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SCHULE/445: Mädchen müssen mit schlechteren Physik-Noten rechnen (idw)


Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich) - 11.01.2016

Mädchen müssen mit schlechteren Physik-Noten rechnen


Physiksekundarlehrer und Physiksekundarlehrerinnen mit wenig Berufserfahrung benoten Mädchen bei gleicher Leistung deutlich schlechter als Knaben. Diesen Schluss zieht eine ETH-Lernforscherin aus einer Studie, die sie in der Schweiz, in Deutschland und Österreich durchführte.


Stellen Sie sich vor, Sie sind eine Schülerin und beantworten in einer Physikprüfung eine Frage genau gleich wie ein männlicher Klassenkamerad, erhalten dafür aber eine deutlich schlechtere Note. Genau dies kommt regelmässig vor, wie sich aus einer Untersuchung von Sarah Hofer, Wissenschaftlerin in der Gruppe von ETH-Professorin Elsbeth Stern, schliessen lässt.

Hofer bat Physiklehrerinnen und Physiklehrer der Sekundarschule, in einem Online-Test eine Prüfungsantwort zu benoten. Sie legte den 780 Teilnehmenden aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich dieselbe Frage aus dem Bereich der klassischen Mechanik und die genau gleich formulierte - nur zum Teil korrekte - fiktive Schülerantwort vor. Die ETH-Wissenschaftlerin variierte im Versuch jedoch eine kurze einleitende schriftliche Erklärung: Die eine Hälfte der Versuchsteilnehmenden ging daher davon aus, dass sie die Antwort «einer Schülerin» zu benoten hätten, die andere Hälfte die «eines Schülers». Über die Absicht ihrer Studie liess Hofer die Teilnehmenden im Dunkeln. Sie gab vor, es gehe um einen Quervergleich von zwei verschieden Methoden zum Korrigieren von Prüfungen.

Die Teilnehmenden benoteten die Physikaufgabe unterschiedlich. In ihrer Analyse verglich Hofer die Bandbreiten der Benotung der angeblichen Schülerinnen mit jenen der angeblichen Schülern. Die gute Nachricht vorweg: Bei Lehrerinnen und Lehrern, die seit mindestens zehn Jahren unterrichteten, hat das Geschlecht der Schüler keinen Einfluss auf die Benotung. Die schlechte Nachricht: Lehrerinnen und Lehrern in der Schweiz und Österreich, die seit weniger als zehn Jahren unterrichten, benoten Mädchen signifikant schlechter als Knaben. Als Beispiel: Bei Lehrerinnen und Lehrern mit fünf und weniger Jahren Berufserfahrung macht die Benachteiligung von Mädchen im Schnitt 0,7 Noten (Schweiz) beziehungsweise 0,9 Noten (Österreich) aus.


Wann Stereotype beeinflussen

«Lehrer mit wenig Berufserfahrung lassen sich bei der Benotung womöglich mehr vom Vorurteil leiten, Mädchen seien in Physik schlechter als Knaben», sagt Hofer. Bereits frühere Untersuchungen lieferten Hinweise darauf, dass Mädchen in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern für die gleiche Benotung mehr leisten müssen. Meist wurde dabei jedoch das Fach Mathematik untersucht. Für das Fach Physik und den deutschsprachigen Raum ist diese Studie die umfassendste und aktuellste.

Es sei bekannt, dass Vorurteile oder Stereotypen dann einen Einfluss auf eine Bewertung hätten, wenn dem Bewertenden nicht genügend Informationen zur Verfügung stünden oder er stark beansprucht oder gar überfordert ist, sagt Hofer. «Lehrerinnen und Lehrer mit wenig Erfahrung lassen sich offenbar stärker von Kontextinformationen wie dem Geschlecht beeinflussen.»


Uneinheitliches Bild in Deutschland

Eigenartig sind die Ergebnisse der neuen Studie für deutsche Sekundarlehrerinnen und -lehrer mit weniger als zehn Jahren Berufserfahrung: Die Lehrer benoten Schülerinnen und Schüler gleich, die Lehrerinnen hingegen verhalten sich wie ihre Schweizer und österreichischen Kolleginnen und Kollegen und benoten Schülerinnen schlechter. Bei deutschen Lehrerinnen mit fünf und weniger Jahren Erfahrung beträgt der Unterschied im Schnitt 0,9 Noten. Erklären können Hofer und Elsbeth Stern, Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung, diesen speziellen Umstand anhand der erhobenen Daten nicht. Dass die deutschen (männlichen) Lehrer wegen Förderprogrammen für Mädchen in den MINT-Fächern (Mathematik, Naturwissenschaften, Informatik, Technik) speziell sensibilisiert seien als ihre Kollegen in den anderen untersuchten Ländern, könnte eine mögliche Erklärung sein. Allerdings gibt Hofer zu bedenken, dass es in allen drei Ländern solche Programme gebe.

Im Online-Test variierte die Wissenschaftlerin in der Einleitung neben dem Geschlecht auch die Spezialisierung der der fiktiven Schüler und Schülerinnen in Sprachen oder Naturwissenschaften. Die Spezialisierung hatte keinen Einfluss auf die Benotung.


Mädchen werden nicht für Anstrengung belohnt

Die schlechtere Benotung von Mädchen, die in dieser Studie aufgezeigt wurde, ist für ETH-Professorin Stern Teil eines grundsätzlichen Problems: «Mädchen und Frauen können sich nicht darauf verlassen, dass sie für ihre Anstrengung belohnt werden.» Mal würden sie zu gut benotet, mal zu schlecht. Ihre Noten wiederspiegelten weniger gut als bei Knaben und Männern die tatsächliche Leistung. Das mache für sie die Orientierung schwierig. «Wenn man schon als Mädchen in der Schule das Gefühl kriegt, dass man in den Naturwissenschaften nicht gerecht benotet wird, dann verliert man eher das Interesse daran», so Stern. Naturwissenschaftlich begabte Frauen würden sich leider zu oft anderen Fächern zuwenden, in denen sie stärker gefördert würden. Bei der gegenwärtig vorangetriebenen MINT-Förderung gelte es auch dies zu berücksichtigen.

«Noten sind das Feedback, das Schülerinnen und Schüler für Ihre Leistung bekommen, und sie wirken sich stark auf ihr Selbstverständnis, ihre Motivation und ihre Anstrengungsbereitschaft aus», sagt Hofer. «Lehrerinnen und Lehrer sollen Noten daher sehr ernst nehmen», so Stern. In der Lehrerausbildung solle man der Notengebung deshalb eine noch grössere Beachtung schenken. In der Gymnasiallehrerausbildung an der ETH Zürich werde man das tun.

Ganz grundsätzlich sollen Stereotypen kritisch hinterfragt werden, gerade aber auch in der Schule, sagt Hofer. Bei der Korrektur von Prüfungsfragen könne eine strukturiertere Herangehensweise mit klaren Kriterien Lehrern helfen, objektiv zu bewerten und Stereotypen auszublenden. «Wichtig wäre es, dass Lehrerinnen und Lehrer bei jeder Prüfung ein Bewertungsschema verwendeten, das festlegt, für welche Teilantworten wie viele Punkte vergeben werden und das klar definiert, was Flüchtigkeitsfehler und Folgefehler sind.» Hilfreich sei auch, wenn Lehrer beim Korrigieren den Schülernamen abdeckten.

Literaturhinweis
Hofer SI: Studying Gender Bias in Physics Grading: The role of teaching experience and country.
International Journal of Science Education, 2015, 37: 2879-2905,
doi: 10.1080/09500693.2015.1114190
http://dx.doi.org/10.1080/09500693.2015.1114190


Weitere Informationen unter:
https://www.ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2016/01/schlechtere-physik-noten-fuer-maedchen.html

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution104

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich),
Fabio Bergamin, 11.01.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2016

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