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BERICHT/072: Viele Wege führen zur Intelligenz (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 3/2009
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Viele Wege führen zur Intelligenz

Von Paul Patton


Der Mensch stammt weder vom Affen noch von den Fischen ab, sondern sie alle haben sich aus gemeinsamen Vorfahren entwickelt. Ebenso sind intelligente Gehirne auf verschiedenen Wegen unabhängig voneinander entstanden. Die verblüffenden Fähigkeiten von Tintenfischen, Krähen und Schildkröten liefern den Beweis.


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Auf einen Blick

Parallele Gehirnentwicklung

1. Die Evolution ist kein geradliniger Prozess, der über Fische und Primaten zum Menschen führte.

2. Stattdessen sind komplexe Gehirne und höhere kognitive Fähigkeiten im Lauf der Evolutionsgeschichte in voneinander unabhängigen Abstammungslinien entstanden.

3. So genannte niedere Tiere wie Fische, Reptilien und Vögel zeigen eine erstaunliche Vielfalt an kognitiven Fähigkeiten.


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»Der hat sicher wieder bloß mit seinem Reptiliengehirn gedacht.« Solche Formulierungen sind immer wieder zu hören - beispielsweise über bestimmte Politiker. Sie entspringen der Vorstellung, wir hätten einen ursprünglichen Teil unseres Gehirns von Reptilienvorfahren geerbt, und dieser sei vor allem für Aggression und »niedere Instinkte« verantwortlich.

Darin spiegelt sich ein weit verbreiteter Irrglaube wider: Die Evolution des Gehirns war kein linearer Prozess, der in den beeindruckenden kognitiven Leistungen der Menschen gipfelte. Auch repräsentieren die Hirne anderer heutiger Arten nicht lediglich frühere Entwicklungsstadien. Während der letzten 30 Jahre haben vergleichende Neuroanatomen herausgefunden, dass komplexe Nervensysteme - und damit auch Intelligenz - mehrfach und unabhängig voneinander in getrennten Abstammungslinien entstanden sind.

Mittlerweile konnten Forscher auch bei Nichtsäugern viele höhere geistige Fähigkeiten nachweisen, etwa Lernen durch Nachahmen, Werkzeuggebrauch und sogar »mentales Zeitreisen « - also die Erinnerung an vergangene Episoden oder das Voraussehen künftiger Ereignisse. Mittelalterliche Naturkundler hätten das noch als völlig absurd abgelehnt. Sie platzierten die Lebewesen entlang einer linearen Stufenleiter, der scala naturae, und ordneten Würmer und Nacktschnecken als niedere, die Menschen hingegen als die höchsten irdischen Wesen ein. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam mit Charles Darwins Buch »Die Entstehung der Arten« die Idee auf, dass die modernen Spezies durch Evolution aus früheren Formen entstanden sind. Darwin verglich dabei die Beziehungen zwischen den Lebewesen mit den auseinanderlaufenden Ästen eines Familienstammbaums.

Zwar setzte sich die Evolutionslehre ziemlich rasch durch, doch die meisten Forscher übertrugen Darwins Erkenntnis auf die alte lineare Skala. Demnach repräsentierten die heute lebenden Insekten, Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel, Säuger und Menschen evolutionäre Schritte auf dem Weg zu einem höchst komplexen Gehirn, bei dem nach und nach immer neue Komponenten hinzukamen. Diese Vorstellung blieb über Jahrzehnte unangefochten.

Sie taucht bis heute im überholten Modell des »dreieinigen Gehirns« auf, das der Neurowissenschaftler und Psychiater Paul D. MacLean in den 1960er Jahren prägte. Dem zufolge bestehe unser Gehirn aus drei Teilen: einem alten Reptiliengehirn für ursprüngliche Instinkte, einem etwas jüngeren Säugetiergehirn - dem limbischen System -, das Emotionen vermittle, sowie der Großhirnrinde, dem jüngsten und am weitesten entwickelten Abschnitt, der für unsere höheren geistigen Funktionen zuständig sei.

Inzwischen ist klar, dass ein lineares Modell die Entstehung komplexer Gehirne und der Intelligenz nicht ausreichend erklären kann. Die ältesten bekannten Fossilien von Tieren sind zirka 700 Millionen Jahre alt. Bereits vor rund 500 Millionen Jahren hatte sich das Tierreich in etwa 35 so genannte Phyla mit jeweils charakteristischem Bauplan verzweigt. Jede Abstammungslinie entwickelte sich als ein separater Ast des Evolutionsbaums unabhängig von den anderen weiter. Entsprechend entstanden in mehreren Phyla komplexe Gehirne, vor allem bei den Mollusken und den Wirbeltieren. Bei Letzteren bildeten sie sich gleich mehrfach entlang zahlreicher Äste heraus.


Tentakeln mit eigenem Minihirn

Das am höchsten entwickelte Nervensystem aller wirbellosen Tiere besitzen Cephalopoden (Kopffüßler), und ihre kognitiven Fähigkeiten spiegeln dies sehr gut wider. Das Gehirn eines Tintenfischs enthält schätzungsweise 170 Millionen Neurone - also etwa so viele, wie auch in manchen Wirbeltiergehirnen zu finden sind. Im Verhältnis zum Körper ist das Kopffüßlerhirn ebenso groß wie das einiger Vogelarten, allerdings ist es ganz anders aufgebaut. Zudem enthalten die hochempfindlichen und flexiblen Tentakel des Oktopus zusammengenommen genauso viele Neurone wie sein Gehirn - was beispielsweise dazu führt, dass abgetrennte Tentakel selbsttätig koordinierte Bewegungen ausführen können.

Größe und Neuronenzahl hin oder her - was zählt, ist letztlich die Leistungsfähigkeit eines Gehirns: die Intelligenz. Und hier haben Kopffüßler einiges zu bieten. So können Tintenfische laut Verhaltensstudien Objekte nach ihrer Größe und Form unterscheiden und klassifizieren, durch Labyrinthe navigieren und Probleme lösen wie etwa jenes, Futter aus einem verschlossenen Container zu holen.

1992 entdeckten die italienischen Neurowissenschaftler Graziano Fiorito von der Zoologischen Station Anton Dohrn in Neapel und Pietro Scotto, damals an der Università degli Studi Mediterranea di Reggio Calabria, dass ein Tintenfisch allein durch Beobachten eines anderen lernen kann, eine Aufgabe zu bewältigen. Die Forscher trainierten Oktopoden, zwischen einem roten und einem weißen Ball zu wählen. Eine richtige Entscheidung belohnten sie mit einem Stück Fisch, eine falsche wurde mit einem leichten Stromschlag bestraft. Dann ließen sie Tintenfische, die sich hinter einer Glasbarriere befanden, trainierten Tieren bei der Aufgabe zuschauen. Als die Zaungäste danach selbst zwischen den beiden Bällen wählen sollten, entschieden sie sich korrekt. Das kann nur auf Beobachtungslernen zurückzuführen sein - eine eindrucksvolle intellektuelle Leistung.

Auch bei Fischen haben Forscher in den letzten Jahren kognitive Fähigkeiten entdeckt, die man einst nur Säugetieren zuschrieb. In einer 1994 begonnenen Forschungsreihe nahm ein Team von Wissenschaftlern am Labor für Psychobiologie der Universität im spanischen Sevilla den Orientierungssinn von Goldfischen unter die Lupe. Dazu ließen sie die Tiere durch Wasserlabyrinthe schwimmen, wie sie häufig für die Erforschung des Lernvermögens von Ratten verwendet werden. Wie die Nager zeigten die Goldfische viele elementare räumliche Leistungen, einschließlich jener, einen bestimmten Ort anhand visueller Landmarken zu finden - selbst dann, wenn zuvor das Labyrinth neu ausgerichtet worden war.

Im Jahr 2005 führten Vera Schluessel und Horst Bleckmann von der Universität Bonn solche Orientierungstests auch an Süßwasser-Stechrochen durch - also an Knorpelfischen, die eine andere Abstammungslinie als die Knochenfische darstellen. Resultat: Deren räumliche Fähigkeiten entsprachen jenen von Goldfischen. Für diese Leistungen ist das Vorderhirn der Tiere verantwortlich, das bei den meisten Wirbeltieren auf einem direkten Weg Geruchsinformationen erhält. Gemäß der Vorstellung einer linearen Evolutionsskala hielten vergleichende Neuroanatomen diesen Hirnbereich bei Fischen und Amphibien früher lediglich für ein Geruchszentrum. Inzwischen ist jedoch bekannt, dass die Vorderhirne dieser Tiere ebenso wie jene von Säugern die volle Bandbreite von Sinnesinformationen erhalten und verarbeiten.


Der Goldfisch wird rehabilitiert

2006 grenzte das Forscherteam in Sevilla die neuronale Grundlage der räumlichen Fähigkeiten von Goldfischen weiter ein, indem sie bei ihnen systematisch verschiedene Abschnitte des Vorderhirns zerstörten. Als entscheidend für das Orientierungsvermögen der Tiere erwies sich der Mantel des Vorderhirns, auch Pallium genannt, der anatomisch dem Hippokampus der Säugetiere zu entsprechen scheint.

Der Hippokampus gehört beim Menschen zum so genannten limbischen System und ist an der Verarbeitung von Emotionen, aber auch an der Gedächtnisbildung und der räumlichen Orientierung beteiligt. MacLeans veraltetes Modell des »dreieinigen Gehirns« ging noch davon aus, dass diese Struktur erstmals bei Säugetieren auftauchte.

Zusammengenommen weisen diese neueren Studien jedoch darauf hin, dass der gemeinsame Vorfahr von Knorpelfischen, Knochenfischen und an Land lebenden Wirbeltieren bereits ein dem Hippokampus ähnliches Areal und die damit verbundenen kognitiven Fähigkeiten besaß. Zudem haben Forscher inzwischen herausgefunden, dass auch andere Teile des limbischen Systems bei Nichtsäugern vorkommen.

Als vor zirka 365 Millionen Jahren eine Abstammungslinie der Knochenfische das Meer verließ, führte dies zur Entstehung der vierfüßigen Landwirbeltiere, die sich bald in zwei Hauptgruppen verzweigten: Die Synapsiden erschienen vor 320 Millionen Jahren und entwickelten sich zu Säugetieren, die Sauropsiden traten 10 Millionen Jahre später auf - die Vorfahren der Vögel und Reptilien.

Über 300 Millionen Jahre getrennter Hirnevolution führten bei einigen Vertretern der beiden Gruppen zu recht hoch entwickelten kognitiven Fähigkeiten. Doch diese beruhen auf sehr unterschiedlichen Bauplänen: Das Nervengewebe im Vorderhirn aller Wirbeltiere umgibt eine zentrale flüssigkeitsgefüllte Kammer, den Ventrikel. Bei Reptilien und Vögeln wölbt es sich jedoch in den Ventrikel hinein und füllt ihn oft sogar weit gehend aus.

Da Neuroanatomen diesen Hirnabschnitt einst fälschlicherweise als Teil der so genannten Basalganglien betrachteten, glaubten sie, bei Reptilien und Vögeln sei das Pallium verkümmert. Das ist jener Hirnteil, der bei Säugern zur Großhirnrinde (Neokortex) wurde, mit all ihren höheren Funktionen wie Lernen und Gedächtnis, logischem Denken, Feinmotorik, Wahrnehmung und Sprache. Zu dieser Auffassung passten damalige Verhaltensstudien, die den Tieren eine nur geringe Lernfähigkeit attestierten.

In den 1960er Jahren begannen jedoch Forscher wie Harvey J. Karten, der jetzt an der University of California in San Diego arbeitet, eine Serie vergleichender neuroanatomischer Untersuchungen. Sie brachte an den Tag, dass die fragliche Anhäufung neuronalen Gewebes in den Vorderhirnen von Sauropsiden kein Teil der Basalganglien ist, sondern zum Pallium gehört - also dem Pendant unseres Neokortex. Heute ist die Hirnregion als dorsaler ventrikulärer Kamm (englisch: dorsal ventricular ridge, Abkürzung DVR) bekannt. Auf Grund dieser Erkenntnis wurde im Jahr 2002 die neuroanatomische Terminologie für Vögel komplett überarbeitet.

Der Neokortex der Säuger und der DVR der Reptilien und Vögel unterscheiden sich allerdings dramatisch in ihrem Aufbau. Ersterer ist eine dünne, aber ausgedehnte Gewebeschicht, die sich in Bereiche mit unterschiedlichen Funktionen aufteilt. Der DVR bildet einen Klumpen von Nervengewebe, in dem einzelne Nervenzellgruppen jeweils spezifischen Aufgaben nachgehen. Andererseits weisen Neokortex und DVR vergleichbare Verbindungen zu anderen Hirnteilen auf und besitzen offensichtlich auch ähnliche kognitive Funktionen. So scheint ein Teil des DVR von Vögeln, das Nidopallium caudolaterale, an Planung und Verhaltenssteuerung beteiligt zu sein, ähnlich den Frontallappen der Säugetiere.

Generell ist der DVR der Reptilien einfacher konstruiert als jener der Vögel. Obwohl ihre Gehirne gleich aufgebaut sind, haben die meisten Vögel viel größere Vorderhirne im Verhältnis zur Körpergröße. Dies gilt vor allem für Papageien und Corviden - eine Gruppe, die Krähen, Häher, Raben und Dohlen beinhaltet. In Relation zum Körper ist das Gehirn eines Papageis ebenso groß wie das eines Schimpansen, obwohl es absolut gesehen nur die Ausmaße einer Walnuss besitzt. In den letzten Jahren haben Wissenschaftler beeindruckende kognitive Fähigkeiten bei Vögeln dokumentiert - das verbreitete Schimpfwort »Spatzenhirn« ist also völlig unangemessen.

So konstruieren Neukaledonische Krähen in freier Wildbahn Werkzeuge, um an unzugängliche Nahrung heranzukommen. Sie kürzen dazu Zweige auf die passende Länge und formen sie zu Haken, mit denen sie Larven aus Baumlöchern herausholen. Außerdem schneiden sie stachelige Pandanusblätter so zu, dass eine feine Spitze entsteht. Mit diesen »Sonden« orten sie Insekten unter herabgefallenem Laub.

Laut Gavin Hunt und Russel Gray von der University of Auckland in Neuseeland scheinen die Werkzeuge Neukaledonischer Krähen in mancher Hinsicht noch ausgeklügelter zu sein als die von Schimpansen. Ausgehend von einem Basisdesign fertigen die Vögel eine Vielzahl unterschiedlicher Hilfsmittel, können sie nach und nach verbessern und auch anderen Mitgliedern ihrer Gruppe beibringen, gelungene Exemplare genau zu kopieren.

Die eindrucksvollen kognitiven Leistungen des Florida-Buschhähers, einer weiteren Corvidenart, belegte Nicola S. Clayton, jetzt an der englischen University of Cambridge, in mehreren Untersuchungen. Diese Vögel betreiben Lagerhaltung im großen Stil; sie verstecken Nahrung an Hunderten von Orten, die über ein ausgedehntes Areal verteilt sind. Dabei können sie sich später an die Lage all ihrer Vorräte erinnern und holen ihr Futter je nach Typ nach unterschiedlichen Zeitspannen wieder ab: Unverderbliche Nahrung wie Samen kann monatelang in den Verstecken verbleiben, tote Larven und Würmer müssen hingegen schon Stunden oder Tage später hervorgeholt werden.

Mit Hilfe dieses natürlichen Verhaltens wiesen Clayton und ihre Mitarbeiter nach, dass Florida-Buschhäher sich an spezifische Episoden in ihrer Vergangenheit erinnern können. Sie boten den Vögeln verderbliche Würmer und lagerfähige Nüsse an, die die Tiere dann in einem mit Sand gefüllten Eiswürfelbehälter versteckten. An verschiedenen Tagen bekamen die Buschhäher dafür unterschiedliche Behälter zur Verfügung gestellt. Daraufhin verweigerten die Forscher ihnen den Zugang zu ihrem Vorrat für einen bestimmten Zeitraum.


Was gibt's heute zu essen - Würmer oder Nüsse?

Konnten die Vögel nur kurze Zeit nicht auf die Behälter zurückgreifen, holten sie danach die Würmer - ihre bevorzugte Nahrung - aus den korrekten Fächern hervor. War der Zugang jedoch länger gesperrt und daher die leckeren Würmer bereits verdorben, konzentrierten sich die Häher auf die Nüsse. Offenbar konnten sich die Vögel genau daran erinnern, was sie wo und wann versteckt hatten - eine Fähigkeit, die außer beim Menschen noch bei keinem Säugetier nachgewiesen wurde.

Darüber hinaus fand Clayton heraus, dass die Vögel sogar einmalige zukünftige Ereignisse voraussehen. Die Forscherin ließ Häher Artgenossen beim Anlegen von Vorräten beobachten, woraufhin Erstere die Lager plündern durften. Versteckten die diebischen Vögel danach ihr eigenes Futter und ein anderer Häher war anwesend, gaben sie sich größte Mühe, ihre Absicht vor dem Artgenossen zu verbergen. Obgleich die Häher Futterdiebstahl nur aus der Warte des Täters kannten, waren sie offenbar in der Lage, sich in die Rolle des Opfers hineinzuversetzen. Die Fähigkeit, spezifische vergangene Vorkommnisse abzurufen und zukünftige Ereignisse vorauszusehen, ist als »mentales Zeitreisen« bekannt. Vor Claytons Entdeckung gingen die meisten Forscher davon aus, dass diese Fähigkeit allein dem Menschen vorbehalten ist.

Nicht weniger erstaunlich waren die Leistungen eines afrikanischen Graupapageis namens Alex, der im Lauf seines Lebens lernte, 50 verschiedene Objekte zu benennen (siehe G&G 10/2005, S. 18). Zunächst wurden ihm die Bezeichnungen für sieben Farben und fünf Formen beigebracht. 1996 berichtete dann Alex' Betreuerin Irene M. Pepperberg (damals an der University of Arizona), dass der Vogel Objekte nach Farbe und Form klassifizieren konnte. Er unterschied also etwa gelbe von andersfarbigen Quadraten. Zudem war Alex in der Lage, mittels einfacher englischer Formulierungen beispielsweise um eine Banane zu bitten (»want banana«). Der Papagei lernte sogar die Bezeichnungen der Zahlen eins bis sechs und schien auch das Konzept »Null« zu begreifen, da er den Ausdruck »none« verwendete. Eine Reihe von Kontrollexperimenten stellte sicher, dass diese Leistungen nicht etwa das Resultat von Konditionierung waren. Solche geistigen Fähigkeiten waren zuvor nur von Menschen und Menschenaffen bekannt.

Auch bei Reptilien scheint es sich nicht um rein instinktgesteuerte Automaten zu handeln. Intelligenztests sind bei ihnen aber schwerer zu interpretieren, da die übliche Futterbelohnung bei diesen Tieren nicht so gut funktioniert. Denn Reptilien benötigen viel weniger Nahrung als Säugetiere mit ihrer hohen und konstanten Körpertemperatur und lassen sich daher nicht so leicht dazu bewegen, als Gegenleistung für einen leckeren Happen an Lerntests teilzunehmen. Werden ihnen jedoch adäquate Belohnungen angeboten - etwa die Wärme einer Lampe -, erweisen sie sich ebenfalls als überraschend lernfähig.

In Labyrinth-Experimenten legen beispielsweise Schildkröten räumliche Fähigkeiten an den Tag, die denen von Fischen ähneln - etwa jene, einen bestimmten Ort anhand von Landmarken ausfindig zu machen, obwohl das Labyrinth im Raum gedreht wurde. Es sind also ganz offenbar beachtliche kognitive Fähigkeiten unabhängig voneinander in unterschiedlichen Abstammungslinien entstanden. Und zu diesen gehört letztlich auch die geistige Gewandtheit, mit deren Hilfe Forscher weiter daran arbeiten, die Evolution der Gehirne und der Intelligenz zu entschlüsseln.


Paul Patton ist Neurowissenschaftler an der Bowling Green State University in Ohio und untersucht die räumlichen Fähigkeiten und Sinnessysteme von blinden höhlenbewohnenden Fischen Mexikos.


ZUSATZINFORMATIONEN:

ERSTES AUFTRETEN EINIGER TIERGRUPPEN

vor über 400 Millionen Jahren: Fische
vor ca. 320 Millionen Jahren: Vorläufer der Säugetiere (Synapsida)
vor ca. 310 Millionen Jahren: Vorläufer der Reptilien und Vögel (Sauropsida)


Entwicklungsmodelle im Wandel der Zeit

Mittelalterliche Naturforscher ordnen die Lebewesen entlang einer linearen Stufenleiter, der scala naturae. Kreaturen wie Würmer und Nacktschnecken werden als niedere, die Menschen als die höchsten der irdischen Wesen angesehen.

In seinem Werk »Die Entstehung der Arten« (1859) beschreibt Charles Darwin, dass die Arten durch Abstammung verwandt sind. Sein »Baum des Lebens« platziert die heutigen Arten an die Spitzen der Äste. Innere Äste repräsentieren ausgestorbene Arten, und an jenen Stellen, wo zwei Linien von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen, liegen Verzweigungen (Bildunterschrift 1).

In den folgenden Jahrzehnten bringen technische Verbesserungen des Mikroskops sowie Färbemethoden, mittels derer Neurone sichtbar gemacht werden können, die vergleichende Neuroanatomie voran. Dennoch behalten die meisten Biologen Aspekte der hierarchischen scala naturae in ihrer Denkweise bei.

Mitte des 20. Jahrhunderts begründen Konrad Lorenz, Nikolaas Tinbergen und Karl von Frisch die wissenschaftliche Untersuchung des angeborenen Verhaltens von Tieren - die Ethologie. Tinbergen und Lorenz kommen auf Grund von Studien an Graugänsen zum Schluss, dass Nichtsäuger nicht viel mehr als instinktgesteuerte Automaten sind. Karl von Frisch hingegen entdeckt bei Arbeiterbienen eine eindrucksvolle Intelligenzleistung: Sie übermitteln den Standort von Nektarquellen mittels einer »Tanzsprache« an ihre Nestgenossen.

Rund 100 Jahre nach Darwin spiegelt das Modell des dreieinigen Gehirns von Paul D. MacLean immer noch die traditionelle Idee einer sequenziellen Evolution wider (siehe Bildunterschrift 3). In den 1980er Jahren führt dann R. Glenn Northcutt, damals an der University of Michigan in Ann Arbor, zusammen mit weiteren Wissenschaftlern das moderne »kladistische Modell« in der vergleichenden Neuroanatomie ein. Kladistische Analysen bestimmen evolutionäre Verwandtschaften mittels statistischer Methoden, indem sie anatomische Strukturen zwischen verwandten Arten vergleichen. Es stellte sich heraus, dass komplexe Gehirne nicht nur einmal, sondern viele Male unabhängig voneinander und in unterschiedlichen Abstammungslinien aus einfacheren Nervensystemen entstanden sind. In den letzten Jahren wiesen Ethologen zudem in vielen Tiergruppen beeindruckende kognitive Leistungen nach.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bildunterschrift 1:
BAUM DES LEBENS
Darwins Abstammungsmodell ähnelt einem Familienstammbaum. An den Verzweigungen trennten sich die Entwicklungslinien von Arten mit gemeinsamen Vorfahren. Die Endpunkte markieren heute vorkommende - oder ausgestorbene - Spezies.

Bildunterschrift 2:
KOPFFÜSSLER MIT KÖPFCHEN
Tintenfische lernen durch Beobachten von Artgenossen.

Bildunterschrift 3:
VERALTETE BAUKASTENLEHRE
Paul D. MacLeans Modell des »dreieinigen Gehirns« war während der 1960er Jahre populär. Danach sei das menschliche Denkorgan das Ergebnis einer linearen Evolution, die von einfachen Tieren ausgegangen sei. Zum »Reptiliengehirn«, das vor allem aus den Basalganglien besteht (blau), trete bei den Säugetieren das limbische System hinzu, das für emotionales Verhalten zuständig ist (orange). Erst viel später habe sich die Großhirnrinde entwickelt, der Ort höherer kognitiver Fähigkeiten (gelb). Diese Vorstellungen sind zwar längst widerlegt, aber immer noch weit verbreitet.

Bildunterschrift 4:
GUTE ORIENTIERUNG
Goldfische finden sich selbst in einem Wasserlabyrinth gut zurecht.

Bildunterschrift 5:
GROSSER SCHNABEL, VIEL DAHINTER
Der Graupapagei Alex lernte, abstrakte Eigenschaften wie Farben und Formen zu erkennen, beherrschte die Zahlen Null bis Sechs und konnte einfache Sätze bilden.


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LITERATURTIPPS

Butler, A. B., Hodos, W.: Comparative Vertebrate Neuroanatomy: Evolution and Adaptation. Wiley, Hoboken 2005 (2. Auflage).

Dicke, U., Roth, G.: Evolution der Intelligenzen In: G&G 3/ 2008, S. 58 - 65.

Newen, A.: Von wegen begriffsstutzig! In: G&G 1-2/ 2007, S. 32 - 36.

Striedter, G. F.: Principles of Brain Evolution. Palgrave Macmillan, New York 2004.

Originalquellen finden Sie im Internet unter: www.gehirn-und-geist.de/artikel/978287


© 2009 Name des Autors, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 3/2009, Seite 50 - 56
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2009