Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → PÄDAGOGIK

SCHULE/326: Wo die Glocke einmal läutet - Neue Mittelschule Bürs (welt der frau)


welt der frau 9/2011 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Wo die Glocke einmal läutet
Neue Mittelschule Bürs

Von Daniela Egger


Eine Schule im "Ländle" zeigt vor, wie Lernen zum Vergnügen wird. In Bürs ist Leistung zwar wichtig, aber sie kommt ohne Noten aus. Was gelernt wird, orientiert sich am einzelnen Kind und die Gemeinschaft wird zum Lernort, wenn Projekte umgesetzt werden. Klingt alles ganz logisch. Deswegen hat auch die UNESCO die Bürser lieb. Und die Kinder gehen gern zur Schule.


Schulbeginn. Die ersten 15 Minuten des Schultages gehören dem "Ankommen", meistens im Sitzkreis. Die Kinder berichten, was ihnen wichtig ist, lernen den Austausch, das Zuhören und gemeinsam Konflikte zu lösen. Soziale Kompetenzen werden an der UNESCO-Schule großgeschrieben. Dass sie tief im Alltag verankert sind, lässt sich hautnah miterleben. Jede Klassengemeinschaft hat ein "Revier" zur Verfügung - hier werden Arbeiten ausgestellt, und es sind Tische und Stühle für Teamarbeit oder auch als Rückzugsort vorhanden. Fragile Objekte stehen vor den Klassenräumen im Gang - unbewacht natürlich. Vandalismus kommt schlichtweg nicht vor. Verblüffend ist auch, mit welcher Ruhe und Selbstverständlichkeit sich die Kinder nach dem Sitzkreis an die tägliche Freiarbeit in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch machen - alle gehen an die Regale und holen sich ihre Arbeitsutensilien. Jedem Kind scheint klar zu sein, was es zu tun hat - obwohl gleich danach alle mit unterschiedlichen Aufgaben beschäftigt sind.


Vom Objekt zur Formel

Hannes L., Sport- und Mathematiklehrer, begutachtet eine geometrische Figur, die zwei Schüler während des Förderunterrichts gebastelt haben. Er sagt: "An unserer Schule kann ich alle pädagogischen Möglichkeiten ausschöpfen. Gerade in der Mathematik ist das operative Handeln sehr hilfreich. Wir konstruieren die Figuren, bevor wir sie berechnen. So lassen sie sich leichter begreifen - im wahrsten Sinn des Wortes. Danach kann man mit Formeln souverän umgehen, man hat einen Bezug zu einem realen Objekt geschaffen." Die beiden Schüler sind konzentriert über ihre Arbeit gebeugt, während Lehrer Lisch komplexe, weiterführende Fragen aufreißt. Als sie später im Freiunterricht nach ihrer liebsten Beschäftigung befragt werden, antworten beide ohne zu zögern: "Mathe! Und Sport."

Seit 18 Jahren orientiert sich der Unterricht an dieser Schule an einem individuellen Pensenbuch, damals wurde auch die Ziffernbeurteilung abgeschafft. Was als mutiger Versuch anfing, ist heute als durchdachtes multimodulares Lernsystem etabliert - von den SchülerInnen ebenso geschätzt wie vom Lehrpersonal.


Eigenverantwortung von Anfang an

Die Schulglocke läutet nach Schulbeginn nicht mehr. Die SchülerInnen machen dann Pause, wenn sie ihre Aufgabe erledigt haben. Immer wieder finden sich kleine Gruppen, die ihre Jause auspacken und plaudern. Während einer solchen Pause erklärt uns Aida (10), was sie schon alles gelernt hat - und weist auf eine weitere Besonderheit hin: "Bei uns kann man wählen, ob man eine schlechte Schularbeit noch mal versuchen möchte", erklärt sie uns. Schularbeiten gelten mehr als Orientierungshilfe denn als Lernergebnis. Es ist eine wichtige und prägende Erfahrung fürs Leben, dass man am Scheitern lernen darf, anstatt danach beurteilt zu werden.

Die LehrerInnen der NMS Bürs sind sich einig: Das Prinzip der modularen Unterrichtseinheiten, die Freiarbeit und die Arbeit mit den Pensenbüchern ergeben eine sinnvolle Methode, um die Kinder optimal zu fördern und sie zu mehr Leistung anzuspornen. Nicht das Klassenziel muss erreicht werden, sondern die eigene Leistung soll stetig wachsen. Im eigenen Tempo und mit einem hohen Anteil an Eigenverantwortung. Dazu gehört die fundierte Selbsteinschätzung der SchülerInnen, die auch für den Einstieg ins Berufsleben unabdingbar ist. Das pädagogische Modell der Schule ist eine Eigenkomposition, die nach dem "Raben-Prinzip" zusammengetragen wurde. Bernhard Neyer, seit sechs Jahren Leiter der Schule, erklärt amüsiert: "Wir fahren regelmäßig an Schulen, die wie wir mit ähnlich innovativen Modellen arbeiten. Was uns gefällt, übernehmen wir und adaptieren es. Wir sammeln wie die Raben." Sein Schreibtisch biegt sich fast unter den vielen Büchern und Dokumentationen, die innovative Lernmodelle beinhalten. Was hier gelebt wird, ist fundiertes Know-how aus aller Welt.


Drei Kompetenzsäulen gilt es zu beherrschen

Die Lernlandschaft ist im Umbruch, und die Vorreiter des Umbruchs sehen die Zeichen der Zeit und reagieren früher. So beklagt Direktor Neyer etwa die noch immer weitverbreitete Assoziation des Wortes "Lernen" mit dem reinen Wissenserwerb. Das entspricht aber längst nicht mehr der Realität - von den Einsteiger/innen ins Berufsleben, egal in welchem Bereich, wird heute ein hoher Standard an Fach-, Sozial- und Eigenkompetenz erwartet.

"Wir legen an unserer Schule sehr viel Wert auf Persönlichkeitsbildung, die Methoden reichen vom Klassenrat bis zu den sehr wichtigen und hoch bewerteten Projektarbeiten, bei denen ein Team gemeinsam ein gutes Ergebnis erzielt. Einmal im Jahr arbeitet die ganze Schule an einem Theaterstück. Gerade hier lassen sich viele persönliche Kompetenzen gleichzeitig erwerben, was natürlich in die Leistungsbeurteilung mit eifließt. Wer sich heute nicht präsentieren kann, ist nicht in der Lage, sein Wissen optimal weiterzugeben. Wir sehen immer mehr, dass auch Unternehmer mit Noten nicht viel anfangen können. Sie schätzen unser Portfolio, das ist eine detaillierte Rückmelde-Mappe, in der die erworbenen Fähigkeiten des Kindes genau beschrieben sind."


"Gib der Hoffnung (d)ein Gesicht"

So lautet der Titel der Ausstellung, die im Erdgeschoß zu besichtigen ist - Darstellungen von Ideen und Projekten, die weltweit für ein besseres Leben und Hoffnung sorgen. Die SchülerInnen der 4a haben ihre Inhalte sorgfältig zusammengetragen und liebevoll dargestellt. Schon alleine die Wände der sehr alten Schule sprechen Bände - sie sind bunt, fröhlich und bieten viel Ausstellungsfläche für die kreativen Produkte der SchülerInnen. Die Modernisierung der Schule ist bereits geplant und beginnt im nächsten Schuljahr.

Während der Projektarbeiten löst sich der übliche Stundenplan auf und alle Beteiligten arbeiten zusammen. Je nach Thema werden Eltern und Bekannte, Betriebe, andere Schulen, die Gemeinde und Museen mit einbezogen. "Das Präsentieren mag ich nicht so besonders", sagt Manuel (13) und rümpft dabei seine Nase. Seine Kollegen nicken zustimmend - aber das gemeinsame Recherchieren und Zusammentragen macht großen Spaß, auch darin sind sie sich einig.


Weltweit Vernetzt

"Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden."

(Präambel der UNESCO-Verfassung, 1945)

Irgendwann kam Besuch aus einer UNESCO-Schule (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) und die Bürser erfuhren im Gespräch, dass sie eigentlich längst alle Kriterien erfüllen, die diesen vorgegeben sind. So wurde die Bürser Schule schon 1996 in das internationale Netzwerk aufgenommen, heute sind es österreichweit 69 Schulen. 1953 in Paris gegründet, umfasst das Netzwerk mittlerweile weltweit Tausende Bildungseinrichtungen, vom Kindergarten bis zur LehrerInnenbildung. Das erklärte Ziel ist es, durch internationale Zusammenarbeit Frieden und Sicherheit sowie die Einhaltung der Menschenrechte weltweit zu fördern. Das ist auch der Geist, der in den Räumen der Bürser Schule zu finden ist, mit oder ohne Zertifikat - denn hier kümmern sich die Kinder selbst in hohem Maße um die Einhaltung ihrer gemeinsam vereinbarten Regeln.


Lieber keine Ferien

Daniel (12) sitzt in seiner Lieblingsstunde Mathematik und arbeitet an seiner Aufgabe. Er findet das Lernsystem gut: "Man kann in der normalen Stunde einfach nicht alles durchnehmen, weil es auch schwächere SchülerInnen gibt. Daher machen wir im Förderunterricht eine zusätzliche Stunde vor der Mittagspause. Damit erreichen wir dann die bestmögliche Beurteilung."

Wer sich also beispielsweise in Deutsch mit dem Basiswissen zufriedengibt, erarbeitet selbstständig, mit Unterstützung der LehrerInnen, das erste Modul. Wer mehr Interesse aufbringt, geht das zweite Modul an, im Rahmen derselben Unterrichtszeit. Und wer sich für Deutsch besonders talentiert zeigt, besucht die Förderstunde, die dann zusätzlich auf dem Stundenplan steht. Die Neuankömmlinge aus den Volksschulen erhalten in den ersten Monaten nach Schulbeginn ein gezieltes Methodentraining, damit sie sich an den Umgang mit den neuen Materialien gewöhnen. Die gezielte Förderung lernschwacher Kinder findet integriert im Unterricht statt, da meist zwei Lehrpersonen anwesend sind.

Doris H., Mutter einer Zweitklässlerin und Elternvertreterin, schaut kurz in der Direktion vorbei. Die Schule ist ein Haus mit offenen Türen, das Büro des Direktors ist da keine Ausnahme. Sie sagt auf die Frage nach den ersten Erfahrungen: "Die Stimmung an der Schule ist einfach gut. Meine Tochter sagte mir schon im Juni, dass sie lieber keine Ferien möchte. Das wäre mir als Schülerin damals nicht eingefallen. Ich fürchte mich schon vor den nächsten Ferien..."

Außerdem betont sie die Bedeutung der Ganztagsform für berufstätige Eltern - sie stellt eine große Entlastung dar. Wenn die Kinder heimkommen, ist alles erledigt, Hausaufgaben, Lernen für die Schularbeit, das alles findet in der Schule statt.

Bernhard Neyer ergänzt gleich: "Wir haben hier auch Kinder, die von 'Tischlein deck dich' leben, einer Initiative, die Lebensmittel, die im Handel aussortiert werden, gratis an Bedürftige abgibt. In der Ganztagesbetreuung erhalten alle ein warmes Essen, zumindest einmal am Tag, Gemeinschaft am Mittagstisch und Bezugspersonen, die da sind. Das ist nicht in allen Familien der Fall, dessen muss man sich schon bewusst sein. Ich selbst gehe auch regelmäßig mit den SchülerInnen essen."


Lernen mit Freude

Die Mittagspause naht, man spürt es an der steigenden Unruhe, immer mehr Kinder verlassen die Klassenzimmer, die ersten sammeln sich im Erdgeschoß. Dort werden sie vom zuständigen Lehrer abgeholt und gemeinsam ins nahe Sozialzentrum zum Essen begleitet. Die Förderkinder essen erst in einer Stunde, für sie steht jetzt noch der richtig schwere Stoff auf dem Programm. Einige gehen zum Essen nach Hause. Auch wenn viele und hungrige Kinder im Gang warten müssen, bis es so weit ist - es gibt kein Gerangel und keine Beschimpfungen. Die Stimmung unter den Kindern ist auch ohne Aufsicht spürbar entspannt - an den meisten Schulen eine Seltenheit.

Heute ist Direktor Neyer an der Reihe, aber er muss noch etwas erledigen - das Gespräch mit uns. Die Kinder beobachten uns interessiert. "Ich finde die Ganztagesform, wie sie derzeit in Österreich entwickelt wird, ganz gut", sagt er abschließend. "Wir verlieren ein großes Potenzial von fähigen und talentierten Kindern im Land, weil unser System den wachsenden sozialen Anforderungen nicht mehr gerecht wird. Dabei sind die nötigen Maßnahmen weit billiger, als der Verlust an Ressourcen uns alle kostet. Oft genügt wenig, eine gute Struktur, Förderung an der richtigen Stelle, die Motivation entfachen, erreichbare Ziele setzen ... Beziehung halten." Und was ist seine Vision für die Schulen in Österreich?

Bernhard Neyer muss nicht lange überlegen: "Für mich ist es ein wesentliches Ziel, den jahrgangsübergreifenden Unterricht zu forcieren, die Ziffernnoten zu ersetzen und grundsätzlich die Haltung des 'Übertriff die anderen!' zu verändern ins 'Übertriff dich selbst!'. Zum Glück haben wir in Österreich Methodenfreiheit. Gesetzlich wären Schulen wie unsere hier in ganz Österreich jederzeit möglich. Man muss es nur angehen."

Dafür tut sich gerade in Vorarlberg relativ viel, eine Plattform mit dem Namen PRIM hat die zahlreichen BürgerInneninitiativen des Landes unter einem Dach vereint. Ihr erklärtes Ziel: Schulen wie die NMS Bürs im ganzen Land zu etablieren, wenn möglich im öffentlichen Schulsystem - zur Not aber auch durch private Gründungen. Es gibt zahlreiche Eltern, die sich eine Schule auf dem neuen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse wünschen und sich dafür starkmachen. Ein Blick in den Alltag der UNESCO-Schule Bürs macht eines deutlich: Es gibt sie, die Schulen, an denen das Lernen Freude macht. Es gibt sie nur leider noch zu selten.


KONTAKT
Plattform für reformpädagogische Initiativen & Mehr
Landeselternbüro Tel. +43 5572 20 67 67
office@levv.at
http://primievv.at


*


Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
September 2011, Seite 22-27
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
Redaktion: Welt der Frau Verlags GmbH
4020 Linz, Lustenauerstraße 21, Österreich
Telefon: 0043-(0)732/77 00 01-0
Telefax: 0043-(0)732/77 00 01-24
info@welt-der-frau.at
www.welt-der-frau.at

Die "welt der frau" erscheint monatlich.
Jahresabonnement: 36,- Euro (inkl. Mwst.)
Auslandsabonnement: 41,- Euro
Kurzabo für NeueinsteigerInnen: 6 Ausgaben 15,- Euro
Einzelpreis: 3,- Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2011