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BERICHT/084: Psycholinguistik - Gedacht wie gesprochen (Gehirn&Geist)


GEHIRN&GEIST 7-8/2011
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Psycholinguistik
Gedacht wie gesprochen

von Klaus Wilhelm


Prägen die Besonderheiten der Muttersprache, wie Menschen die Welt wahrnehmen und Urteile fällen? Lange galt dies als bloße Spekulation. Doch nun finden Forscher immer neue Belege dafür, dass Grammatik und Wortschatz auch unser Denken prägen - auf sehr subtile Weise.


AUF EINEN BLICK

Denkste!

1. Wahrnehmen, Denken und Urteilen von Menschen unterliegen subtilen Voreinstellungen, die linguistisch bedingt sind.

2. Wir reagieren schneller auf unterschiedliche Sinnesreize, für die wir verschiedene Begriffe haben, und verbinden je nach Muttersprache andere Eigenschaften mit Objekten.

3. Die verbreitete These, der Mensch könne nur das begreifen, wofür er auch Wörter besitzt, ist dennoch falsch. Denn die Bedeutungsnuancen anderer Sprachen können wir lernen.


Lera Boroditsky bewegt ihre Hand in Richtung einer Kaffeetasse, die vor ihr auf dem Schreibtisch steht. »Wenn ich die Tasse jetzt berühre und sie hinunterfällt, würde ein englischsprachiger Beobachter sagen: Sie hat die Tasse umgeschmissen. Selbst wenn es nur ein Versehen war!« Im Japanischen, erklärt die junge Forscherin von der Stanford University weiter, zähle dagegen die Absicht. Wenn jemand mutwillig eine Tasse umwerfe, komme eine andere Verbform zum Einsatz, als wenn es sich um einen Unfall gehandelt habe. »Die Tasse ist von selbst umgefallen«, würde es dann sinngemäß heißen.

Linguisten verzeichnen dies als weitere Besonderheit mancher der etwa 7000 Sprachen der Welt. Doch Boroditsky ist Kognitionswissenschaftlerin und interessiert sich dafür, was solche Unterschiede über den Geist aussagen. »Sprachliche Merkmale beeinflussen, wie sich Menschen an vergangene Ereignisse erinnern«, erklärt die Forscherin.

Das habe zum Beispiel Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit von Augenzeugen. Zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Caitlin Fausey veröffentlichte Boroditsky 2010 und 2011 zwei Studien, in denen US-Amerikaner, Spanier und Japaner unter einem Vorwand verschiedene Filme zu sehen bekamen. Zwei Schauspieler brachten darin Ballons zum Platzen, zerstörten Eier und verschütteten Getränke, entweder mutwillig oder anscheinend unabsichtlich. Kurz darauf sollten die Versuchspersonen angeben, was sie in den Videos beobachtet hatten - so, als würden sie als Zeugen vor Gericht aussagen.

Tatsächlich wirkte sich die Muttersprache der Probanden auf deren Erinnerungen aus. Wenn sie etwa gefragt wurden, welcher der beiden Männer den Ballon zum Platzen gebracht hatte, erinnerten sich Sprecher aller Nationalitäten gleich gut - aber nur, wenn der Schuldige dem Anschein nach mutwillig gehandelt hatte. Bei Unfällen indes konnten sich die spanischen und japanischen Muttersprachler schlechter als die amerikanischen Probanden erinnern, welche der beiden Personen sie verursacht hatte. Ihr Gedächtnis funktionierte ansonsten jedoch genauso gut wie das der englischsprachigen Teilnehmer, wie Kontrollversuche bewiesen.

Sprache beeinflusst also offenbar, wie wir etwas wahrnehmen und wie gut wir uns daran erinnern. Oder provokanter formuliert: Amerikaner unterstellen anderen Menschen eher eine Absicht als Spanier oder Japaner. Denn englische Muttersprachler neigen genau wie deutsche dazu, Geschehnisse mit einem verantwortlichen Akteur zu beschreiben. »Sprecher des Japanischen und Spanischen«, so Boroditsky, »setzen dagegen einen anderen Schwerpunkt.«

Allerdings könnten auch kulturelle Unterschiede hinter den Gedächtnislücken der Spanier und Japaner stecken. Vielleicht sind sie von ihren Eltern eher dazu erzogen worden, vorsichtig mit Schuldzuweisungen umzugehen? Doch wie ein Experiment von Fausey und Boroditsky aus dem Jahr 2010 belegt, lässt sich der Einfluss der Sprache auf das Denken auch innerhalb einer Kultur nachweisen.

Die Forscher hatten ausschließlich Amerikanern einen Text vorgelegt, in dem der legendäre Auftritt der Popstars Janet Jackson und Justin Timberlake in der Halbzeitpause des Superbowl (dem Endspiel um die US-Football-Meisterschaft) 2004 beschrieben wurde. Zu Beginn ihres Duetts hatte Timberlake seine Hand auf Jacksons Top gelegt und einen Teil des Kostüms heruntergerissen, was eine Brust der Sängerin entblößt hatte.

Trug Timberlake nun die Schuld an dem Missgeschick oder nicht? Die Probanden bekamen eine von zwei Versionen des Vorfalls zu lesen, die sich nur in wenigen Details unterschieden. In der einen Variante hieß es beispielsweise, »er öffnete einen Druckknopf und riss die Corsage entzwei«, in der anderen dagegen »ein Druckknopf öffnete sich und die Korsage riss entzwei«. Wer den ersten Text zu lesen bekommen hatte, verurteilte Timberlake anschließend zu einer deutlich höheren (fiktiven) Geldstrafe als die Leser der passiven Beschreibung. Das war selbst dann der Fall, wenn beide Gruppen vorher dasselbe Video des Auftritts zu sehen bekommen hatten!


Renaissance von Sapir und Whorf

»Allein die Wortwahl«, sagt Boroditsky, »verändert, wie wir über einen Vorfall denken.« Daher fragt sich die Psychologin, ob die feinen Unterschiede zwischen den Sprachen - etwa, ob sie Geschehnisse vorzugsweise mit einem handelnden Akteur beschreiben oder nicht - die kognitiven Prozesse ihrer Sprecher grundlegend beeinflussen. Interpretiert ein Spanisch sprechender Richter einen Satz wie »Das Gewehr ging los« anders als ein Englisch sprechender? Leben Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen gar gedanklich in verschiedenen Welten?

Davon waren die US-Wissenschaftler Edward Sapir (1884-1939) und Benjamin Whorf (1897-1941) überzeugt. Sie schufen in den 1930er Jahren die nach ihnen benannte Sapir-Whorf-Hypothese. Die Annahme: Da Sprache die Art unseres Denkens fundamental präge, sollten Sprecher verschiedener Sprachen die Welt unterschiedlich wahrnehmen. In der Folgezeit sammelten Forscher einige Daten, die diese Idee zu stützen schienen. So gebrauchen etwa die Zuni, ein Indianerstamm aus Nordamerika, dasselbe Wort für Gelb und Orange. Tatsächlich konnten sie sich in einer Studie schlechter als weiße US-Amerikaner daran erinnern, ob ein zuvor gesehenes Objekt gelb oder orange war.

Doch spätestens Anfang der 1970er Jahre begann das empirische Fundament der Theorie zu bröckeln. Obwohl beispielsweise die Dani aus Neuguinea nur zwei Farbwörter kennen (in etwa »hell« und »dunkel«), zeigten Experimente der Psychologin Eleanor Rosch von der University of California in Berkeley, dass sie farbliche Nuancen genauso differenziert wie englische Muttersprachler wahrnehmen. Gleichzeitig gewann die Idee des berühmten Linguisten Noam Chomsky an Einfluss, wonach alle Menschen durch die gleiche universelle Denkstruktur vereint seien - unabhängig von ihrer jeweiligen Muttersprache. Die Sprachen auf der Welt drückten demnach immer dieselben Gedanken aus, nur eben in unterschiedlicher Weise. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts investierten Forscher folglich kaum noch Mühe darin, die Sapir-Whorf-Hypothese zu prüfen.

Doch Boroditsky und andere Neowhorfianer glauben nicht, dass Sprache und Denken ganz unabhängig voneinander sind. In immer neuen Experimenten sammeln sie Indiz um Indiz für subtile kognitive Unterschiede zwischen Menschen mit verschiedenen Muttersprachen. Die Kritik folgte auf dem Fuß: Die Linguistin Lisa Gleitman von der University of Pennsylvania in Philadelphia glaubt, Boroditsky unterschätze die Komplexität des menschlichen Denkens. »Sprache ist nur ein kleiner Teil gemessen am großen Reichtum unserer Gedanken.«

Um das Thema wird hart gerungen, weil es die Natur unseres Geistes berührt: Wie erwerben wir Wissen? Was macht Homo sapiens so intelligent? Kognitionsforscher müssen diese großen Fragen des Menschseins in handliche experimentelle Bedingungen übersetzen - folglich lässt sich der Effekt von Sprachstrukturen auf das Denken oft nur an Nuancen festmachen. Traditionell spielt dabei die Farbwahrnehmung eine wichtige Rolle. Diese müsste bei allen Menschen, die nicht unter einer Farbenfehlsichtigkeit leiden, im Prinzip gleich ablaufen. Doch tatsächlich scheint es Unterschiede zu geben.

2008 untersuchte Lera Boroditsky mit Jonathan Winawer von der Stanford University und weiteren Kollegen 24 englische und 26 russische Muttersprachler aus der Gegend um Boston an der US-Ostküste. Die Probanden sahen jeweils drei blaue Felder in einem Dreieck angeordnet. Ihre Aufgabe bestand darin, möglichst schnell anzugeben, welches der beiden unteren Quadrate den gleichen Farbton wie das obere Viereck hatte (siehe rechts). Im Russischen werden hellblau (goluboj) und dunkelblau (sinij) unterschieden, und die Forscher arbeiteten mit Farbschattierungen, die russische Muttersprachler zuvor eindeutig als goluboj oder sinij identifiziert hatten.

Sahen die russischen Muttersprachler nun zum Beispiel eine Tafel, auf der die beiden zusammenpassenden Blöcke in einem Goluboj-Blauton gefärbt waren, das dritte Quadrat dagegen in einer Blauschattierung aus dem Sinij-Spektrum, so erkannten sie das richtige untere Feld schneller, als wenn alle Farbtöne goluboj waren. Für die amerikanischen Probanden machte es dagegen keinen Unterschied, in welchen Bereichen des Blauspektrums die Felder gefärbt waren.

In einer Variante des Tests sollten die Versuchspersonen gleichzeitig zur Sortierung der blauen Quadrate noch eine räumlich-visuelle Aufgabe bearbeiten - nämlich sich ein Muster aus schwarzen und weißen Quadraten merken. Noch immer schnitten die russischen Probanden besser ab, wenn die beiden Blauschattierungen in ihrer Sprache verschiedene Namen trugen.

In einer zweiten Testvariante lenkten die Forscher die Versuchspersonen dagegen mit einer sprachlichen Tätigkeit ab: Sie sollten sich eine achtstellige Zahl merken, indem sie diese immer wieder still vor sich hin sagten. Nun war es auch für die russischen Muttersprachler egal, welche Blautöne sie auseinanderhalten sollten: Sie waren immer gleich schnell. Offenbar spielt also die Sprache eine aktive Rolle bei der Wahrnehmung von Farben.

Doch wie tief wurzeln solche sprachlichen Kategorien im Gehirn? Handelt es sich um automatische Reaktionen oder eher um bewusste, sprachlich ausformulierte Gedanken wie »Das ist hellblau, das ist dunkelblau«? Der Psychologe Guillaume Thierry von der walisischen Bangor University versuchte das 2009 zu klären. Gemeinsam mit Linguisten und Neurowissenschaftlern untersuchte er die Hirnströme von griechischen und englischen Muttersprachlern per Elektroenzephalografie (EEG).

Im Griechischen sind hellere (galazio) und dunklere (ble) Blautöne ebenfalls zwei eigenständige Farben. Die Probanden sahen auf einem Bildschirm eine Reihe aufeinander folgender bunter Kreise, die überwiegend in einer Farbe gehalten waren - entweder einem helleren oder dunkleren Blau. Zwischendurch tauchten in zufälligen Abständen Kreise im jeweils anderen Blauton auf. Dasselbe wiederholten die Forscher anschließend mit hell- und dunkelgrünen Kreisen - für Grün gibt es auch im Griechischen nur einen Begriff.


Sprechendes Vorurteil

Die eigene Muttersprache beeinflusst unser Denken. Wie ist das aber bei Menschen, die bilingual aufwuchsen? Sie zeigen offenbar eine etwas andere Weltsicht, je nachdem welche Sprache sie gerade sprechen!

Shai Danziger von der Ben-Gurion University im israelischen Beerscheba und Kollegen untersuchten im Jahr 2010 arabischstämmige Israelis. In einem Test erfassten die Forscher, ob ihre Probanden implizite Vorurteile gegenüber jüdischen Namen wie Avi oder arabischen wie Samir hegten. Das hing davon ab, in welcher Sprache die Tests durchgeführt wurden: Auf Hebräisch fielen negative Einstellungen gegenüber jüdischen Namen deutlich geringer aus - im Arabischen dagegen schnitten arabische Namen durchschnittlich etwas besser ab.

(Danziger, S., Ward, R.: Language Changes Implicit Associations Between Ethnic Groups and Evaluation in Bilinguals. In: Psychological Science 21, S. 6799-6800, 2010)


Sprachlich geeichter Fehleralarm

Wann immer die Farbe der Stimuli unerwartet von hell nach dunkel wechselte, fanden Thierry und seine Kollegen im EEG aller Probanden einen charakteristischen Ausschlag: die mismatch negativity (etwa »Abweichungsnegativität«). Dabei handelt es sich um eine Art neuronalen Fehlerdetektor, der anzeigt, dass ein unerwartetes Objekt aufgetaucht ist.

Bei den griechischen Probanden war diese Reaktion deutlich stärker, wenn die Farbe zwischen den beiden Blautönen wechselte, als wenn sie von Hell- auf Dunkelgrün oder umgekehrt sprang. Für die britischen Versuchspersonen machte das hingegen keinen Unterschied: Ihr Gehirn reagierte immer gleich intensiv auf das Umschalten.

Die mismatch negativity ist eine automatische Reaktion nach etwa 200 Millisekunden - zu früh, um einen klaren Gedanken zu formulieren. Daher folgert Thierry, dass sich griechische und englische Muttersprachler auch auf einer unbewussten, sehr frühen Ebene in ihrer Farbwahrnehmung unterscheiden, noch bevor sie ihre bewusste Aufmerksamkeit auf die Farbschattierung richten. Sie scheinen die Welt tatsächlich etwas anders wahrzunehmen.

Diese feinen Unterschiede sind vermutlich nicht nur auf Farben beschränkt - immerhin unterscheiden sich die Sprachen der Erde auf unzählige Arten. So auch bei den Begriffen zu Richtungen und räumlichen Relationen. Die Thaayorre, ein Aborigine-Volk aus dem Norden Australiens, kennen keine Bezeichnungen für rechts und links, vorne oder hinten. Räumliche Verhältnisse definieren sie nicht vom Standpunkt des Beobachters aus, sondern ausschließlich über Himmelsrichtungen wie westlich, östlich, nördlich und südlich - egal in welchem Maßstab! Eine Ameise kann also westlich von der nördlichen Hand eines Menschen krabbeln und eine Tasse südlich des Tellers stehen. Wer so spricht, muss ständig im räumlichen Koordinatensystem orientiert sein, sonst klappen einfachste Unterhaltungen nicht.

In der Tat können Thaayorre fast immer exakt angeben, wo sie sich gerade befinden, allemal besser als die Vertreter anderer Aborigine-Stämme, die zwar in der gleichen Umgebung wohnen, deren Sprache aber keine Angaben von absoluten Richtungen erfordert. Was die Thaayorre zu dieser erstaunlichen kognitiven Leistung befähige, sei ihre Sprache, so Boroditsky.

Nun sind aber räumliche Verhältnisse zentral für unser Denken, denn wir bauen andere, komplexere Vorstellungen darauf auf: Töne sind hoch oder tief, politische Einstellungen links oder rechts. Menschen können eine niedere Moral offenbaren und Hochgefühle erleben. Dasselbe gilt für unser Zeiterleben. Stellen Sie sich eine Zeitleiste Ihres Lebens vor, mit der Geburt an einem Ende, der Gegenwart am anderen! Verläuft die Linie, die Sie gerade gedanklich zusammenbasteln, horizontal von links nach rechts? Die meisten Muttersprachler des Deutschen oder des Englischen folgen diesem Prinzip: Weit links die entsetzliche Matheprüfung im Abitur damals, weiter rechts die sensationelle Asienreise, noch weiter rechts der erste Familienurlaub.

Die Linguistin Alice Gaby von der University of California in Berkeley hat gemeinsam mit Lera Boroditsky 14 Muttersprachler der Thaayorre-Sprache untersucht, sieben Frauen und sieben Männer im Alter zwischen 40 und 70 Jahren. Zuerst bekamen die Probanden verschiedene Kartensets vorgelegt, von denen jedes eine zeitliche Abfolge darstellte: Etwa einen Mann in verschiedenen Lebensphasen vom Kleinkind bis zum Greis oder eine immer weiter abgebissene Banane. Die Aborigines sollten die Bilder jeweils in die richtige zeitliche Reihenfolge bringen.

In der zweiten Teilstudie legten die Forscherinnen einen Stein auf den Boden, der das Heute symbolisieren sollte. Nun baten sie die Testpersonen, »gestern« und »morgen« mit weiteren Steinen zu markieren. Während jeder Aufgabe wechselten die Probanden ihre Sitzposition, so dass ihr Kopf stets in eine andere Richtung wies. Ergebnis: Fast alle Thaayorre stellten die Zeit von Osten nach Westen verlaufend dar, so dass die »Zeitleiste« stets die Richtung wechselte, je nachdem wie die Probanden saßen. Wies der Kopf beispielsweise nach Norden, floss die Zeit von rechts nach links, bei östlicher Ausrichtung dagegen auf den Körper zu. Für alle 14 Teilnehmer einer Kontrollgruppe aus den USA schritt die Zeit dagegen immer von links nach rechts fort.

Warum? Vergleiche mit anderen Kulturen zeigen, dass etwa Mandarin sprechende Chinesen sich die Zeit vertikal vorstellen. Geschehnisse aus der Vergangenheit sortieren sie nach oben, zukünftige Ereignisse möglichst weit nach unten. Offenbar hängen solche abstrakten Vorstellungen auch davon ab, in welcher Richtung wir unsere Schriftsprache lesen und schreiben.


Schrift prägt die Zeitvorstellung

In einem verwandten Experiment behinderten die Forscher die natürlichen Denkweisen von Mandarinsprechern, indem diese etwa Objekte in eine horizontale Reihenfolge bringen mussten. Dabei konnten sie Fragen nach Zeitfolgen wie etwa »Kommt der November vor oder nach dem Oktober?« nicht mehr so schnell und sicher beantworten. Analog verlief der Versuch mit englischen Muttersprachlern, die von oben nach unten sortieren mussten. Die Richtung des Schreibens und unsere Zeitvorstellung scheinen also eng verknüpft zu sein. Hindert man die Probanden daran, sich die Richtung räumlich vorzustellen, bringt das auch ihre Zeitwahrnehmung durcheinander.

Um ihre These vom sprachlich beeinflussten Denken weiter zu erhärten, lehrte Boroditsky manche Probanden im Labor, unterschiedlich über Zeit zu sprechen. Beispielsweise sollten Sprecher des Englischen die Reihenfolge von Ereignissen mit einer vertikalen Metapher beschreiben. »Anschließend ähnelte ihre Zeitwahrnehmung stärker der von Mandarinsprechern«, sagt Boroditsky. »Wenn wir eine neue Sprache lernen, machen wir uns also tatsächlich auch eine neue Denkweise zu eigen.«

Viele Sprachen - darunter das Deutsche - ordnen unbelebten Dingen ein Geschlecht zu, sogar wenn das unsinnig erscheint: Warum sollte ein Fußball männlich sein, eine Regenrinne dagegen weiblich? Brücken zum Beispiel sind in Spanien maskulin, während es im Deutschen die Brücke heißt. 2007 zeigte ein Versuch von Boroditsky, dass Deutsche eine Brücke automatisch mit femininen Attributen beschreiben - etwa elegant, schlank, zierlich, hübsch oder friedlich. Spanier hingegen assoziierten Eigenschaften wie stark, gefährlich, groß oder solide. Wenn man französische Probanden bittet, sich vorzustellen, eine vor ihnen auf dem Tisch liegende Gabel könne sprechen, weisen sie ihr eine hohe Stimme zu. Es heißt ja auch ganz »niedlich« la fourchette. Für einen Spanier hingegen spräche die Gabel mit tiefer, sonorer Stimme - sie ist schließlich el tenedor.

Der grammatische Artikel aktiviert offenbar tief verwurzelte Konzepte von Weiblichkeit oder Männlichkeit, wenn man an das betreffende Objekt denkt. »Wenn Amerikaner das grammatische Geschlecht eines Objekts in einer Fremdsprache erlernen, beeinflusst das anschließend ihre mentale Repräsentation dieses Gegenstands auf die gleiche Weise wie bei den Muttersprachlern«, so Boroditsky.

Um derlei Auswirkungen des sprachlichen Genus zu beobachten, braucht man sich noch nicht einmal ins Labor zu begeben. In jedem Museum finden sich Beispiele für Personifizierung, also für die künstlerische Darstellung abstrakter Begriffe wie Tod, Sünde, Sieg oder Zeit in menschlicher Gestalt. Wie entscheidet ein Künstler, ob er beispielsweise den Tod als Mann oder als Frau darstellt? Wie sich in einer Studie Boroditskys herausstellte, tragen 85 Prozent solcher Personifizierungen das Geschlecht, das sie auch grammatikalisch in der Muttersprache des Künstlers innehaben. Deutsche Maler stellen zum Beispiel den Tod gern als Mann dar, auf den Gemälden russischer Maler ist er dagegen häufig eine Frau.

All diese Phänomene zeigen, dass die Sprachen unterschiedliche Wege gefunden haben, die Welt zu beschreiben und in Kategorien aufzuteilen, und dass sich diese Unterschiede messbar in den kognitiven Prozessen ihrer Sprecher niederschlagen. Das heißt jedoch nicht, dass sich Menschen verschiedener Sprachräume grundlegend fremd bleiben müssten. Das Gehirn ist flexibel genug, um auch andere Bedeutungen und Begriffe zu lernen - und damit immer neue Sichtweisen kennen zu lernen.


Klaus Wilhelm ist Diplombiologe und freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.


RANDNOTIZ

Dr. Jekyll und Mr. Huang
Wer eine Fremdsprache erlernt, könnte laut einer Studie von Sylvia Chen und Michael Bond von der Polytechnischen Universität Hongkong danach auch über andere Persönlichkeitseigenschaften verfügen: Bei Befragungen gaben sich gebürtige Chinesen durchsetzungsfähiger, extrovertierter und offener, wenn sie Englisch sprachen statt Kantonesisch. Die Forscher führen das auf kulturelle Normen zurück, die wir beim Lernen einer neuen Sprache ebenfalls erwerben und immer dann abrufen, wenn wir sie benutzen.

(Chen, S.X., Bond, M.H.: Two Languages, Two Personalities? Examining Language Effects on the Expression of Personality in a Bilingual Context. In: Personality and Social Psychology Bulletin 36, S. 1514-1528, 2010)


LITERATURTIPP

Deutscher, G.: Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. C.H.Beck, München 2010 Sammlung von Anekdoten und neueren wissenschaftlichen Studien über den Zusammenhang zwischen Sprache und Geist


QUELLEN

Boroditsky, L., Gaby, A.: Remembrances of Times East. Absolute Spatial Representations of Time in an Australian Aboriginal Community. In: Psychological Science 21, S. 1635-1639, 2010

Fausey, C. M. et al.: Constructing Agency: The Role of Language. In: Frontiers in Cultural Psychology 10.3389/fpsyg. 2010.00162, 2010

Fausey, C. M., Boroditsky, L.: Subtle Linguistic Cues Influence Perceived Blame and Financial Liability. In: Psychonomic Bulletin & Review 17, S. 644-650, 2010

Winawer, J. et al.: Russian Blues Reveal Effects of Language on Color Discrimination. In: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 104, S. 7780 - 7785, 2007

Weitere Literaturhinweise im Internet:
www.gehirn-undgeist.de/artikel/1072167


NEUE SERIE
Faszination Sprache

Teil 1: Sprache und Denken (G&G 7-8/2011)
Teil 2: Grammatik verstehen (G&G 9/2011)
Teil 3: Der Weg der Wörter im Gehirn (G&G 10/2011)
Teil 4: Bildhafte Sprache und Ironie (G&G 11/2011)
Teil 5: Wie wir Fremdsprachen lernen (G&G 12/2011)


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 15:
Mentales MultiKulti
Die Eigenarten der Sprache prägen unsere Vorstellungen: Während die Zeit für Europäer von links nach recht fließt, vergeht sie für Asiaten eher von oben nach unten. Australische Ureinwohner ordnen sie sogar nach Himmelsrichtungen.

Abb. S. 17:
Blauer als blau?
Russische Muttersprachler verwenden lexikalisch unterschiedliche Begriffe für dunkel- und hellblau: sinij beziehungsweise goluboj. Das erleichtert es ihnen zu erkennen, ob dem Quadrat ganz oben farblich eines der beiden unteren entspricht.

Abb. S. 18:
Geschlechtsspezifische Assoziationen
Je nachdem, ob das Wort für »Brücke« grammatisch weiblich oder wie im Spanischen (el puente) männlich ist, verbinden die jeweiligen Muttersprachler eher Grazilität oder Stärke damit.


© 2011 Klaus Wilhelm, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 7-8/2011, Seite 14 - 19
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2011