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KIND/065: Nur das Beste für mein Kind? (welt der frau)


welt der frau 12/2006 - Die österreichische Frauenzeitschrift


Nur das Beste für mein Kind?

Michaela Herzog im Gespräch mit der Schweizer Psychologin Ulrike Zöllner.

Spielzeug und Geschenke in Hülle und Fülle, teure Markenkleidung, Tennis, Ballett und Reiten: Kinder sind zunehmend einem Konsum- und Freizeitstress ausgeliefert. Ist Erziehung in einer Wohlstandsgesellschaft eher schwieriger als leichter geworden?


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Welt der Frau:
Nur das Beste ist gut genug für unsere Kinder. Wollen Eltern zu viel Bestes für ihre Kinder, die meist in Einkind-, maximal Zweikindfamilien aufwachsen?

ULRIKE ZÖLLNER:
Das Beste wird durch die Gesellschaft definiert. Häufig meint man damit, alle gesellschaftlichen Optionen für das Kind freizuhalten. Ich denke, das Beste für ein Kind ist, dass man ihm ermöglicht, sich selber zu verwirklichen. Was braucht dieses Kind dabei? Was ist für mein Kind das Beste? Das sieht bei jedem Kind anders aus. Es muss nicht von außen definiert werden, was das Beste ist, sondern vom Kind her bestimmt werden. Es steht im Mittelpunkt und nicht die gesellschaftlichen Rollen und Möglichkeiten, die offengehalten werden sollen.

Welt der Frau:
Der individuelle Blick auf ein Kind wäre aber naheliegend in einer individualisierten Gesellschaft.

ULRIKE ZÖLLNER:
Die individualisierte Gesellschaft definiert sich nicht durch das Einzelne oder Besondere. Sie räumt zwar dem Individuum und seinen Möglichkeiten einen Stellenwert ein, ist aber gleichzeitig sehr konventionell orientiert. Man schaut, was man hat, was man haben sollte, wie man leben sollte. Jeder denkt, er hat den eigenen Lebensstil, dabei ist es der Stil, den die Gesellschaft präsentiert und der von vielen imitiert wird. Diese Widersprüche zeigen sich auch in der Erziehung. Nicht jedes Kind ist für das Ballett geeignet, nicht jedes Kind mag Tennis spielen. Doch das sind scheinbar unverrückbare Fixpunkte in einem Kinderleben geworden.

Welt der Frau:
Flötenunterricht, Ballett, Judo, Chor. Der Leistungsdruck, dem Kinder ausgesetzt sind, ist enorm. Was bleibt bei den sogenannten verplanten Kindern auf der Strecke?

ULRIKE ZÖLLNER:
Der Gedanke, Kinder zu fördern, ist stark verbreitet. Es gibt eine atemlose Einstellung in der Erziehung: früh genug damit beginnen, sonst sind die wichtigen Lernjahre vorbei. Hinter dem laufen alle Eltern her. Zum Beispiel Englischkurse für Kleinkinder. Zu bedenken ist aber dabei, dass jedes Kind sein Tempo hat und dass Lernen ein Leben lang möglich ist, wenn auch auf andere Art und Weise. Wenn die Motivation zum Lernen da ist, kann man sich in jedem Alter Neues aneignen. Die Bereitschaft, mit Motivation auf eine Lebenssituation zuzugehen, erscheint mir zentral.

Welt der Frau:
Verwöhnen Eltern ihre Kinder zu sehr im Glauben, dass dies Ausdruck ihrer Liebe ist?

ULRIKE ZÖLLNER:
Ich frage mich manchmal, ob wir verlernt haben, Zuneigung zu zeigen, ohne sie an irgendetwas zu binden. Statt mit Worten oder Gesten Liebe auszudrücken, wird sie zunehmend durch das Materielle gezeigt. Ich bin der Meinung, dass Eltern grundsätzlich die Beziehung zu Kindern frei halten sollen von allem Materiellen, das heißt, sie sollten nicht sagen: "Ich kaufe dir etwas, weil ich dich gerne habe" oder "Ich kaufe dir etwas, damit du mich gern hast". Liebe läuft auf ganz anderen Ebenen. Durch Körperkontakt, da sein, wenn das Kind mich braucht, aber auch dadurch, dass ich aus Sorge und Bemühen, ihm das Beste zu geben, Frustrationen setzen muss. Kinder wohlbehütet unter eine Käseglocke zu stellen, sie vor allem Unangenehmen schützen zu wollen hat ebenso wenig mit Liebe zu tun. Übergroße Liebe lässt Kinder nicht frei. Ich muss wissen, ich habe meine Wünsche an das Kind, meine Hoffnungen, während es entsteht. Der Schritt zur Realität heißt: So ist mein Kind, und ich gebe ihm, was es braucht.

Welt der Frau:
Bedeutet erziehen in der Wohlstandsgesellschaft eine besonders große Herausforderung für Eltern?

ULRIKE ZÖLLNER:
Die Erwachsenen sind gefordert, Schwerpunkte zu setzen gegen den hektischen Konsum- und Freizeitstress. Gegen die Idee, dass ein Leben nur dann erfüllt ist, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Menschen brauchen Prioritäten für ihr Leben, Fixpunkte, für die sie sich einzusetzen bereit sind. Solche Ideen sollten mit Kindern schon früh gelebt werden, indem man mit ihnen reflektiert, welchen Stellenwert ihre vielen Wünsche haben, die ständig von außen geweckt werden. Da kristallisieren sich die dauerhaften Wünsche heraus, die in Zusammenhang mit der Persönlichkeit des Kindes stehen. Denen sollten Eltern nachgehen, denn da entsteht Bindung zur Aufgabe, an der sich Kinder üben, Durststrecken hinter sich bringen und Anforderungen bestehen können. Jeder Mensch hat eine begrenzte Beziehungsenergie. Man kann nicht zu allem eine Beziehung aufbauen. Um zu Dingen eine Geschichte entwickeln zu können, muss man mit ihnen leben. Sonst bleibt es bei oberflächlicher Unterhaltung, die Kinder lustlos und gelangweilt macht.

Welt der Frau:

Wie nahe liegen Wohlstand und Verwahrlosung beisammen?

ULRIKE ZÖLLNER:
Viele Eltern kennen ihre Kinder zu wenig, weil für sie durch Arbeit, Hobbys und gesellschaftliche Verpflichtungen zu wenig Zeit bleibt. Erziehung ist ein dynamisches Geschehen. Das Begleiten des Kindes und das Wissen, wo mein Kind steht, zwingen manchmal dazu, die erzieherische Haltung zu ändern. Und das kann nur gelingen, wenn Eltern die kindliche Persönlichkeit wahrnehmen oder sich der Kontakt nicht auf Randstunden beschränkt. Beziehung ist für mich ein Grundpfeiler der Erziehung. Vielen Kindern, die in gut situierten Kreisen aufwachsen, wünsche ich, dass sie eine Kinderfrau haben, die als beständige Bezugsperson um sie ist. Ob die Kinderfrau oder ein guter Hort aber die Lösung ist, weiß ich nicht.

Welt der Frau:
Sind Werte wie Bescheidenheit, Toleranz, das Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse, Verzichtenlernen in einer Wohlstandsgesellschaft noch gefragt?

ULRIKE ZÖLLNER:
Viele dieser angesprochenen Werte sind entstanden, weil Menschen in einem großen Verbund gelebt haben. Ohne diese wäre ein Zusammenleben nicht möglich gewesen. Dieser soziale Druck ist weggefallen, denn die meisten leben in einer Kleinfamilie, wo Eltern es tolerieren können, dass das Kind den Ton angibt. Für viele Einzelkinder beginnt erst mit dem Eintritt in den Kindergarten oder die Schule das soziale Lernen und nicht in der Familie.

Welt der Frau:
Wie können Eltern einer sogenannten Wohlstandskindheit entgegenwirken? Sich in der Erziehung dem Sog des Zeitgeistes entziehen?

ULRIKE ZÖLLNER:
Eltern sollten um ihre Werte wissen und ihren Lebensstil immer wieder überprüfen. Daraus ergibt sich eine authentische Grundhaltung, auch dem Kind gegenüber.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Eltern glauben, sie stehen alleine, wenn sie mit dem verrückten Ausflugsziel der Klasse nicht einverstanden sind. Aus Angst, dass ihr Kind zum Außenseiter wird, outen sie sich nicht. Hätten sie den Mut, auf andere zuzugehen, würden sie wahrscheinlich Gleichgesinnte finden. Gleichzeitig würden sie damit den weniger gut situierten Eltern helfen, indem sie den sogenannten Wohlstandslevel in der Klasse senken.

Welt der Frau:
Weihnachten steht vor der Tür. Hat der Satz "Weniger ist mehr" beim Anblick der vielen Weihnachtsgeschenke noch Bedeutung? Sind Wunschzettel zu Bestellzetteln verkommen?

ULRIKE ZÖLLNER:
20 Geschenke bedeuten die totale Überforderung und sind Ausdruck dafür, dass Weihnachten zu einer Materialschlacht verkommen ist. Eltern müssen da ganz klar sein. Ich will nicht, dass meine Kinder nur mehr über Packungen stolpern. Die Geschenke sind bereits kaputt, bevor sie ausgepackt sind.

Drei Geschenke sind meiner Meinung nach genug. Wenn Eltern ihr Kind kennen, wissen sie um die sehnlichsten Wünsche. Diese zu erfüllen macht dem Schenkenden und dem Beschenkten große Freude. Andererseits können Kinder auch erfahren, dass die Erfüllung eines Wunsches enttäuschen kann.

Haben Sie noch eine Erinnerung an das Gefühl: "Das habe ich damals zu Weihnachten bekommen"? Es begleitet jahrelang. Und prägt nachhaltig.


(Prof.in Dr.in Ulrike Zöllner, 59, Mutter zweier Söhne,
Psychologin und Dozentin an der Hochschule für
Angewandte Psychologie in Zürich.)


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 12/2006, Seite 18-19
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2007