierenden, Drittmitteln, außerwissenschaftlichen Kooperationen, Ausstattungen im Vergleich zu anderen und Studienerfolgsquoten. Qualitative Argumente lassen sich durch quantitative besser verstärken (wie auch umgekehrt), als qualitative durch weitere qualitative Argumente verstärkt werden können.

Aktiv Leistungsangebote unterbreiten: Anzunehmen ist, dass künftig die Refinanzierungsfähigkeit desjenigen Anteils an den Landeszuschüssen, der über eine Grundausstattung hinausgeht, über dessen direkte und indirekte Effekte innerhalb des Landes dargestellt werden muss.

Selbstdefinition als zentraler Teil regionaler Wissensinfrastrukturen: Die offensive Selbsteinordnung in regionale Wissensinfrastrukturen hat in einer wissensgesellschaftlichen Perspektive eine unmittelbare Plausibilität. Sie steigert die Wahrnehmung der geistes- und sozialwissenschaftlichen Institute als Teil eines über dem Lande liegenden Netzes, das Zukunftsfähigkeit verbürgt. Implizit wird damit auch die Verantwortung des Landes für Aufrechterhaltung und Förderung dieser Strukturen formuliert.

Regionales Wissensmanagement: Regional wie überregional verfügbare wissenschaftliche Wissensbestände sind für regionale Akteure nutzlos, wenn sie nicht von ansprechbaren Experten gewusst und mit Blick auf die Situation vor Ort durchsucht, geordnet, aufbereitet und kommuniziert werden. Die Geistes- und Sozialwissenschaften des Landes können zu den Knotenpunkten eines in die Region vernetzten Wissensmanagements werden, das drei Aufgaben hätte: (a) ungenutztes Wissen aktivieren, (b) die Erzeugung noch nicht vorhandenen, aber benötigten Wissens anregen und (c) Problemstellungen mit vorhandenem Problemlösungswissen zusammenführen.

Jens Gillessen / Peer Pasternack:
Zweckfrei nützlich: wie die Geistes- und Sozialwissenschaften regional wirksam werden. Fallstudie Sachsen-Anhalt (HoF-Arbeitsbericht 3'13),
Institut für Hochschulforschung (HoF), Halle-Wittenberg 2013, 124 S.
ISBN 978-3-937573-34-2;
auch unter www.hof.uni-halle.de/dateien/ab_3_2013.pdf

Weitere Informationen unter:
http://www.hof.uni-halle.de/projekte/regio_sgw.htm

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution370

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Institut für Hochschulforschung (HoF) an der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg, Karsten König, 22.05.2013
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2013