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FRAGEN/001: Interview mit Hartmut von Hentig zu Laborschule und Oberstufen-Kolleg (Uni Bielefeld)


BI.research 35.2009
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

"Klinikum für die Schulpädagogik" und alternativer Zugang zum Hochschulstudium

Fragen an Hartmut von Hentig


FRAGE: Welche bildungspolitischen Konstellationen ließen es für Sie seinerzeit notwendig erscheinen, Laborschule und Oberstufen-Kolleg zu gründen?

HENTIG: Zu jedem Zeitpunkt in meinem (erwachsenen) Leben - also nach 1945 - hätte mir die Gründung einer Laborschule plausibel, ja geboten erscheinen können, wenn ich denn über Pädagogik und ihre wichtigste Institution, die Schule, nachgedacht hätte. Ein solches Nachdenken drängte sich mir erst auf, nachdem ich eher zufällig Lehrer geworden war und meine noch naiven, gleichwohl intensiven Vorstellungen, wie mit Kindern und jungen Menschen umzugehen sei, sich an der Wirklichkeit der deutschen Schule stießen. Meine öffentliche Kritik an unserem Bildungswesen trug dem Studienassessor für alte Sprachen im Jahre 1963 eine Professur für Pädagogik an der Universität Göttingen ein - an der Seite eines erfahrenen älteren und veritablen Erziehungswissenschaftlers -, wo ich sehr schnell lernte: Auch als leidenschaftlich lehrender und emsig publizierender Ordinarius kann man in Deutschland die Schule nicht verändern. Unsere Schulen unterliegen dem Schulgesetz, den Erwartungen der Eltern, den gegebenen Laufbahnen und eingespielten Verfahren der Lehrerschaft, gegen die die spärlich verabreichten und ihrerseits traditionsgebundenen pädagogischen Theorien nichts ausrichten. Schulreform macht man nicht vom universitären Lehrstuhl aus. Die erziehungswissenschaftliche Forschung kann ja nur feststellen, was geschieht oder nicht geschieht. Zu sagen, was geschehen sollte, steht ihr nicht zu. Um überzeugend angeben zu können, was geschehen könnte - und mit welchen Erfolgen -, fehlt ihr ein offenes Beobachtungs- und Experimentalfeld: ein Laboratorium, wie es die Medizin in Form der Universitätskliniken hat. Diesen Mangel habe ich zwanzig Jahre nach Kriegsende im Jahr 1965 angemeldet, nein angeprangert und im Zuge der Gründung der Bielefelder Universität zu beheben versucht. Daher die Laborschule.

Der Gedanke, es müsse in Deutschland eine Einrichtung geben, die die Funktion des amerikanischen College erfüllt - nämlich den Übergang vom schulmäßigen Lernen zum selbstständigen Studium, von verordneter Allgemeinbildung zur gewählten Spezialisierung, vom Elternhaus zur eigenen Lebensform - kam mir in den ersten Jahren meiner Göttinger Professur: Ich erlebte, was wissenschaftliche Untersuchungen (Mielitz, Tellenbach, Goldschmidt u.a.) mit immer größerer Deutlichkeit aufzeigten, nämlich dass das Abitur die Studierfähigkeit nicht sichert, dass es angesichts des rasant zunehmenden Bedarfs an akademisch gebildetem Nachwuchs eine gefährlich hemmende Wirkung (die eines Nadelöhrs) hatte und dass die anlaufende Oberstufenreform die nicht weniger reformbedürftige Eingangsstufe der Universität unverändert ließ. Bei meiner Berufung nach Bielefeld stellte ich die Bedingung: Ich komme, wenn es an der neuen Universität (a) ein "Klinikum für die Schulpädagogik" gibt, die Laborschule, und wenn die Universität Bielefeld (b) einen alternativen Zugang zum Hochschulstudium im eigenen Haus eröffnet - ein vierjähriges Oberstufen-Kolleg, das die Oberstufe des Gymnasiums mit dem Eingangsstudium der Universität vereint.

FRAGE: Wie stark waren damals die Widerstände, auf die die Schulprojekte in der Öffentlichkeit trafen, und welche Hauptargumente gab es dabei?

HENTIG: Gegen die Einführung einer universitätseigenen Schule gab es keine Widerstände - weder in der Schulverwaltung, für die zunächst der damalige Kultusminister Paul Mikat einstand, noch im Gründungsausschuss, noch in der erziehungswissenschaftlichen Zunft, noch in der allgemeinen und in der Bielefelder Öffentlichkeit. Die Schulverwaltung hatte nach dem Regierungswechsel von 1966 sogar ein besonderes Interesse an einer solchen Einrichtung, brauchte sie doch für die nunmehr beschlossenen, weitgehend am grünen Tisch entworfenen Gesamtschulen eine Modellschule, an der geeignete Curricula, organisatorische und bauliche Maßnahmen für die neue Schulform entwickelt und im Einsatz erprobt werden konnten. Widerstand kam auf, als die dafür nötigen Rahmenvorgaben festgelegt wurden: die einer reinen und also radikalen Gesamtschule. Diese - im Verein mit dem Oberstufen-Kolleg - sahen Konservative als eine "Systemveränderung" an, als einen Versuch, Gesellschaftsreform durch Schulreform zu betreiben, und dies auch noch im geschützten Bezirk von Akademia. Andererseits hatten die vielen am nordrhein-westfälischen Schulversuch "Gesamtschule" beteiligten Schulen während unserer Planungszeit (also von meiner Berufung im Herbst 1968 bis zur Eröffnung der Schulprojekte im Herbst 1974) längst ihre eigenen Formen und Verfahren gefunden und wollten von den unbequemen Bielefelder Ideen (eigene Eingangsstufe, keine Jahrgangsklassen, Großraum, Aufhebung der herkömmlichen Fächerstruktur, Verzicht auf Benotung) nichts wissen. Aus Wohlwollen für die Bielefelder Schulprojekte wurde auch bei den Reformern "kein Interesse". Das Oberstufen-Kolleg vollends "umging" die zentrale Studienplatzvergabe und erschien dadurch geradezu konterrevolutionär. Die Fakultäten der Universität Bielefeld beobachteten den Konkurrenten im eigenen Haus bestenfalls mit Nachsicht, in der Regel mit Misstrauen.

FRAGE: Wie groß ist nach Ihrer Einschätzung der Einfluss auf das deutsche Schulsystem, den besonders die Laborschule ausgeübt hat und immer noch ausübt?

HENTIG: Selbst wenn "Einfluss" ein weniger ungenauer Begriff wäre, ließe er sich in der Tat nur subjektiv "einschätzen". Der Gründer der Laborschule ist mit seinen hohen Erwartungen an das eigene Konstrukt ein besonders harter, also wohl ungerechter Beurteiler ihres Erfolgs. In seiner Vorstellung sollte ja die Laborschule als "Curriculumwerkstatt" einer "Schule für Menschenkinder" zuarbeiten (also nicht einer durch gesellschaftspolitische Zwecke und bestimmte Organisationsformen bestimmten Einrichtung); sie sollte eine "Polis" sein, ein Lebens- und Erfahrungsraum, in der Belehrung wo immer möglich durch Erfahrung und Beteiligung ersetzt wird; sie sollte als Muster für andere Laborschulen an anderen lehrerbildenden Instituten dienen. Die meisten Pläne und Hoffnungen haben sich nur maßvoll erfüllt, die letztgenannte überhaupt nicht. Noch immer glauben deutsche Universitäten, an denen die Lehrer und die Theorien für die Schule ausgebildet werden, ohne eigene Laboratorien auskommen zu können. Die Schulverwaltung hat fast keinen Gebrauch von diesem Instrument der Schulveränderung gemacht; sie hat der Laborschule lange Zeit verwehrt, Referendare aufzunehmen; sie hat, so lange ich dort Wissenschaftlicher Leiter war, außer einem Verkehrs-Curriculum nie ein anderes Curriculum angefordert. Aber es kamen im Laufe jedes Schuljahres zwischen 2.000 und 3.000 Besucher; die Kollegen publizierten ihre Erfahrungen in einem Maß, wie das noch nie eine Schule getan hat; sie verbesserten sich stetig und haben - insbesondere nach der etwa fünfzehnjährigen Aufbauphase - unter meinen Nachfolgern ein erfolgreiches Modell der "Evaluation" entwickelt und zahlreiche schulpädagogische Versuche wissenschaftlich dokumentiert. Bei mir hieß diese Aufgabe noch: Jeder Laborschul-Lehrer ist auch ein Forscher; jeder, der an der Laborschule forscht, lehrt dort auch. Der "Lehrer-Forscher" ist, wie man mir aus der Zunft versichert, wieder im Gespräch.

FRAGE: Wie haben Sie generell das Klima an einer "Reformuniversität" empfunden?

HENTIG: Eine "Reformuniversität" als Typus gibt es nicht; alle Reformuniversitäten unterscheiden sich voneinander. Die der Bielefelder Universität zugrunde liegenden Ideen hatten von vornherein meine Sympathie; sie waren intelligent; sie wollten der Wiederherstellung der ramponierten Gelehrtenrepublik dienen (nicht nur den Massenandrang bewältigen); sie machten eine Mitgestaltung der Einrichtung durch ihre Mitglieder nicht nur möglich, sondern sie verlangten sie. Was Schelsky an meinen Ideen zunächst missverstand, hat er mit Bedauern, aber ohne mir sein Wohlwollen zu entziehen, bald richtig verstanden: Die Laborschule war keine Schule für die akademische Elite; die Universität Bielefeld bedurfte einer solchen Einrichtung auch nicht, um besonders begehrte Gelehrte anzulocken - diese kamen auch so. Für den Aufbau zweier ganz neuer pädagogischer Institutionen waren die Bedingungen in Bielefeld ideal: Die Universität Bielefeld hatte eine moderne demokratische Satzung und in der Zeit zwei ungewöhnliche Rektoren, Joachim Mestmäcker und Karl Peter Grotemeyer; es gab etliche kluge Referenten in der aufgeschlossenen und großzügigen Düsseldorfer Verwaltung; die Universität war von einer neugierigen und ehrgeizigen Stadt umgeben. Was wir bei so günstigen Voraussetzungen nicht geschafft haben, müssen wir uns selber zuschreiben - wenigstens vor 1973, als die Ölkrise ihre lähmende Wirkung tat. Wir litten an inneren Zerwürfnissen, an der selbstverschuldeten Überforderung, an der erst dadurch eintretenden Isolierung. Meine eigene Fakultät für "ihr Projekt" zu interessieren, gar einzuspannen, ist mir nicht gelungen.

Das Selbstbewusstsein, mit dem die Absolventen des Oberstufen-Kollegs in den Vorlesungen und Seminaren der Universität auftraten, fiel den einen Dozenten angenehm, den anderen unangenehm auf. Eine systematische Kooperation zwischen den Fakultäten und dem Oberstufen-Kolleg kam nur vereinzelt zustande. Eine umständliche Untersuchung des weiteren Werdegangs der Kollegiaten erbrachte zweideutige Ergebnisse. Der Aufnahmeschlüssel der Laborschule begrenzte den Zugang von Professorenkindern auf unter fünf Prozent, sodass die kleine Schule dem großen akademischen Bruder fremd blieb. Vollends als die Universität genötigt wurde, an der "Entlastung" des Hochschulwesens mitzuwirken, als sie ihre Studentenzahl vervierfachen musste und den kühneren Vorhaben und Vorgaben von Schelsky selbst nicht mehr traute, waren auch die Chancen der Schulprojekte nur noch die, die sie sich selbst eroberten.

Die Zahl der "Überprüfungsfälle" (im Anschluss an den Radikalenerlass) war in den Schulprojekten höher als in irgendeiner anderen Institution des Landes. Der Kanzler - ebenso gewissenhaft wie uns wohlgesonnen - ächzte. Mit anderen Worten: Das "Klima" war wechselvoll. Es dürfte sich erst stabilisiert haben, nachdem beide Einrichtungen in die Verantwortung und Verwaltung des Kultusministers zurückgenommen worden sind.

Die Fragen stellte Hans-Martin Kruckis.


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Quelle:
BI.research 35.2009, Seite 148-151
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2010