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SCHULE/305: Flexible Möbel, flexibler Unterricht? (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2010

Flexible Möbel, flexibler Unterricht?

Von Wolfgang Schöning und Astrid Baltruschat


"Wie man sich bettet, so liegt man", heißt es. Gilt in Anlehnung daran auch, dass so genannte "flexible Klassenzimmer" mit neuartigem Mobiliar tatsächlich vermehrt zu flexiblen Unterrichtsformen führen? Der Lehrstuhl für Schulpädagogik führt dazu eine Studie durch.


Hinter dem Begriff des "flexiblen Klassenzimmers" verbirgt sich eine neue Raumkonzeption, die sich deutlich von den traditionellen Formen der Klassenzimmergestaltung absetzt. An die Stelle einer einheitlichen Ausrichtung aller Arbeitsplätze auf ein gemeinsames Zentrum hin, das üblicherweise durch eine fest installierte Tafel an einer Zimmerfront markiert ist, tritt eine Neustrukturierung des Raums in eine "Lernlandschaft", die aus flexibel kombinierbaren Tischen und leicht verschiebbaren Tafelelementen und Projektionsflächen entsteht. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Konzepts sind Tische in Dreiecksform, die vielfältige Kombinationen ermöglichen, vom Einzel- über den Zweierplatz bis hin zu nahezu beliebigen Gruppenanordnungen, aber auch Klassenformationen wie Frontalausrichtung, Hufeisen oder Sitzkreis. Mittels einer Rolle an einem Tischbein lassen sich die Tische geräuschlos verschieben und aufgrund ihres Gewichts und ihrer Größe auch leicht stapeln und wegräumen. So soll sich ein reibungsloser Wechsel zwischen variablen Tischkombinationen und daraus entstehenden neuen Raumkonstellationen auch innerhalb einer Lehreinheit (einer Schulstunde) vollziehen. Aus den flexiblen Lernformationen ergibt sich eine wechselnde Ausrichtung der Lernenden, der die verschiebbaren Tafeln und Projektionsflächen Rechnung tragen sollen. Sie ermöglichen sowohl die Fokussierung eines gemeinsamen Zentrums als auch die Arbeit an dezentralen Flächen und in separaten Bereichen.

Erklärtes Ziel des Erfinders des Dreieckstischs, Wilfried Buddensiek von der Universität Paderborn, und der Unternehmerin Karin Doberer, die das "flexible Klassenzimmer" vertreibt, ist es, den herkömmlichen Unterricht mit seinem hohen Anteil an gleichgerichtetem Klassenunterricht durch das flexible Mobiliar zu transformieren. Die häufig kritisierte traditionelle Staffelung des Klassenzimmers durch Bankreihen, die Fremdsteuerung des Lernens und die uniforme Anpassung der Heranwachsenden an ein einheitliches Lerntempo - so die Leitvorstellung der Exponenten des flexiblen Klassenzimmers - sollen überwunden werden. Angestrebt wird ein höherer Anteil an Gruppenarbeit und ein häufigerer Wechsel zwischen den unterrichtlichen Sozialformen der Einzel-, Partner-, Gruppen- und Klassenarbeit. Auf diese Weise soll eine neue Lernkultur etabliert werden, in der die zentrale Rolle des Lehrers als Vermittler zugunsten eines höheren Maßes an Selbsttätigkeit der Schüler zurücktritt. Aus deren eigenverantwortlicher und selbstbestimmter Arbeit in flexibel wechselnden Formationen würden die Schüler nicht nur mehr Freude am Lernen haben, sondern auch größere Selbstständigkeit und weitere wesentliche Schlüsselqualifikationen wie Kooperationsbereitschaft und Teamfähigkeit entwickeln.

Das "flexible Klassenzimmer" hat in den letzten Jahren rasche Verbreitung an Schulen verschiedener Schularten in der Bundesrepublik und im benachbarten Ausland, aber auch an Universitäten gefunden. Auch an der KU sind zwei Seminarräume mit "flexiblen Klassenzimmern" ausgestattet worden, um die Studierenden bereits in der ersten Phase der Lehrerbildung mit abwechslungsreichen Arbeitsformen in Korrespondenz mit einer flexiblen Raumnutzung bekannt zu machen. Das Forschungsprojekt versucht herauszufinden, in welcher Weise das "flexible Klassenzimmer" in der Schulpraxis tatsächlich genutzt wird - auf Seiten der Lehrkräfte ebenso wie auf Seiten der Lernenden. Auf der Untersuchungsebene der Lehrkräfte stellt sich die Frage, inwieweit sie sich durch das flexibel nutzbare Mobiliar herausgefordert sehen, den Unterricht methodisch variantenreich zu gestalten, also z.B. mehr Gruppenarbeit, Arbeit nach dem Wochenplan oder Freiarbeit durchzuführen.

Diese Frage ist deshalb von besonderer Brisanz, weil die Schulforschung der zurückliegenden Jahre immer wieder auf die Monokultur des lehrerzentrierten, auf Instruktion hin angelegten Unterrichts hingewiesen hat. Wird der Unterricht also durch die Bereitstellung dieser neuen Lernumgebung für Arbeitsweisen geöffnet, die einem eigentätigen und selbstständigen Lernen der Schüler und Schülerinnen dienlich sind? Falls ja, was sind die Gelingensbedingungen eines professionellen Gebrauchs des "flexiblen Klassenzimmers"? Aber auch für die eigentlichen Nutzer, die Schülerinnen und Schüler, stellt sich die Frage, wie sie mit Stühlen, Tischen und flexiblen Tafeln im Alltag zurechtkommen? Zeigen sich etwa Unterschiede im Gebrauch des "flexiblen Klassenzimmers" hinsichtlich verschiedener Schularten und Jahrgangsstufen?

Wir haben unsere Untersuchung auf die verschiedenen Schularten des allgemein bildenden Schulwesens konzentriert und inzwischen sieben (von 12 zu besuchenden) Schulen in mehreren Bundesländern aufgesucht. Das Untersuchungsdesign stützt sich primär auf Methoden der qualitativen Sozialforschung mit der Absicht, ein klares Bild von den Prozessen im Unterricht sowie von den Motiven und Einstellungen der Beteiligten zu erhalten. Deshalb haben wir zwei Forschungsmethoden ins Zentrum gestellt, die teilnehmende Unterrichtsbeobachtung und leitfadengestützte Interviews. Die gut 20 Unterrichtsstunden sind mithilfe eines Beobachtungsleitfadens beobachtet worden. Wir wollten Auskunft darüber, wie oft und in welchen didaktischen Situationen die Tische umgestellt und die Tafeln gebraucht werden. Im Anschluss daran haben wir Interviews mit den Lernenden und ihren Lehrkräften, gemeinsam oder getrennt, geführt und per Tonaufzeichnung dokumentiert. Die Mitschnitte wurden transkribiert und nach inhaltsanalytischen Kriterien ausgewertet. Ergänzt wurden die Befunde durch zahlreiche Fotos aus den "flexiblen Klassenzimmern".

Einige Zwischenergebnisse lassen sich nennen. So arbeiten die Schüler unterschiedlicher Jahrgangsstufen zwar insgesamt recht gerne an den Tischen, merken aber auch immer wieder an, dass sie sie als zu klein empfinden. In einzelnen Schulen machen sie unterschiedlich Gebrauch von der Möglichkeit, die Tische je nach Bedarf zusammenzustellen, kooperatives Lernen zu gestalten sowie ihre Präsentationsfähigkeit gemeinsam an den Tafeln zu schulen. Seitens der Lehrkräfte zeigt sich, dass das Angebot des "flexiblen Klassenzimmers" dort aufgegriffen wird, wo bereits eine Bereitschaft für offene Unterrichtsformen vorhanden ist. Lehrkräfte hingegen, deren Stärken in einem konventionellen Unterrichten liegen, schöpfen die Möglichkeiten des neuen Mobiliars nicht aus. Dieser Lernsituation sind bisweilen aber auch durch die Raumgröße und die hohe Anzahl von Schülern Grenzen gezogen. Es lässt sich auch beobachten, dass in den meisten Klassenzimmern mit Dreieckstischen eine Sitzordnung in Vierer- bis Sechsergruppen zu einer Grundordnung geworden ist, die nur selten aufgelöst wird. Und es stellt sich die Frage, ob diese neue 'Normal'-Konstellation, in der Schüler 'Rücken an Rücken' zueinander sitzen, möglicherweise zu einer Veränderung des sozialen Gefüges der Schulklasse führt. Denn durch eine veränderte Sitzordnung kommt es immer auch zu einem veränderten Blickfeld jedes Einzelnen in diesem Raum und damit zu einer Veränderung der Bezugnahme aufeinander. Und auch die persönlichen Zonen jedes Einzelnen müssen immer wieder von neuem definiert und gegen das Eindringen anderer - auch der Lehrkräfte - geschützt werden. Inwieweit führen die neuen räumlichen Konstellationen zu neuen Formen der Überwachung und Disziplinierung? Wie reagieren Schüler darauf, dass ihnen ihre "Hinterbühne" (Goffman), die ihnen in den traditionellen Sitzformen durch eine gewisse Abschirmung nach vorne gewährt wurde, nun durch die neue Raumkonstellation entzogen wird? Und welches Erziehungsziel wird durch den Anspruch der immer wieder neuen Umorientierung verfolgt? Ist es das mündige, selbstbestimmte und in sich ruhende Subjekt oder verbirgt sich hinter der Flexibilität gar eine subtil dressierende Zurichtung des "flexiblen Menschen" (Richard Sennett)?


Prof. Dr. Wolfgang Schönig ist seit 2001 Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der KU. Zu seinen Schwerpunkten gehören Schulevaluation und Schulorganisation.

Dr. Astrid Baltruschat ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lehrstuhls.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2010, Seite 18-10
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2010