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ERWACHSEN/046: Lebenslanges Lernen - in Deutschland ausbaubedürftig (BI.research - Uni Bielefeld)


BI.research 33.2008
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Lebenslanges Lernen: In Deutschland noch ausbaubedürftig

Interview mit dem Bildungsökonomen Professor Dieter Timmermann


BI.RESEARCH: Man lernt bekanntlich nie aus. Sie haben sich in Deutschland schon sehr früh mit dem Thema "Lebenslanges Lernen" beschäftigt und waren von Oktober 2001 bis Juli 2004 Vorsitzender einer dazu von der Bundesregierung eingesetzten Expertenkommission. Die Kommission hat Lebenslanges Lernen als "Gesamtheit allen formalen, nicht-formalen und informellen Lernens über den gesamten Lebenszyklus hinweg", und zwar "auf durchlässigen und zugleich miteinander verzahnten Bildungspfaden" definiert. Könnten Sie kurz skizzieren, wie das Thema überhaupt aufgekommen ist, und etwas zu der Kommissionsarbeit sagen?

PROF. TIMMERMANN: Zu Beginn, Anfang der 70er Jahre, spielten UNESCO und OECD und auch Schweden mit dem späteren Ministerpräsidenten Olof Palme insofern eine wichtige Rolle, als dort die Thematik erstmals und umfassend aufgegriffen wurde. Damals war noch von "Education permanente" die Rede. 1972 erschien eine viel diskutierte OECD-Publikation mit dem Titel "Recurrent Education". Dort ging es darum, den Dreischritt im Lebenslauf "Schulisches Lernen, Arbeitsleben und Ruhestand" zu flexibilisieren. Eine Hauptidee war es, das Arbeitsleben immer wieder durch Lernphasen zu unterbrechen. Auch von Sabbatjahren war damals schon die Rede. In Deutschland begann die Diskussion erst Anfang der 80er Jahre. Auftakt war dazu eine Konferenz in Stanford mit deutscher Beteiligung. Anfang der 90er Jahre hatten sich dann die Begründungsmuster verändert: Anfangs war es vor allem darum gegangen, dass sich die Arbeitsanforderungen durch den industriellen Strukturwandel ändern und die davon betroffenen Arbeitskräfte ihre Kenntnisse und Fähigkeiten weiter entwickeln mussten, später um die Themen Arbeitslosigkeit und Wiedereintritt in das Arbeitsleben - auch bezogen auf Frauen und Mütter nach einer Erziehungsphase. Unter der Regierung Schröder wurde die gesellschaftliche Bedeutung des Lebenslangen Lernens wieder entdeckt, und es sollte anscheinend Wahlkampfthema werden. Das wurde allerdings durch die vorgezogene letzte Bundestagswahl verhindert. Die von Ihnen erwähnte Kommission sollte Argumente für die Notwendigkeit eines öffentlich wie auch privat (also in den Unternehmen) geförderten Lebenslangen Lernens erarbeiten. Unter Frau Schavan wurde das Thema mit einer anderen Begrifflichkeit weitergeführt. Jetzt ist von einer "Qualifizierungsoffensive" im Rahmen des "Lernens im Lebenslauf" die Rede. Erfreulicherweise wurden nach einer Phase der ausbleibenden Resonanz bestimmte Elemente aus dem Abschlussbericht der Kommission erfolgreich umgesetzt, zum Beispiel wurden zum 1.1.2006 in Nordrhein Westfalen Bildungsgutscheine für kleine und mittlere Unternehmen eingeführt, die für berufliche Weiterbildungsmaßnahmen eingelöst werden können, oder das von der Bundesregierung jüngst geförderte Bildungssparen, das eigene Sparbemühungen für Weiterbildungszwecke mit staatlichen Prämien und mit Darlehensangeboten ergänzt. Neuerdings ist auch von der von der Kommission geforderten "2. Chance" die Rede, die in einem Beschluss der Bundesregierung so umgesetzt wird, dass jeder und jede, die keinen Hauptschulabschluss hat, diesen Abschluss unter Förderung durch den Bund nachholen können soll.

BI.RESEARCH: Von dem britischen Philosophen Whitehead stammt der schöne Spruch "Wissen hält nicht länger als Fisch". Das ist sicher vor allem mit Blick auf die Wissenschaften ein entscheidendes Argument für Lebenslanges Lernen ...

PROF. TIMMERMANN: Ja, denn wir leben bekanntlich in einer Wissensgesellschaft, aber man darf Lebenslanges Lernen nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse und unmittelbar berufsbezogene Weiterbildung verkürzen. Dazu gehört auch die allgemein-kulturelle und politische Weiterbildung. Allerdings ist Kultur Ländersache, und die Länder haben an dieser Stelle ihre Fördergelder in den letzten Jahren, zum Teil bereits seit den 1990er Jahren stark reduziert. Gleichzeitig ist aber die private Finanzierung durch die Teilnehmenden - etwa für den Besuch von Volkshochschulveranstaltungen - deutlich angestiegen. Bei der beruflichen Weiterbildung hat es unter Minister Clement eine Umsteuerung der Mittel der Bundesagentur für Arbeit von der Förderung des Weiterlernens auf die aktive Arbeitsvermittlung gegeben. Man hielt kulturelle Weiterbildung in diesem Zusammenhang nicht für wichtig. Das war selbstverständlich etwas kurzsichtig, denn man kann einerseits die unterschiedlichen Bereiche der Weiterbildung oft nicht voneinander trennen. Gesellschaftliche Änderungen durch technischen Fortschritt beispielsweise müssen andererseits auch in ihren weiteren Kontexten verstanden werden, und genau dem dient die kulturell-politische Weiterbildung - mal ganz davon abgesehen, dass in diesem Bereich auch Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert werden.

BI.RESEARCH: Welche Rolle spielen die Universitäten beim Lebenslangen Lernen? Ist die wissenschaftliche Weiterbildung in Deutschland ausbaubedürftig?

PROF. TIMMERMANN: Bei uns halten sich die Hochschulen an dieser Stelle noch sehr zurück. Das gilt vor allem im Vergleich zu den skandinavischen Ländern, Kanada oder den Niederlanden. Die wissenschaftliche Weiterbildung ist in Deutschland nicht zuletzt deshalb unterentwickelt, weil sie bei Hochschullehrern nicht auf das Lehrdeputat angerechnet wurde. Hinzu kam, dass im Hauptamt lange Zeit kein Honorar gezahlt werden konnte. Um etwas in diesem Bereich zu verdienen, musste man deshalb mit einer Nebentätigkeit in die privaten Märkte ausweichen. In den Hochschulgesetzen ist wissenschaftliche Weiterbildung inzwischen als verbindliche Aufgabe der Hochschulen verankert, und jetzt wird Lehre in der Weiterbildung auch im Hauptamt vergütet. Das könnte die Basis dafür sein, dass sich dort in Zukunft mehr tut. In der Regel nicht berufsbezogene Programme zum Seniorenstudium wie in Bielefeld "Studieren ab 50" gibt es an vielen Universitäten dagegen schon lange, und die fallen als ganz individuelle Weiterbildung selbstverständlich auch unter die von Ihnen zitierte Definition von Lebenslangem Lernen.

BI.RESEARCH: Wie sieht es mit der Durchlässigkeit unserer Bildungsgänge und Institutionen aus?

PROF. TIMMERMANN: Bezogen auf den Hochschulbereich sehr unbefriedigend. Ohne Abitur, aber mit einer Berufsausbildung, kann man bei uns nur zwar über eine erfolgreiche Einstufungsprüfung studieren, diese Chance wird aber bisher nur in wenigen Fächern, meist in den Geistes- und Sozialwissenschaftlichen ergriffen. Der nicht-akademische Bereich ist in dieser Beziehung viel offener und flexibler. Da sind Volkshochschulen, private Anbieter, aber auch Unternehmen und Gewerkschaften vergleichsweise sehr aktiv. Allerdings sagen uns Untersuchungen der EU (die sog. CVETS Studien I bis III), dass die Teilnahmequoten in Deutschland im EU- und darüber hinaus gehenden internationalen Vergleich unterdurchschnittlich sind.

BI.RESEARCH: Und wie ist das zu erklären?

PROF. TIMMERMANN: Bei uns gibt es sowohl auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite Defizite. Offensichtlich herrscht hier noch eine andere Kultur als in anderen Ländern. Das ist für das Land der Dichter und Denker erstaunlich und bedenklich zugleich.

BI.RESEARCH: Gibt es großen Regelungsbedarf beim Anspruch auf Weiterbildung, zum Beispiel bei Teilzeitarbeitsregelungen?

PROF. TIMMERMANN: Einerseits sind Teilzeitarbeitsregelungen erforderlich, andererseits aber auch Regelungen zum Teilzeitstudium. An dieser Stelle sollten die Hochschulen flexiblere Formen einführen, mit denen sie übrigens auch Geld verdienen könnten. Eine Kombination aus Fernstudium über E-Learning und Präsenzphasen wäre zum Beispiel eine flexible und relativ kostengünstige Lösung.

BI.RESEARCH: Wie ist die Lage bei der allgemeinen Weiterbildung wie dem Nachholen von Schulabschlüssen? Welche Rolle spielen dabei die Volkshochschulen?

PROF. TIMMERMANN: Die Volkshochschulen sind hier schon immer einer der großen Anbieter. Inzwischen gibt es Pläne, einen Rechtsanspruch auf die Nachholung von Schulabschlüssen einzuführen und dies seitens des Staates finanziell zu unterstützen.

BI.RESEARCH: Sind die Teilhabechancen bezogen auf das Lebenslange Lernen bei uns eigentlich ungleich, ähnlich wie bei der höheren Bildung für die so genannten "bildungsfernen Schichten"?

PROF. TIMMERMANN: Man hat mit dem Lebenslangen Lernen immer die Erwartung verbunden, dass hier die zu kurz Gekommenen ihre Defizite ausgleichen können. Diese kompensatorische Funktion des, Lebenslangen Lernens im Erwachsenenalter wird aber eindeutig nicht erfüllt. Statt dessen werden die bekannten Ungleichheiten aus dem Schul- und Hochschulsystem auch hier reproduziert, zum Teil sogar vertieft.

BI.RESEARCH: Sind Frauen an dieser Stelle besonders benachteiligt?

PROF. TIMMERMANN: Da muss man differenzieren: Für die vollzeitbeschäftigten Frauen gilt das nicht, aber bei den Teilzeitbeschäftigten ist die Teilnahmequote deutlich geringer. In der Regel sind dies Frauen, die neben dem Teilzeitberuf noch familiäre Verpflichtungen haben, und die werden von Arbeitgeberseite viel weniger in die Weiterbildung geschickt. Das ist allerdings eigentlich nur in Deutschland beobachtbar, und die Begründung dafür ist ganz simpel: Bei uns fehlen vor allem immer noch Ganztagseinrichtungen, sowohl Kindertagesstätten wie Schulen, in denen Kinder in der Arbeitszeit der Eltern angemessen betreut werden bzw. lernen können.

BI.RESEARCH: Sollte es öffentlich stärkere Anreizstrukturen für Lebenslanges Lernen geben?

PROF. TIMMERMANN: Die Quintessenz aller Empfehlungen ist in der Tat die deutliche Ausweitung der Teilnahmeanreize in Form von Geld, aber auch von Zeit zum Lernen. Dazu gehört auch die Einführung von Lernzeitkonten in Unternehmen, mit denen die Arbeitnehmer Ansprüche auf Weiterbildungszeit ansparen können. Mittlerweile tut sich von Seiten des Bundes Einiges. Es gibt die Aktivitäten des Familienministeriums in Gestalt von Ganztagseinrichtungen in Vorschule und Schule, um Eltern, insbesondere Müttern, die Lernzeit zu gewährleisten, und nicht zuletzt ein umfangreiches Programm mit dem Titel "Qualifizierungsoffensive" beim Bundesbildungsministerium, das in diesem Jahr verabschiedet wurde.

BI.RESEARCH: Herr Timmermann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

Die Fragen stellte Hans-Martin Kruckis


Prof. Dieter Timmermann beschäftigt sich als Bildungsökonom seit Jahrzehnten mit Fragen des Lebenslangen Lernen


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Quelle:
BI.research 33.2008, Seite 18-23
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Januar 2009