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FRAGEN/002: Wer liebt, lernt leichter (welt der frau)


welt der frau 6/2010 - Die österreichische Frauenzeitschrift

WIE DER MENSCH SICH BILDET
Wer liebt, lernt leichter

Von Christine Haiden


Was müssen Pädagoginnen heute können, um Kinder zu unterrichten? Charmaine Liebertz setzt auf Herzensbildung. Das sei ein Schatz, der das Beste im Menschen zum Leuchten bringt.


WELT DER FRAU: Wie verändert sich aus Ihrer Sicht die Aufgabe der PädagogInnen?

CHARMAINE LIEBERTZ: Wenn sich der Pädagoge vor allem als Fach- und Sachvermittler sieht, wird er sich überflüssig machen. Fakten sind heute schnell überholt. Wir sind Menschenbildner. Was gehört zu einem ganzen Menschen? Das ist unsere Frage. Was macht den Menschen aus in seiner Zivilcourage, in seiner Handlungsfähigkeit? Das kann er nur mit Pädagogen erwerben, die ihm die Chance geben, emotionale Reife zu entwickeln.

WELT DER FRAU: Herzensbildung hat eine starke Komponente von Beziehung. Sehe ich das richtig?

CHARMAINE LIEBERTZ: In der modernen Psychologie nennt man das die inter- und intrapersonale Intelligenz. Intrapersonal heißt, ich kann mit meinen eigenen Gefühlen intelligent umgehen, sodass ich zu einem einigermaßen ausgewogenen Verhältnis zu mir komme. Interpersonal heißt, ich bin so empathisch, dass ich erkenne, wie es dem anderen geht und wie ich ihm helfen kann. Beides zusammen ist die emotionale Intelligenz.

WELT DER FRAU: Der intelligente Umgang mit den eigenen Gefühlen entwickelt sich durch das Echo des Gegenübers?

CHARMAINE LIEBERTZ: Der Ansporn des Menschen zu lernen ist aus meiner Sicht vorrangig die Liebe. Wenn die Beziehung im Lernprozess nicht stimmt, geht die Leistung runter.

WELT DER FRAU: Können 25 Kinder dieselbe Lehrerin lieben und deswegen gerne lernen?

CHARMAINE LIEBERTZ: Wichtig ist, welches Rollenverständnis die Lehrerin hat. Über 70 Prozent dessen, was wir an Schulen und Universitäten gelernt haben, vergessen wir. Wissen, das wir behalten, ist immer solches, das mit Beziehung zu tun hat. Da haben wir zum Beispiel mit der Lehrerin gelacht.

WELT DER FRAU: Kann in einem Frontalunterricht Beziehung entstehen oder braucht es dazu freiere Formen?

CHARMAINE LIEBERTZ: Es verlangt eine Pädagogik des Standpunktes. Frontal- oder Gruppenarbeit, Einzel- oder Paararbeit sind nur Methoden. Ich kann sie alle schlecht beherrschen oder gut. Ich kann ein guter Vortragender sein, aber ich kann nicht von Gymnasiasten erwarten, dass sie acht Stunden ausschließlich akustisch aufnehmen. Das geht nicht. Ich muss wertschätzen, für wen ich da bin. Für den Menschen oder für die Sache? Das ist die Entscheidung. Es muss ein Wechsel der Methoden stattfinden. Sinnesstarke Vermittlung tut auch dem Lehrer selbst gut. Gerade Lehrer haben eine hohe Burn-out-Rate.

WELT DER FRAU: Woran liegt das?

CHARMAINE LIEBERTZ: Weil sie sich aufgeben, zu wenig darauf achten, dass sie sich wohlfühlen, dass gemeinsam gelacht wird. Sie sehen ihre Schüler als Gegner. Das ist wie ein Krieg, den ich überleben muss. Schüler spüren das und gehen auf den Kampf ein, vor allem in der Pubertät.

WELT DER FRAU: Es gibt viele Klagen, dass verhaltensschwierige Kinder mehr werden.

CHARMAINE LIEBERTZ: Richtig. Jede Generation hat ihre Chancen und Gefahren. Die Nachkriegsgeneration hatte zu wenig zu essen und bekam Schulmilch. Die Generation heute sieht zu viel fern und müsste mehr für die Nahsinne bekommen. Der Glaube von vielen Pädagogen ist nur: Es bleibt so, wie ich es einmal gelernt habe. Wir werden aber immer eine neue Generation haben. Gott sei Dank, sonst wären wir noch Fred und Wilma Feuerstein. Wenn wir das Problem der Kinder erkannt haben, was machen wir dann?

WELT DER FRAU: Was kann die Antwort der guten PädagogInnen sein?

CHARMAINE LIEBERTZ: Das kommt darauf an. Wenn ich feststelle, dass ich Kinder habe, die keinen Kontakt mehr zur Natur haben, die auf einem Waldboden nicht gehen können, muss ich fragen: Wie antworten wir? Dann müssen wir eben öfter in die Natur. Sind das Kinder, die ins Museum müssen oder sollen wir mit ihnen Waldhäuser bauen? Ist das eine Elternschaft, die gut gebildet ist, oder sind es vor allem Einzelkindeltern? Die Einzelkindgesellschaft wird darauf achten, dass dem einen Kind nichts zustößt. Sie wird es schützen und das Scheitern verhindern. Daraus entsteht eine gewisse Pädagogik. Da nützt es nichts zu sagen: Ach, wie furchtbar! Das ist eine moralische Bewertung. Eigentlich sollte man sagen: So what, was machen wir jetzt?

WELT DER FRAU: Herzensbildung heißt, sich ganzheitlich zu entwickeln.

CHARMAINE LIEBERTZ: Ich finde den Satz von Mahatma Gandhi: "Du selbst musst der Wandel sein, den die Welt vollziehen soll", wichtig. Das ist die Haltung, für die ich arbeite und kämpfe. Sobald der Lehrer am Klassentisch steht, ist er verantwortlich, ob Kinder sechs Stunden sitzen oder zwischendurch ein Spiel machen, ob sie die Buchstaben nur über das Sehen erwerben oder auch über das Tasten. Er ist zuständig, ob gelacht wird oder dass er spürt, was los ist. Kein anderer. Pädagogen sind Menschen verpflichtet. Wer sich der Sache verpflichtet fühlt, sollte in die Forschung gehen. Pädagogen müssen den Menschen immer wieder neu kennenlernen. Ich frage: Ist die Schule vorbereitet auf diese unterschiedlichen Kinder?

WELT DER FRAU: Sie sagen, Kinder sind nicht schwieriger geworden, sondern nur anders.

CHARMAINE LIEBERTZ: Ich fände es sonst furchtbar. Viele Lehrer klagen, dass die Kinder bewegungsgestörter sind, weniger aufmerksam und so weiter. Dann sage ich: Fällt euch auf, dass ihr nur Negatives gesagt habt? Dann fällt ihnen beispielsweise ein, dass die Kinder demokratischer sind, dass sie sagen, was sie denken. Ist das nicht fantastisch, dass wir das geschafft haben, dass sie nicht nur still sitzen und nichts sagen? Wenn wir das Gefühl haben, die nächste Generation ist grauenhaft, macht es nur deutlich, dass wir selbst alt werden.

WELT DER FRAU: Was brauchen Kinder heute besonders?

CHARMAINE LIEBERTZ: Die Nahsinne zu entwickeln. Sehen und Hören, Schmecken, Tasten, Riechen, Gleichgewicht sind die Nahsinne. Davon haben die Kinder heute zu wenig. Sie haben zu viel Vorgefertigtes und zu wenig Kreativität. Sie sollen selbst denken und gestalten. Sie sollen auch medienkritisch werden, sodass sie wissen, dass Wikipedia nicht die Wahrheit ist. Diese Generation wird viel Medienkompetenz brauchen und hohe Flexibilität. Keiner wird mehr ein ganzes Leben lang denselben Beruf ausüben. Und sie müssen lernen zu scheitern, von klein auf. Hinfallen und wieder aufstehen. Das größte Potenzial, das man einem Kind mitgeben kann, sind Optimismus und Humor. An das Machbare glauben, sich nicht an Problemen festhalten.

WELT DER FRAU: Wie viel Zeit braucht Herzensbildung?

CHARMAINE LIEBERTZ: Ein Leben lang.


Dr.in Charmaine Liebertz leitet die Gesellschaft für Ganzheitliches Lernen e.V. und bildet vor allem pädagogische Fachkräfte und Eltern fort. Ihre Bücher "Das Schatzbuch der Herzensbildung" und "Das Schatzbuch des Lachens" sind Fundgruben für Methoden und Spiele für emotionale Intelligenz und eine Erziehung mit "Herz und Humor". Beide Bücher sind im Don Bosco Verlag erschienen.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Juni 2010, Seite 12-13
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2010