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SCHULE/351: Geschichte denken, nicht pauken (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2012

Geschichte denken, nicht pauken

Von Waltraud Schreiber



Das Fach Geschichte kann wichtige Fragen zur Gegenwart und Zukunft beantworten. Dazu müssen junge Menschen lernen, Geschichte zu verstehen. Inwieweit das gelingt, soll in einem Testverfahren ermittelt werden, das derzeit in einem Verbundprojekt entsteht.


Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung arbeitet die Professur für Theorie und Didaktik der Geschichte seit Anfang April unter dem Projektnamen HITCH (Historical Thinking - Competencies in History) an einem Testverfahren, mit dem die Kompetenz von Schülerinnen und Schülern, historisch zu denken, erfasst werden kann. Dabei stützen sich die Wissenschaftler auf ein theoretisches Modell (FUER - Förderung und Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins; vgl. www.fuer-geschichtsbewusstsein.de), das unter Federführung von Waltraud Schreiber, gemeinsam mit Geschichtsdidaktikern und Geschichtslehrern aus sieben europäischen Ländern entwickelt worden ist. Im Zentrum steht dabei die Vorstellung, dass Geschichte nicht als Auswendiglernfach zu verstehen ist, sondern als eine Disziplin, die Schülerinnen und Schülern eine identitätsbildende Orientierung geben kann. Nur wer versteht, welche Bedeutung historische Fragen auch für die Gegenwart und die Zukunft haben, kann sich kritisch an einem gesellschaftlichen Diskurs beteiligen. Das setzt Kompetenzen des Historischen Denkens voraus, die ein moderner Geschichtsunterricht fördern muss.

Ob dieses anspruchsvolle Ziel im Unterricht auch erreicht wird, muss wissenschaftlich fundiert überprüft werden. Dies soll das Testinstrument leisten. Bei der Entwicklung der Aufgaben arbeiten die Experten der Abteilung Empirische Sozialforschung an der Universität Tübingen (Prof. Dr. Ulrich Trautwein - Projektleitung) und des Leibniz-Instituts für Wissensmedien in Tübingen (Prof. Dr. Stephan Schwan) sowie der Geschichtsdidaktik aus Eichstätt und Hamburg (Prof. Dr. Andreas Körber und Prof. Dr. Bodo von Borries) zusammen.

Eine großflächige Untersuchung von Schülerkompetenzen, wie man sie etwa von IGLU und der PISA-Studie kennt, hat es im Fach Geschichte bisher noch nicht gegeben. Ein Grund dafür ist, dass es an geeigneten Testverfahren gefehlt hat. Meist konzentrieren sich die Erhebungen deshalb auf die naturwissenschaftliche Fächer, Deutsch, Mathematik und manchmal Englisch. Angesichts der zunehmend wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe, die auf die historische Orientierung in einer globalen, immer komplexer werdenden Welt zukommt, ist die Bedeutung des historischen Lernens aber gar nicht zu überschätzen. Dazu reicht es nicht aus, Jahreszahlen auswendig zu lernen oder die deutschen Bundeskanzler in der richtigen Reihenfolge aufsagen zu können. Es geht darum, historisches Wissen zu abstrahieren, Zusammenhänge zu verstehen, Schlüsse zu ziehen, Muster zu erkennen. Das allerdings will gelernt sein.

Den theoretischen Hintergrund für das Testverfahren bildet das so genannte Kompetenz-Strukturmodell der FUER-Gruppe. Im Zentrum steht die Annahme, dass sich jeder Mensch früher oder später Fragen stellt, die mit Vergangenheit und/oder Geschichte zu tun haben, etwa nach dem Besuch eines historischen Films, einem Gespräch mit einem älteren Menschen oder angesichts eines historischen Bauwerks. Aufgrund des Wissens, das er sich unter anderem in der Schule angeeignet hat, konstruiert er ein Bild der Vergangenheit. Dabei kann er auf neue Fragen stoßen, die eine spezifische Herangehensweise erfordern.

Hier setzt das FUER-Modell an. Um Geschichte sinnkonstruierend zu verstehen sind demnach vier Kompetenzbereiche nötig: Die historische Fragekompetenz meint die Fähigkeit, aber auch die Bereitschaft, geschichtliche Themen zu erfassen, eine Neugier dafür zu entwickeln. Dazu gehört auch, Fragen, die andere an die Vergangenheit haben und deren Darstellungen darüber zugrunde legen, zu verstehen und in einen Zusammenhang mit der eigenen Frage zu stellen.

Um Antworten auf die Fragen zu finden, ist historische Methodenkompetenz nötig, wie es im Modell heißt. Man muss verstehen, wie etwa Quellen zu lesen sind und wie daraus historische Narrationen geschaffen werden (Re-Konstruktionskompetenz). Dazu kommt: Das Bild, das wir von der Vergangenheit haben, ist stets ein interpretiertes. Man muss deshalb auch verstehen, dass ein Museum oder ein Geschichtsbuch sich immer in einer bestimmten Perspektive zu Geschichte verhalten; diese zu analysieren macht die zweite Dimension der Methodenkompetenz aus (De-Konstruktionskompetenz).

Die Erkenntnisse, die sich aus der Beschäftigung mit Geschichte ergeben, auf Fragen der Gegenwart und Zukunft zu beziehen, ist die historische Orientierungskompetenz. Dadurch entwickelt sich ein allgemeines Geschichtsbewusstsein, das es Schülerinnen und Schülern erleichtert, sich selbst und alle "anderen" als Teil einer historisch gewordenen Welt zu verstehen.

Wer sich mit Geschichte auseinandersetzen will, braucht auch ein theoretisch-kategoriales Rüstzeug. Das ist mit der historischen Sachkompetenz gemeint. Dazu gehören das Verfügen-können über wichtige (Fach-)Begriffe und die Fähigkeit, historische Strukturen und große Zusammenhänge zu erkennen.

Es fällt auf, dass das bloße historische Wissen um Jahreszahlen, Thronfolgeregelungen oder Definitionen im FUER-Modell nicht zu den entscheidenden Kompetenzen gezählt wird, sondern erst die Fähigkeit, Wissen zu verorten und zu strukturieren. "Geschichte denken und nicht pauken", heißt dementsprechend das Credo an der Professur für Theorie und Didaktik der Geschichte an der KU. Der Anspruch, der in diesem Zusammenhang an Schulen, Lehrerinnen und Lehrer formuliert wird, ist denkbar hoch. Schwierig ist außerdem, vor diesem Hintergrund den Erfolg von Geschichtsunterricht zu messen. Nur Faktenwissen abzufragen wäre demgegenüber leichter. Im HITCH-Projekt hat man sich das Ziel gesetzt, Verfahren zu finden, die Kompetenzen aus dem FUER-Modell standardisiert zu testen. Wichtig ist dabei, in den Auswertungen eine Niveauunterscheidung, also eine Graduierung, vornehmen zu können. Um die historischen Kompetenzen verlässlich zu testen, wird es unerlässlich sein, auch offene Frageformen in den Test einzubauen, auch wenn eine Auswertung dadurch komplizierter wird.

Wie bei PISA wird in der Sekundarstufe I getestet, dabei wird 15-jährigen Schülerinnen und Schülern eine Reihe von Aufgaben gestellt. Um sicher zu gehen, dass der Fragebogen auch tatsächliche "funktioniert", wird schon jetzt eng mit Schulen zusammengearbeitet. Immer wieder wird das Frageinstrument Schülerinnen und Schülern vorgelegt, um dafür zu sorgen, dass die Fragestellung verständlich und die Aufgaben lösbar sind. Schritt für Schritt wird der Test so verbessert. Bei einem ersten großen Versuch sollen im kommenden Schuljahr 1000 Neuntklässler den Test vorgelegt bekommen. Wo nötig, wird das Instrument dann verbessert, um es schließlich in 40 Klassen schulartübergreifend 2013/14 zum Einsatz zu bringen. So weit ist es allerdings noch nicht. Derzeit arbeiten die Experten der beteiligten Einrichtungen und Universitäten unter anderem an der Fragestellung des Tests. Im Juni kamen sie in Eichstätt mit Experten unterschiedlicher Disziplinen, die mit dem Testen von Kompetenzen befasst sind, zusammen, um das Verfahren weiter voranzutreiben. Unter anderem berichtete Monika Waldis von ersten Erfahrungen, die man in der Schweiz beim Test von historischen Kompetenzen gemacht hat. Prof. Denis Shemilt informierte über Großbritannien. Im August fand ein weiteres Treffen in Eichstätt statt, bei dem es um die Ausformulierung erster Fragen ging; im September und Oktober stehen Arbeitstreffen in Tübingen und Hamburg an.

Das langfristige Ziel von HITCH ist es, einen Test zu entwickeln, der in internationalen Large-scale-Erhebungen die historische Kompetenz von Schülerinnen und Schülern testet. Läuft alles nach Plan, brüten 2018 Jugendliche in ganz Europa über den Aufgaben, die derzeit unter anderem in Eichstätt erarbeitet werden.


Prof. Dr. Waltraud Schreiber ist seit 1999 Professorin für Theorie und Didaktik der Geschichte an der KU. Der hier erschienene Artikel entstand unter Mitarbeit von Stefanie Serwuschok und Johannes Hauser.

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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Ausgabe 2/2012, Seite 26-27
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität, Prof. Dr. Richard Schenk
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
Telefon: 08421 / 93-1594 oder -1248, Fax: 08421 / 93-2594
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Internet: www.ku.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2012