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KIND/079: Kindern ihre Zeit lassen (Junge.Kirche)


Junge.Kirche 4/2008
Unterwegs für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung
Focus dieses Heftes: Verlangsamen

Kindern ihre Zeit lassen

Von Elisabeth C. Gründler


Ein Kind braucht mehr als ein Jahrzehnt, um die gleiche lineare Zeitstruktur, in der seine Eltern leben, aufzubauen.


Berufstätigkeit und Elternschaft gleichzeitig zu leben, ist stressig in diesem Land. Denn seinen "Job gut machen" bedeutet, im Takt der Maschinen und des Geldes zu funktionieren. Der Gott des Turbokapitalismus ist das lineare Wachstum, sein Mantra sind die Quartalszahlen. Doch das lebendige Leben wächst in einem anderen Rhythmus. Lange Zeit passiert scheinbar nichts, es entwickelt sich im Verborgenen. Wir können es nicht machen. Wir können es nur geschehen lassen und als Gottes Geschenk annehmen. Wenn das Kind auf die Welt gekommen ist, lebt es noch in einer anderen Zeit. Sein Zeiterleben ist erfüllte Gegenwart, Kairos. Es braucht mehr als ein Jahrzehnt, um die gleiche lineare Zeitstruktur, in der seine Eltern bereits leben, innerlich aufzubauen, und es dauert noch länger, fast zwei Jahrzehnte, bis ein junger Mensch darin selbstständig handeln kann. Mit Langsamkeit stellen Kinder die Geduld von Erwachsenen jeden Tag neu auf die Probe. In beiden Sphären gleichzeitig zu leben, täglich neu die Balance zu finden zwischen Chronos und Kairos, dem eigenen Arbeitstakt und der Langsamkeit natürlicher Wachstums- und Entwicklungsprozesse von Kindern, setzt viele Eltern unter Druck.


Emmi Pikler

Eine radikale Parteigängerin der Langsamkeit von Kindern war die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler (1902-1984). Als junge Mutter nahm sie sich ein Jahr Auszeit, um ihre wissenschaftliche Hypothese zu überprüfen: "Kinder entwickeln alle Bewegungsarten wie Umdrehen, Sitzen, Krabbeln und Laufen von allein, ohne Hilfe, Stimulation oder Förderung, vorausgesetzt sie sind liebevoll umsorgt und die Umgebung ist für ihre Bedürfnisse eingerichtet." Die junge Medizinerin fasste sich in Geduld und erlebte staunend, wie sich ihre Tochter Anna aus eigener Kraft aufrichtete und schließlich selbstständig ihre ersten Schritte tat. Später als diejenigen Kinder, die aufgesetzt, gestützt und an die Hand genommen werden - doch was bedeuten wenige Wochen oder Monate früher oder später Stehen oder Gehen im Vergleich zu dem lebenslangen Gefühl, aus eigener Kraft in den aufrechten Gang gefunden zu haben? Dieses Gefühl eigener Kraft und Kompetenz, das im Körpergedächtnis gespeichert wird, ist eine Mitgift fürs Leben. Das fand die Forscherin Margit Hirsch drei Jahrzehnte später heraus. Kinder, die ohne Eltern in einem Heim aufwachsen mussten, erlitten dann keine Hospitalismusschäden, sondern führten als Erwachsene ein sozial integriertes Leben und gründeten eigene Familien, wenn es ihnen ermöglicht wurde, im eigenen Rhythmus und aus eigener Kraft alle Bewegungsarten selbstständig zu entwickeln. Das Heim, in dem diese Entdeckung in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts gemacht wurde, war das Lòczy in Budapest. Emmi Pikler hat es 1945 gegründet und bis 1979 geleitet. Heute ist es unter dem Namen Emmi-Pikler-Stiftung nicht nur Heimstatt für elternlose Kleinkinder, sondern auch Krippe, Fortbildungsinstitut und eine international anerkannte Forschungsstätte.

"Lasst mir Zeit" ist Emmi Piklers wissenschaftliches Hauptwerk. Darin dokumentiert sie anhand der Entwicklungsverläufe von über 700 Kindern, dass unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten bei Kleinkindern völlig normal sind: das eine Kind richtet sich mit sieben Monaten auf, das andere erst mit einem Jahr; eines tut mit zehn Monaten die ersten Schritte, ein anderes erst im Alter von anderthalb Jahren. Pikler wies nach, dass es für den späteren Lebensverlauf der Kinder bedeutungslos ist, in welchem Alter sie welche Entwicklungsschritte gemacht haben. Die Ärztin leitete ihre Mitarbeiterinnen an, sich den Säuglingen und Kleinkindern bei der Pflege so zuzuwenden, dass sie emotional satt wurden. "Säuglingspflege ist Erziehung", lautete ihr oberster Grundsatz. Die Qualität des Umgangs mit dem Kind entscheidet über dessen grundlegende erste Erfahrung mit der Welt. Erlebt das Kind die Hände, die es berühren, als "tastend, empfindsam, behutsam und feinfühlig", so Pikler, dann entspannt sich das Kind und fühlt sich aufgehoben in der Welt. Dass dazu Zeit im Sinne von Chronos notwendig ist, damit sich im entspannten Miteinander von Erwachsenen und Kindern Kairos entfalten kann, liegt auf der Hand.

Kinder, die Geborgenheit und Vertrauen erleben und ihre Bezugsperson in ihrer Nähe wissen, werden eigenständig aktiv, in der Bewegung und im Spiel. Sie brauchen keine Animation. Emmi Pikler richtet die Umgebung der Kinder so ein, dass sie in ihrer selbstständigen Bewegung und ihrer Spielaktivität unterstützt werden: Spielgitter, an denen die Kinder sich hochziehen können, oder flache Podeste, wo Erfahrungen mit Höhenunterschieden möglich werden. Sie entwirft ein Essbänkchen, um den Kleinkindern auch beim Essen möglichst große Selbstständigkeit zu ermöglichen, und versieht die Wickeltische an drei Seiten mit Sicherheitsgittern, damit Kinder, die bereits stehen können, zum Wickeln nicht mehr hingelegt werden müssen. Eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen erwachsener Bezugsperson und Kind wird auf diese Weise möglich. Das Kind wird in seiner bereits entwickelten Kompetenz und Autonomie bestärkt. "Liebe kann man nicht verlangen", sagt Anna Tardos, die Kinderpsychologin und heute Direktorin der Emmi-Pikler-Stiftung, "doch es ist möglich, Kindern die Erfahrung zu vermitteln, dass sie angenommen und geborgen sind."


Die Basisgemeinde Wulfshagenerhütten

Obwohl die Bücher der deutschsprachigen Ungarin seit mehreren Jahrzehnten in Deutschland verlegt sind, wurde den Erkenntnissen Emmi Piklers bis vor wenigen Jahren wenig Beachtung geschenkt. Das war nicht nur den politischen Zeitläufen geschuldet, die Ungarn vom übrigen Mitteleuropa trennten, sondern auch unserem Machbarkeitswahn und unserem hektischen, von Medien und Maschinen bestimmten Zeittakt, der bis in die Erziehung hineinreicht. Im unübersehbaren Angebot von Frühförderung und Stimulationsprogrammen, von PekiP, Säuglingsschwimmen und Leseförderung für Dreijährige, wirken "Abwarten und Zeit lassen", um genau hinzuschauen und wahrzunehmen, was das Kind braucht, wie Signale von einem anderen Stern. Erst seit wenigen Jahren beginnt man, Pikler wieder zu entdecken. Das Curriculum des Deutschen Jugendinstituts in München für die Qualifizierung von Tagesmüttern bezieht sich auf Pikler, die Eltern-Kind-Kurse der Familienbildungsstätten des Erzbistums Köln arbeiten seit Jahren auf der Grundlage der Erkenntnisse Piklers. Auch auf politischer Ebene reift inzwischen die Einsicht, dass Elternschaft und Berufstätigkeit keine sich gegenseitig ausschließenden Welten sein dürfen, wenn die Gesellschaft eine Zukunft haben will. Einen wichtigen Beitrag zur Wiederentdeckung Piklers leistet die Basisgemeinde Wulfshagenerhütten. Begründet wurde die christliche Lebensgemeinschaft 1973 von Menschen um den Pfarrer Gerhard Weber in Kornwestheim bei Stuttgart. Seit 1983 lebt die Basisgemeinde in Wulfshagenerhütten bei Kiel in Schleswig-Holstein, wo sie einen alten Gutshof erworben hat. 65 Menschen leben hier in Gütergemeinschaft und verstehen sich mit ihrer Vision vom Reich Gottes in der Gegenwart in der Tradition der Urchristen und christlicher Basisbewegungen, die von Franz von Assisi über die hutterischen Täufergemeinden bis zu den lateinamerikanischen Basisgemeinden reicht. Wirtschaftliche Grundlage der Basisgemeinde ist ihre genossenschaftlich geführte Holzwerkstatt, wo sie versucht, ihre Vision von gerechter Arbeit zu leben. Dort werden neben Holzspielzeug und Hengstenberg-Bewegungsgeräten auch diejenigen Materialien und Gegenstände hergestellt, die Pikler entwickelt hat, um die Umgebung von Säuglingen und Kleinkindern so zu gestalten, dass diese ihre Bewegungen und ihre Spielaktivitäten selbstgesteuert entwickeln können: Podeste und Spielgitter, Essbänkchen und Sicherheitsgitter für Wickeltische, die eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen Kind und Erwachsenem möglich machen.

Aufrechter Gang als soziale und politische Tugend von mündigen Bürger/innen, die sich einmischen und Verantwortung übernehmen, ist heute so dringend notwenig wie je. Wem in früher Kindheit die Zeit gelassen wurde, ihn sich eigenständig körperlich zu erarbeiten, wird als Erwachsener weniger versucht sein, sich wegzuducken oder sich klein machen zu lassen.


(Elisabeth C. Gründler ist freie Journalistin und Autorin)


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Inhaltsverzeichnis - Junge.Kirche 4/2008

Focus: Verlangsamen
- Der Katastrophe Einhalt gebieten / Klara Butting
- Was ist schon Zeit? / Brigitte Rohde & Beate Spilger
- Heilige Zeiten / Claudia Brinkmann-Weiß
- Eine nachhaltige Mobilitätskultur / Jobst Kraus & Jutta Steigerwald
- Die futuristische Verherrlichung der Geschwindigkeit und ihre Kritik im Dadaismus
Die Umkehr des Verkehrs in Johannes Schreiters Glasbildwelt / Sigurd Bergmann

Zwischenruf I
- 75 Jahre Junge Kirche / Kristin Flach-Köhler und Karin Böhmer

Zwischenruf II
- 75 Jahre Junge Kirche / Gunther Schendel
- Leben ohne Führerschein / Ullrich Hahn
- Kindern ihre Zeit lassen / Elisabeth C. Gründler
- Wie Kinder das Leben verlangsamen / Christiane Kohler-Weiß
- Alles hat seine Zeit / Günter Altner
- Befreiung vom Hamsterrad / Fritz Reheis
- Der Schlafbootverleih / Benita Joswig


Forum
- 40 Jahre AGDF - 40 Jahre aktiv für den Frieden / Jan Gildemeister
- Interkulturelle Öffnung von Kirche und Diakonie
Asyl in der Kirche
- Otra America es posible / Bernd Kappes
- Breklumer Brief
Plädoyer für eine ökumenische Zukunft
- Die Gier der Finanzjongleure / Achim Schwabe
- Geistlicher Beistand für den ehrbaren Kaufmann / Silke Niemeyer
- Mit Menschenrechten gegen den Hunger / Bernd Kappes
- Wir sind der Schmerz, nicht die Ärzte / Hans-Jürgen Benedict

Sozialgeschichtliche Bibelauslegung
- Die messianische Hochzeit / Ton Veerkamp

Predigt
- Bestürzende Frömmigkeit / Harald Schroeter-Wittke

Geh hin und lerne!
- Trippeln und Sabbatgang / Gernot Jonas und Paul Petzel

Buchseiten, Veranstaltungen
Impressum und Vorschau


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Quelle:
Junge Kirche, 69. Jahrgang, Nr. 4/2008, Seite 20-22
Herausgeber: Erev-Rav, Verein für biblische und politische Bildung
Redaktion: Junge Kirche, Luisenstraße 54, 29525 Uelzen
Tel. & Fax 05 81/77 666
E-Mail: verlag@jungekirche.de
Internet: www.jungekirche.de

Die Junge Kirche erscheint viermal im Jahr.
Der Jahrespreis beträgt 26 Euro inkl. Versandkosten.
Einzelheft 6,50 Euro inkl. Versandkosten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2009