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KIND/109: Autonomie und Zuwendung - eine generationale Perspektive auf das Wohlbefinden (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97

Autonomie und Zuwendung
Eine generationale Perspektive auf das Wohlbefinden von Kindern in der mittleren Kindheit

Von Sabine Andresen



Erziehungsstile, Freiheiten, die den Kindern gewährt werden, und der innerfamiliäre Umgang miteinander prägen das Generationenverhältnis und markieren generationalen Wandel. In diesem Beitrag geht es um die Frage, welche Beziehungserfahrungen Kinder vor allem mit ihren Eltern machen und wie diese zu ihrem Wohlbefinden beitragen. Die heutige Generation der Kinder in Deutschland zwischen sechs und elf Jahren scheint die Balance zwischen elterlicher Fürsorge und der Gewährung von Autonomie besonders wertzuschätzen. Daran angelehnt wäre zu fragen, was die Generation heutiger Eltern dazu befähigt, genau diese in ihrem elterlichen Alltag zu gewährleisten.

Wie man insgesamt auf die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern blickt, liegt an spezifischen Interessen, Vorannahmen, Vorstellungen von »guter Erziehung« und »guter Kindheit« und nicht zuletzt am Alter des Kindes. Insbesondere die Vorstellungen »guter« Kindheit und Erziehung hängen auch von generationalen Erfahrungen sowie vom Zeitgeist ab. Fragt man nach der Beziehungsqualität zwischen primären Bezugspersonen und sehr jungen Kindern, dominiert seit Jahren eine bindungstheoretische Perspektive (Leuzinger-Bohleber 2009). Diese richtet ihr Augenmerk auf sensible Phasen des Kindes für die Entstehung sicherer Bindungen, auf die Sensibilität der Mutter und anderer Bezugspersonen und auch auf die Wechselwirkung elterlicher und außerfamiliärer Betreuung. Die Jugendforschung hingegen blickt traditionell auf Beziehungsqualität mit Blick auf Modi der Ablösung des Kindes vom Elternhaus und damit auf eine neue Balance zwischen Nähe und Distanz (Andresen 2005). Im Folgenden geht es primär um die Beziehungsqualität zwischen Eltern und ihren Kindern in der mittleren Kindheit, also zwischen sechs und zehn Jahren, denn das Aushandeln von Nähe und Distanz spielt auch schon vor der Jugendphase eine nicht unbeträchtliche Rolle. Beziehungsqualität wird als Verhältnis von Fürsorge und Selbstbestimmung behandelt und mit Überlegungen zu kindlichem Wohlbefinden verbunden.

Aus den vorliegenden internationalen Studien zum subjektiven Wohlbefinden tritt die Bedeutung von Beziehungen markant hervor - sei es zu Eltern und anderen Erwachsenen, sei es zu Geschwistern und anderen Gleichaltrigen sowie insbesondere zu Freundinnen und Freunden. Der jüngst erschienene Report über das subjektive Wohlbefinden von Kindern in Großbritannien »The Good Childhood Report 2012« (The Children's Society 2012) belegt beispielsweise deutlich, dass die Familien insgesamt für das übergreifende subjektive Wohlbefinden von Kindern entscheidend sind.

Beziehungsqualität kann konzeptionell mit guten Gründen als eine zentrale Dimension des Wohlbefindens von Kindern, und zwar nicht nur in der mittleren Kindheit, verstanden werden. Die meisten Erfahrungen, die Kinder machen, haben einen Beziehungskontext. Wenn Kinder mit ihren Eltern aufwachsen, so geht es aus ihrer Sicht immer um die Art und Weise, wie diese für sie sorgen, wie sie mit ihnen umgehen, auf welche Art sie ihrer elterlichen Liebe Ausdruck verleihen, welche Regeln sie aufstellen und durchsetzen sowie ob und wie sie bei Regelverstößen strafen, um nur einige Aspekte zu nennen. Darüber hinaus sind aber Beziehungen zwischen Kindern und ihren Eltern keineswegs nur von den innerfamiliären Interaktionen geprägt, sondern unter anderem auch durch die sozialen Rahmenbedingungen der Familie, durch gesellschaftliche Normen sowie durch familienpolitische Ressourcen oder Beschränkungen.


Wie Kinder Trennungen erleben

Nun stellt sich die Frage, wie denn Beziehungsqualität gemessen werden kann. In dem britischen Report »The Good Childhood« werden drei Teildimensionen von Beziehungsqualität fokussiert und mit der Frage verbunden, wie sie das gesamte Wohlbefinden (»overall well-being«) beeinflussen. Diese drei Dimensionen sind erstens die generelle Qualität familiärer Beziehungen, zweitens die Erfahrung, wie Kinder einbezogen werden in familiäre Entscheidungen und ob ihre Meinung gehört wird, und drittens, welche Veränderungen sie innerhalb familiärer Beziehungen, etwa durch Trennung erleben (The Children's Society 2012). Bei der Frage nach der generellen Einschätzung der Beziehungsqualität schloss die Studie an Huebner (1994) an und fragte beispielsweise danach, ob Kinder die gemeinsame Zeit in der Familie genießen, ob sich die einzelnen Familienmitglieder freundlich zueinander verhalten und ob die Eltern das Kind gerecht behandeln. Aufschlussreich ist zudem die Perspektive der familiären Stabilität beziehungsweise personellen Kontinuität, verbunden etwa mit der Frage, ob die aktuell mit dem Kind in einem Haushalt lebenden Personen auch vor einem Jahr im selben Haushalt lebten.

Anhand der Befunde thematisieren die Autoren, dass die Kinder mit instabilen beziehungsweise diskontinuierlichen familiären Beziehungserfahrungen ein im Vergleich niedrigeres Wohlbefinden aufweisen als andere Gleichaltrige. Insgesamt hatten 88 Prozent der Kinder zwischen acht und fünfzehn Jahren keine Erfahrungen familiärer Instabilität. Der Report problematisiert jedoch, ob der innerfamiliäre Wandel selbst zu einem geringeren Wohlbefinden beiträgt oder ob vielmehr die damit verbundenen veränderten familiären Rahmenbedingungen wie etwa ein Umzug oder insgesamt geringere materielle Ressourcen dafür ausschlaggebend sind. Außerdem lägen keine Befunde darüber vor, ob das Wohlbefinden genau dieser Kinder nicht möglicherweise schon vor dem innerfamiliären Wandel beeinträchtigt war.


Die richtige Balance finden

Die Frage, wie Wohlbefinden und familiäre Beziehungsqualität erfasst werden kann, war auch eine Herausforderung der World Vision Kinderstudien von 2007 und 2010 (World Vision 2007; 2010). Sie verbinden einen repräsentativen Survey über Kinder zwischen acht und elf Jahren aus dem Jahr 2007 sowie über Kinder zwischen sechs und elf Jahren in Deutschland aus dem Jahr 2010 mit einer zweiten Studie 2010, für die insgesamt 2.529 Kinder standardisiert zu Hause befragt wurden zu den Themen Familie, Schule, Freizeit und Gleichaltrige sowie über Wünsche, Ängste und ihr subjektives Wohlbefinden. Zwölf Kinder zwischen sechs und elf Jahren wurden zusätzlich in individuellen Fallstudien porträtiert. Diese qualitativen Interviews basieren auf einem speziell entwickelten Spiel, das den Kindern die Möglichkeit gibt, konkret ihre psychosoziale Umwelt darzustellen, also an welchen Orten sie sich aufhalten, welche Personen sie dort treffen und was ihnen daran besonders wichtig ist. Darüber hinaus befasste sich die Studie 2010 intensiver mit Zeiterfahrungen der Kinder, wobei insbesondere die selbstbestimmten Anteile der Zeit in den Blick genommen wurden. Am Ende der Interviews wurden die Kinder gebeten, die fünf wichtigsten »Dinge«, die jedes Kind, egal, wo es aufwächst, für ein gutes Leben benötigt, aufzuzeichnen oder zu benennen.

Was Kinder nennen, sind sowohl die Befriedigung der Grundbedürfnisse, ein Zuhause mit liebevollen Eltern und weiteren Menschen, die sich um einen kümmern, Freunde, aber auch Dinge, die Kommunikation und Mobilität ermöglichen, also Handy und Fahrrad oder U-Bahn. Das zeigt, dass in der zweiten Studie die kindlichen Sichtweisen im Fokus standen, und zwar in eher universalistischer Hinsicht mit Blick auf ein gutes Leben für alle Kinder sowie in individueller Perspektive auf ihre ganz persönliche Lebenssituation und ihr subjektives Wohlbefinden.

Dass Eltern für das Wohlbefinden von Kindern dieser Altersgruppe eine zentrale Rolle spielen, ist nicht wirklich überraschend. Aufschlussreich ist hingegen die Balance zwischen den Graden der Fürsorge und den Graden gewährter Selbstbestimmung im elterlichen Handeln. Sie spielt für die Beziehungsqualität aus der Sicht heutiger Kinder eine wichtige Rolle. Die World Vision Kinderstudie 2010 gibt Hinweise darauf, dass es genau die Verbindung aus gewährter Autonomie und Zuwendung ist, für die sich ein signifikanter Zusammenhang mit einer hohen Lebenszufriedenheit aufzeigen lässt.

Deutlich wird dabei aber die Relevanz von Armut und sozialer Herkunft, wenn Kinder sowohl einen Mangel an Fürsorge als auch einen Mangel an Selbstbestimmung wahrnehmen. Die Qualität von Beziehungen hängt an elterlichem Verhalten, aber sie ist auch abhängig von den sozialen Rahmenbedingungen, in denen Familien ihre Beziehungen und ihre Erziehung gestalten. Die familiäre Beziehungsqualität stellt insofern einen Indikator zur Charakterisierung ungleicher Kindheiten dar.


Haben Eltern genug Zeit für ihre Kinder?

Bereits in der World Vision Studie 2007 wurde Wohlbefinden anhand einer auf den elterlichen Erziehungsstil bezogenen Dimension mitbestimmt. Gefragt wurden die Kinder, wie zufrieden sie mit den von den Eltern gewährten Freiheiten sind. Daran wurde im Jahr 2010 systematisch angeschlossen, verbunden mit dem Anspruch, sowohl elterliche Fürsorge als auch Selbstbestimmung - soweit diese im familiären Einflussbereich liegt - aus der Sicht von Kindern konkreter zu fassen.

Familiäre Zuwendung wird in der World Vision Kinderstudie 2010 zum einen als Zufriedenheit mit der zeitlichen Zuwendung durch die Eltern erhoben, zum anderen durch die allgemeine Frage nach der Zufriedenheit damit, wie die Eltern für ihr Kind da sind (World Vision 2010). Etwa zwei Drittel der befragten Kinder sind nach eigenen Angaben mit der Zeit zufrieden, die ihre Mutter für sie aufwendet, aber nur jedes dritte Kind mit der Zeit der Väter. Nimmt man die Aussagen der Kinder zu den Müttern und Vätern zusammen und bezieht ihre familiären Konstellationen ein, ergibt sich folgendes Bild: 87 Prozent aller Kinder äußern keine Zuwendungsdefizite. Sie bekommen von mindestens einem Elternteil genügend zeitliche Zuwendung. 11 Prozent der Kinder geben dagegen an, dass ein Elternteil nicht genügend Zeit für sie hat und der andere (wenn vorhanden) nur »mal so, mal so« für sie da ist. 2 Prozent der Kinder äußern ungenügende zeitliche Zuwendung in Bezug auf beide Eltern. Insgesamt können damit für 13 Prozent der Kinder Zuwendungsdefizite festgehalten werden. Diese Tendenzen wiederholen sich bei der allgemeiner gefassten Frage nach der Gesamtzufriedenheit mit der elterlichen Zuwendung, wobei sich auch hier zunächst die für Kinderbefragungen typische, sehr hohe Zufriedenheitsbekundung zeigt.


Was Kinder entscheiden dürfen

Wie lässt sich Selbstbestimmung als Erfahrung konkretisieren? Eine der darauf bezogenen Fragen war, wo Kinder im Alltag mitbestimmen dürfen. Hier sind einerseits Altersunterschiede zu berücksichtigen: Je älter die Kinder sind, desto höher bewerten sie ihre Möglichkeiten mitzugestalten. Andererseits gibt es auch einen Unterschied, wobei mitbestimmt wird: Den größten Entscheidungsspielraum sehen Kinder bei der familiären Gestaltung der Freizeit. 80 Prozent geben an, hierbei mitbestimmen zu können. An zweiter Stelle folgt die tägliche Auswahl der Kleidung (77 Prozent), an dritter der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten folgt die eigene Entscheidung oder das Mitbestimmen darüber, wofür das Taschengeld ausgegeben wird (73 Prozent). Deutlich seltener können Kinder (mit)entscheiden, wie viele Freunde sie nach Hause mitbringen (42 Prozent).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass sowohl das Teilkonzept Fürsorge als auch insbesondere das der Selbstbestimmung in konkrete Alltagserfahrungen zu übersetzen ist. Hier liegen Erkenntnismöglichkeiten, sich Fragen der Beziehungsqualität zwischen Kindern und Eltern zu nähern, den generationalen Wandel zu rekonstruieren und die Balancierung zwischen den Graden der Fürsorge und denen der Autonomie zu charakterisieren.

Prof. Dr. Sabine Andresen ist Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe Universität Frankfurt.
Kontakt: S.Andresen@em.uni-frankfurt.de


LITERATUR

ANDRESEN, SABINE (2005): Einführung in die Jugendforschung. Darmstadt

HUEBNER, E. SCOTT (1994): Preliminary Development and validation of a multidimensional life satisfaction scale for children. In: Psychological Assessment 6 (2), S. 149-158

LEUZINGER-BOHLEBER, MARIANNE (2009): Frühe Kindheit als Schicksal? Trauma, Embodiment, Soziale Desintegration. Psychoanalytische Perspektiven. Mit kinderanalytischen Fallberichten von Angelika Wolff und Rose Ahlheim. Stuttgart

THE CHILDREN'S SOCIETY (2012): The Good Childhood Report 2012. A review of our children's well-being Im Internet verfügbar unter www.childrenssociety.org.uk/well-being. (Letzter Zugriff 16.1. 2012.)


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www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97, S. 25-27
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2012