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KIND/099: Kinder als kompetente Akteure ihrer sozialen Wirklichkeit (Uni Bielefeld)


BI.research 38.2011
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Ein (migrations-)pädagogischer Blick auf die Vorschulerziehung
Kinder als kompetente Akteure ihrer sozialen Wirklichkeit

von Dr. Hans-Martin Kruckis


An dem Profilschwerpunkt sind neben den Erziehungswissenschaften und der Psychologie noch Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Rechtswissenschaft, Gesundheitswissenschaften, Philosophie und Theologie sowie das international renommierte Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) beteiligt. Er befasst sich mit den komplexen Vorgängen menschlicher Entwicklung und umfasst dabei die Entwicklung des Kindes, aber auch die sozialer Zusammenhänge und Institutionen, die menschliches Dasein in verschiedenen Gesellschaften und Kontexten prägen. Die komplexe Struktur des Schwerpunkts macht Ursachen und folgen individueller Schädigung und Zerstörung in privaten wie öffentlichen Institutionen durch kollektive ethnisch-kulturelle, religiöse, politische und institutionelle Gewalt der interdisziplinären und international orientierten Forschung zugänglich.


"Die Zugänge zur Wirklichkeit, wie sie sich Kindergartenkinder erarbeiten, haben ihre eigene Dignität", betont die Bielefelder Erziehungswissenschaftlerin Professor Dr. Isabell Diehm, die sich mit der Kindergartenphase vor allem unter migrationspädagogischem Blickwinkel beschäftigt. Daher dürfe diese vom Spiel dominierte Phase nicht als reine Vorstufe zur Schule missverstanden werden. Spätestens seit dem Pisa-Schock sind aber auch Kindergärten als Institutionen in der öffentlichen Diskussion, in denen schon früh die Weichen für späteren Erfolg im Leben gestellt werden - und dabei werden gerne neurowissenschaftliche Erkenntnisse hinzugezogen. Dass es sich um eine wichtige Phase der kognitiven und sozialen Prägung handelt und Kinder mit Migrationshintergrund hier besondere Aufmerksamkeit brauchen, dürfte unumstritten sein. Allerdings, so Isabell Diehm, gemessen an der öffentlichen Diskussion gibt es noch vergleichsweise wenige valide Forschungen zur vorschulischen Erziehung in der von Migration geprägten modernen Gesellschaft. Was es gibt, steht quer zu manchen landläufigen Überzeugungen. Zeitweilig war beispielsweise von Zeitfenstern die Rede, in denen Kinder für bestimmtes Wissen besonders aufnahmefähig seien und die es daher intensiv zu nutzen gelte. Isabell Diehm widerspricht dem mit Nachdruck: "Es gibt nach den neuesten spracherwerbstheoretischen Befunden offenbar nicht so klar abgegrenzte Zeitfenster beim Spracherwerb wie bislang angenommen." Englisch bereits im Kindergarten zu vermitteln, ist also wenig sinnvoll? Das ist nicht die zwingende Konsequenz, meint die Erziehungswissenschaftlerin: "Wenn das auf spielerische Weise geschieht und Spaß damit verbunden ist, trägt das zu dem bei, was als 'language awareness' bezeichnet wird und einen reflektierten Umgang mit Sprache anregt". Zugleich spricht sie sich auch dagegen aus, ein Interesse für Buchstaben und das Lesen im Kindergarten aus Gründen der organisationellen Zuständigkeit zu unterbinden: "Kinder leben schließlich in einer Welt, in der sie von Schrift umgeben sind."


Frühe Reproduktion von Vorurteilen

Dass sich Kinder früh gegen Rassismus imprägnieren ließen, weil sie unbefangen und noch frei von Vorurteilen seien, gehört ebenfalls zu den für die Kindergartenerziehung wenig hilfreichen Mythen. "Kinder", sagt Diehm, "sind sehr kompetente Akteure ihrer sozialen Wirklichkeit." Und das heiße auch, dass sie sehr früh gesellschaftlich aufgeladene Unterscheidungen und Wertungen benutzen, auch wenn sie deren Tragweite noch nicht so überblicken wie Ältere. Am frühesten gelte dies für Genderdifferenzen, ethnische Unterscheidungen werden von Kindern nicht viel später aufgegriffen. Isabell Diehm warnt davor, das Problem dadurch lösen zu wollen, dass man es als permanenten Unterrichtsgegenstand etabliert: "So etwas kann man nicht programmatisch lehren. Viel wichtiger ist es, eine Atmosphäre zu erzeugen, in der Kinder Toleranz und Anerkennung erfahren, im Sinne von: eher leben als lehren". Ein solches pädagogisches Arrangement sei erfolgversprechender als der erhobene Zeigefinger, sagt Diehm. Die Erziehungswissenschaftlerin gehört zu den 15 Professorinnen und Professoren in dem Sonderforschungsbereich (SFB) "Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten" an der Universität Bielefeld, der im Mai von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bewilligt wurde. Ihr Teilprojekt heißt: "Ethnizität und die Genese von Ungleichheit in Bildungseinrichtungen der (frühen) Kindheit".

Was aber tun, wenn es tatsächlich zu Übergriffen und Verletzungen kommt? Dann, so meint Isabell Diehm, ist es wichtig, sich zunächst einmal auf die Seite der Opfer zu schlagen und den betroffenen Kindern ein Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln - und zwar eine Zugehörigkeit mit ihren spezifischen Eigenheiten. Wie aber geht man mit den "Tätern" um? Dafür gebe es keine Rezepte. Aufgabe von Pädagoginnen und Pädagogen sei schließlich der professionelle, das heißt der fallbezogene, situations- und kontextangemessene Umgang mit Ungewissheit.


Anerkennung des "Mitgebrachten"

Ein wichtiger Aspekt bei der Anerkennung von Kindern aus Migrationszusammenhängen ist ein maßvoller Umgang mit der Sprachenkompetenz. Die Muttersprache im Kindergarten rigoros zu unterdrücken, wäre eine grobe Missachtung der Eigenheiten von Kindern, stellt Diehm fest, ohne dass sie dafür plädiert, wie dies zum Teil die Diskussionen während der 1980er Jahre prägte, die Muttersprachen im Kindergarten oder den Grundschulen systematisch zu fördern oder zu unterrichten. Motivierender - letztlich auch für das Deutschlernen - ist es, ihr Selbstbewusstsein dadurch zu stärken, dass man anerkennt, dass sie bereits eine eigene Sprache gelernt haben. Sehr kritisch sieht Isabell Diehm in diesem Zusammenhang den in Nordrhein-Westfalen obligatorischen Sprachtest für Vierjährige Delfin4, der (eigentlich gegen die eigenen Intentionen) einen Selektionsdruck auf die weniger Sprachkompetenten ausübt und dies auch noch bei "hochgradig dubiosen Verfahren der Feststellung von Sprachkompetenz".

Nicht nur in den Medien, auch in Teilen der Pädagogik, wird Misserfolg im Bildungssystem immer noch tendenziell weniger dessen problematischen Seiten als den Individuen zugerechnet, "nach dem Prinzip 'blaming the victim'". Solche gängigen Klischees seien, so Isabell Diehm, dringend zu hinterfragen. Kein Klischee ist dagegen die empirisch belegte Tatsache, dass Empfehlungen zu weiterführenden Schulen stark vom sozialen Status der Eltern abhängen, ohne dass man den betreffenden Grundschullehrerinnen und -lehrern dabei individuelle Bosheit unterstellen dürfte. Bessere Bildungschancen für Migrantenkinder sieht Diehm in erster Linie durch die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems: "Vier Grundschuljahre als 'Aufholzeit' gegenüber den deutschen Mitschülerinnen und Mitschülern sind viel zu kurz. Es muss eine deutlich längere Phase des gemeinsamen Lernens geben, während derer die Stärkeren die Schwächeren mitziehen können." Und es müsse Ganztagsbetreuung sowohl in Kindergärten wie in Schulen geben. Dass sich die Eltern von ausländischen Kindern in vielen Fällen wenig für den Bildungserfolg ihres Nachwuchses interessierten, hält Isabell Diehm für ein Vorurteil: "Mit ganz wenigen Ausnahmen wollen alle Eltern das Beste für ihre Kinder, und sie sind sich dabei des engen Zusammenhanges zwischen Bildung und sozialem Aufstieg sehr bewusst. Ganz im Gegenteil haben ausländische Eltern sogar besonders hohe Erwartungen an unser Bildungssystem".


Akademisierung der Ausbildung

Für ganz unabdingbar hält die Erziehungswissenschaftlerin eine Professionalisierung und das heißt Akademisierung der Ausbildung von "Erziehern", wie die offizielle Berufsbezeichnung in diesem fast vollständig von Frauen dominierten Feld merkwürdigerweise heißt. Selbstverständlich seien auch bei kleinen Kindern großes pädagogisches Wissen und analytische Kompetenz gar nicht zu überschätzen, und gleichzeitig bedeute eine bessere Ausbildung auch bessere Bezahlung und höheres Sozialprestige für den Erzieherberuf. Das soll nach ihrer Auffassung aber die großartigen Leistungen, die bei den heutigen Erzieherinnen nicht zuletzt oft von großer Empathie und überdurchschnittlichem Engagement geprägt sind, nicht schmälern. "In Finnland", erläutert Isabell Diehm, "haben die Erzieherinnen und Erzieher im Bereich Kindergarten und Grundschule das höchste Sozialprestige, und bei der Zulassung zum Beruf gibt es scharfe Auswahlkriterien."


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Selbstbewusstsein stärken: Isabell Diehm fordert, eine nicht-deutsche Muttersprache von Kindern im Kindergarten nicht zu unterdrücken, sondern vielmehr zu würdigen, dass sie bereits eine eigene Sprache gelernt haben.

Die Erziehungswissenschaftlerin Isabell Diehm plädiert für eine Akademisierung der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern.


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Quelle:
BI.research 38.2011, Seite 21-25
Herausgeber:
Referat für Kommunikation der Universität Bielefeld
Leitung: Ingo Lohuis (V.i.S.d.P.)
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2011