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BUCHTIP/104: Rezensionen - Bücher und mehr (Gehirn und Geist)


Gehirn und Geist 6/2015
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Bücher und Mehr


TIPP DES MONATS

Gregory Hickok
Warum wir verstehen, was andere fühlen
Der Mythos der Spiegelneuronen
Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke
[Hanser, München 2015, 366 S., € 24,90]


Zweifel an den Spiegelneuronen
Werden die angeblichen Allroundtalente überschätzt?

Was hat man ihnen nicht alles angedichtet: Sie sorgten dafür, dass wir verstehen, was andere Menschen fühlen; sie seien der Grund dafür, warum Gähnen ansteckend ist und weshalb wir mit Sportlern im Wettkampf mitfiebern. Sogar die menschliche Kommunikation sollten die Spiegelneurone erklären helfen. Doch Forschern kommen mehr und mehr Zweifel ob der vielseitigen Talente dieser Nervenzellen. Der Neurowissenschaftler Gregory Hickok von der University of California in Irvine hat sich in den zurückliegenden Jahren als einer der größten Skeptiker profiliert. In seinem Buch weist er auf zahllose Unstimmigkeiten hin, welche die bisherigen Annahmen bezüglich der Spiegelneurone bergen.

1992 machte ein Team um den Neurophysiologen Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma zufällig eine Aufsehen erregende Entdeckung. Bei Makaken feuerten Neurone im prämotorischen Kortex nicht nur, wenn die Tiere zielgerichtete Handbewegungen ausführten. Sie waren auch dann aktiv, wenn die Primaten solche Bewegungen lediglich beobachteten. Rizzolatti und seine Kollegen bezeichneten die betreffenden Zellen als Spiegelneurone. Denn deren Aktivität spiegelte augenscheinlich Handlungen, die die Tiere bei Artgenossen verfolgten. Offenbar ahmten die Makaken diese innerlich nach - als würde das beobachtende Individuum die Bewegung selbst ausführen. Möglicherweise tragen die Neurone so zum Verständnis der jeweiligen Aktion bei, vermuteten die Forscher.

Empirische Befunde scheinen diese Theorie zu stützen. Menschen mit der Bewegungsstörung Apraxie beispielsweise sind nicht nur unfähig, selbst zielgerichtete Bewegungen auszuführen. Studien zufolge fällt es ihnen auch schwerer als gesunden Personen, Handlungen anderer zu verstehen. Hickok allerdings hat einen genaueren Blick auf diese Studien geworfen und zweifelt die gängige Interpretation an. Er betont, einzelne Apraxiepatienten könnten durchaus fremde Handlungen nachvollziehen; diese Fähigkeit setze also offenbar nicht das Können voraus, die Handlungen selbst auszuführen.

Beim Menschen gilt das Broca-Areal als Entsprechung des Spiegelneuronensys tems bei Affen. Diese Hirnregion wirkt an der Produktion von Sprache mit. Daher kam die Vermutung auf, das Areal könne eine wichtige Rolle beim Sprachverstehen spielen, indem es gewissermaßen die sprachlichen Äußerungen unserer Mitmenschen innerlich nachspielt. Der Autor verweist jedoch auf das Phänomen der »Broca-Aphasie«. Patienten mit dieser Störung haben große Probleme, zu sprechen, verfügen aber oft über ein gutes Hörverständnis. Hickok schließt daraus, das motorische Sprachsystem sei anscheinend nicht notwendig für die Sprachwahrnehmung.

In seinem fundierten Werk erhebt der Autor viele Einwände gegen das angeblich so große Potenzial der Spiegelneurone. Allerdings braucht man mitunter einen langen Atem, um ihm zu folgen - ob er nun dutzende Studien akribisch analysiert oder deren verschiedene Interpretationen abwägt. Und anders, als es der deutsche Buchtitel verheißt, kann auch Hickok nicht erklären, warum wir verstehen, was andere fühlen.

Christian Wolf ist promovierter Philosoph und Wissenschaftsjournalist in Berlin.
Bewertung: exzellent

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Moheb Costandi
50 Schlüsselideen Hirnforschung
Aus dem Englischen von Monika Niehaus-Osterloh
[Springer Spektrum, Berlin und Heidelberg 2015,
208 S., € 16,99]

Der Band informiert knapp über die wichtigsten Grundlagen und Trends der Neurowissenschaften. In 50 je vierseitigen Einträgen präsentiert der britische Hirnforscher Moheb Costandi die ganze Bandbreite seines Fachs - vom Aufbau des Nervensystems und seiner Bausteine, der Neurone, bis hin zu Fragen der Neuroethik. Ein Zeitstrahl zu jedem Thema erleichtert die Einordnung der meist chronologisch aufgebauten Beiträge. Costandi berücksichtigt auch neue Konzepte wie die Epigenetik und die Embodiment-Forschung, mentale Zeit reisen oder das bayesianische Prinzip des Vorhersagefehlers. Weniger erfreulich ist dagegen das lieblose Layout in Schwarzweiß sowie mancher kleine Schnitzer - so wird Neuroenhancement im Inhaltsverzeichnis als »Kognitive Verstärkung« bezeichnet. Unterm Strich bietet das Werk jedoch eine brauchbare Einführung ins Thema, die sich auch für Leser ohne besondere Vorkenntnisse eignet.

Steve Ayan
Bewertung: solide

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Dieter Wunderlich
Sprachen der Welt
Warum sie so verschieden sind und sich doch alle gleichen
[Lambert Schneider, Darmstadt 2015, 288 S., € 29,95]


Panorama der Sprachwissenschaft
Der Linguist Dieter Wunderlich liefert eine umfassende Bestandsaufnahme seines Fachs


Wer kann heute noch eine Wissenschaft vollständig überblicken oder, wie es in Stellenausschreibungen für Professuren so schön heißt, »das Fach in seiner ganzen Breite vertreten«? Niemand. Das gilt in besonderer Weise für die Sprachwissenschaft. Ihr Gebiet ist ja auch wahrhaftig uferlos: über den Daumen gepeilt 7000 lebende Sprachen, dazu etliche, die nicht mehr gesprochen werden, sowie solche, die überhaupt nie erklingen, Gebärdensprachen etwa. Sie alle wollen beschrieben, erfasst und zu Familien gruppiert werden.

In diesem Licht erscheint Dieter Wunderlichs Vorhaben höchst ambitioniert. Der emeritierte Professor für Allgemeine Sprachwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf versucht nichts weniger, als Laien seine Disziplin umfassend zu vermitteln, in ihrer ganzen Vielfalt und auf aktuellem Stand der Forschung. Wunderlich, der kürzlich mit dem Wilhelm-von-Humboldt-Preis für sein Lebenswerk geehrt wurde, hat somit eine gewaltige Herausforderung in Angriff genommen und meistert sie mit Bravour.

Linguisten befassen sich nicht nur damit, wie und wann Sprachen in ihr heutiges Verbreitungsgebiet kamen; wie sie in der Gesellschaft situiert sind; welche inneren Differenzierungen sie zeigen, etwa nach Dialekten; oder wie sie von anderen Sprachen geprägt werden. Die Forscher interessieren sich auch für die menschliche Sprache überhaupt. Welche Formen kann sie annehmen? Weist sie feste Grundmuster (Universalien) auf, und wenn ja, sind diese in bestimmten Hirnstrukturen angelegt? Wie ist das evolutionär entstanden?

Es scheint unmöglich, dass ein einzelner Mensch all dies auch nur annähernd überblicken kann. Dennoch muss man nach der Lektüre einräumen: Wunderlichs Buch ist hervorragend gelungen. Von historisch-vergleichender Sprachwissenschaft über Sprachtypologie und Universalienforschung bis hin zur Biologie der Sprachentstehung lässt es nichts aus. All das präsentiert der Autor wohlgegliedert, übersichtlich und verständlich.

Das Buch wird freilich nicht bei jedem auf Zustimmung stoßen. So ist Wunderlichs Vorstellung, es sei Aufgabe der Schrift, eine »adäquate Wiedergabe der Lautsprache zu ermöglichen«, aus gutem Grund angezweifelt worden. Nicht mehr allgemein akzeptiert ist auch sein Argument, es müsse ein spezifisches angeborenes »Sprachorgan« geben - denn was ein Kind an Kommunikation zu hören bekomme, reiche niemals aus, um seine Sprachfähigkeiten hervorbringen. Manche grafische Darstellung hätte man sich zudem ausführlicher und ansprechender gewünscht, etwa zur Verteilung der Sprachfamilien in Afrika und Ozeanien.

Diese Mängel wiegen aber nicht sehr schwer und beeinträchtigen den guten Gesamteindruck kaum. Wer sich für Sprachwissenschaft interessiert und einen überzeugenden Abriss des Fachs sucht, der ist bei Wunderlich an der richtigen Adresse. Nicht nur Laien, auch Fachleuten vermittelt das Buch zahlreiche überraschende Erkenntnisse.

Vera Binder hat Sprachwissenschaft studiert und forscht an der Universität Gießen.
Bewertung: solide

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Klaus-Jürgen Neumärker
Der andere Fallada
Eine Chronik des Leidens
[Steffen, Berlin 2014, 416 S., € 26,95]

Seit der Schulzeit litt der Schriftsteller Hans Fallada (eigentlich Rudolf Ditzen, 1893-1947) an psychischen Problemen. Ein medizinisches Gutachten attestierte ihm 1911 Züge einer »konstitutionellen psychopathischen Beschaffenheit«. Dreimal wurde der Schriftsteller in psychiatrischen Kliniken behandelt, mehr als 20 Aufenthalte in Heilstätten fur Nerven- und Gemutskranke sind dokumentiert. Auch saß er wegen Unterschlagung im Gefängnis, rauchte täglich bis zu 100 Zigaretten und war von Alkohol sowie Morphium abhängig. Zugleich schrieb Fallada bedeutende Romane wie »Kleiner Mann, was nun?«; zeitlebens schuf er fast 30 Bücher. Wie sehr sein Leidensweg und sein literarisches Werk einander bedingten, beleuchtet Psychiater Klaus-Jürgen Neumärker in seiner Fallada-Biografie. Er hat die Krankenakten des Schriftstellers ausgewertet und zeichnet das Bild einer schwer kranken, faszinierenden Persönlichkeit. Zudem beleuchtet er die Psychiatrie des frühen 20. Jahrhunderts.

Martin Schneider
Bewertung: solide

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Susan Neiman
Warum erwachsen werden?
Eine philosophische Ermutigung
Aus dem Englischen von Michael Bischoff
[Hanser Berlin 2015, 240 S., € 19,90]

Wer will heute noch erwachsen werden? Die US-Philosophin Susan Neiman postuliert eine verbreitete Abneigung dagegen. Bei Jüngeren herrsche die Auffassung vor, dass es ab 30 eigentlich nur noch bergab gehe. Für sie gelte es deshalb, die Jahre bis dahin zu genießen.

Neiman, die in Yale und Tel Aviv wirkte und heute in Potsdam lehrt, stützt sich sowohl auf empirische Studien als auch auf philosophische Werke - allen voran Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Dennoch darf man ihre These bezweifeln. Gerade die »ökologisierten« Post-68er, bei denen man Vorbehalte gegenüber dem »Establishment« noch am ehesten vermutet, fügen sich tatkräftig in den Kreis der Erwachsenen ein: Viele von ihnen gehören zum besser verdienenden Bürgertum.

Natürlich haben markenfixierte Zeitgenossen, die stundenlang nach dem neuesten Smartphone anstehen, etwas Kindisches an sich. Deshalb scheinen Unternehmer und auch Politiker derlei Hedonismus durchaus zu unterstützen - infantile Konsumenten lassen sich nun einmal leichter beeinflussen als mündige Bürger. Doch wenn Neiman gegen solche »Verbraucher« zu Felde zieht, greift sie eher den entfesselten Neoliberalismus an als die Weigerung, erwachsen zu sein.

Laut der Autorin ist die Kindheit gekennzeichnet durch naive Bejahung der Welt und die Fähigkeit zum Staunen. Den Erwachsenen seien diese Eigenschaften abhandengekommen. Dazwischen liege die Skepsis der Jugend. Sie ist Neiman zufolge nötig, um die kindliche Gutgläubigkeit zu überwinden. Gelänge es nicht, sie abzustreifen, verharre man in einer Ablehnungshaltung, die zu Verschwörungstheorien neige. Dann verbittere man zunehmend und bemühe sich nicht um Verbesserung.

Von Immanuel Kant dagegen könne man lernen, dass Vernunft und Erfahrung dabei helfen, sowohl die Kindheit als auch die Jugend hinter sich zu lassen. Die Philosophie erweise sich somit als Anleitung zum Erwachsenwerden. Bildung, Arbeit und das Herumkommen in der Welt seien für die persönliche Reifung sehr wichtig. All diese Gedanken klingen nicht besonders aufregend - und sind es auch nicht.

»Älter werden heißt erkennen, dass keine Zeit unseres Lebens die beste ist«

Die Autorin möchte gegen das Vorurteil ankämpfen, das Alter bringe in erster Linie Leiden und Borniertheit mit sich. Empirische Studien hätten ergeben, dass die Menschen im Alter zufriedener werden, während das gelobte Jahrzehnt zwischen 20 und 30 für viele eine schwierige Lebensphase bedeute. Vor allem aber hätten alte Menschen den Vorteil einer großen Lebenserfahrung sowie eines geschärften Urteilsvermögens. All das lasse sich nicht lehren, man müsse es üben. Und je länger man das mache, umso besser werde man darin. Neiman beschreibt die späteren Lebensabschnitte mit den Worten: »Älter werden heißt erkennen, dass keine Zeit unseres Lebens die beste ist, und den Entschluss fassen, jeden Moment erreichbarer Freude zu genießen. Sie wissen, dass sie alle vergehen werden, und Sie empfinden das nicht länger als Betrug.«

Trotz manchem interessanten Gedanken bringt das Buch insgesamt nicht viel Neues und wirkt zudem oft belehrend. Wenn Neiman Kritik äußert, dann überwiegend harmlos. Daher bleibt der Ertrag der Lektüre recht begrenzt.

Hans-Martin Schönherr-Mann lehrt politische Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Theorie der Bildung an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.
Bewertung: durchwachsen

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David K. Randall
Im Reich der Träume
Die rätselhafte Welt des Schlafes
Aus dem Englischen von Martina Wiese
[Springer Spektrum, Berlin und Heidelberg
2014, 334 S., € 16,99]



Was uns der Sandmann beschert
Wissenswertes über die Nachtruhe

Etwa ein Drittel unseres Lebens verbringen wir im Schlaf. Meist machen wir uns erst Gedanken darüber, wenn dieser aus irgendeinem Grund beeinträch tigt ist. So war es auch beim Wissenschaftsjournalisten David Randall. Er wusste kaum etwas über das Wesen des Schlummers - bis er beim Schlafwandeln gegen eine Wand lief und sich verletzte. Nach der unbefriedigenden Auskunft seines Arztes, da sei leider nichts zu machen, recherchierte Randall selbst. Herausgekommen ist das vorliegende Buch.

Der Autor beschreibt unter anderem, inwiefern sich unsere Schlafgewohnheiten von denen der Menschen im Mittelalter unterscheiden und was der Gebrauch von Glühlampen damit zu tun hat. Zudem geht er der Frage nach, wie sich die Anwesenheit eines Bettpartners auf die nächtliche Ruhe auswirkt. Später erfahren wir, was beim Träumen passiert und warum ausreichend Schlummer für unser Gehirn so wichtig ist. Schließlich widmet sich Randall einer Reihe von Schlafstörungen und gibt Tipps, wie man sie überwinden kann.

Offensichtlich hat der Wissenschaftsjournalist viel Herzblut und Recherche in sein Buch gesteckt - wohl, weil er persönlich betroffen ist. Mit Witz und Charme erörtert er das komplexe Thema, wobei er immer wieder eigene Erlebnisse einbringt, so dass ihm eine gleichermaßen fundierte wie anschauliche Darstellung gelingt. Fachlich stützt er sich auf neueste Erkenntnisse aus Medizin und Neurowissenschaft, wie die von ihm zitierten Studien belegen. Auch geschichtswissenschaftlichen sowie anthropologischen Studien widmet er sich, um zu zeigen, inwieweit die verschiedenen Disziplinen voneinander profitieren können. Randall kritisiert, viele Mediziner hätten einen fachlich eingeengten Blick und würden ihren Patienten allzu oft einfach Schlaftabletten verschreiben.

»Im Reich der Träume« ist fesselnd und vergnüglich zu lesen. Da verzeiht man es dem Autor gern, dass er hin und wieder etwas ausschweift.

Miriam Berger arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Köln.
Bewertung: exzellent

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Johannes Lindenmeyer, Thomas Lindenmeyer
Auch trinken will gelernt sein
Wie Sie Ihr Kind beim richtigen Umgang mit Alkohol begleiten (Beltz, Weinheim 2014, 144 S., € 16,95)

Johannes Lindenmeyer ist Psychologe und leitet eine Fachklinik für Psychosomatik und Sucht; sein Koautor und Bruder Thomas Lindenmeyer arbeitet als Kommunikationsberater und systemischer Coach. Gemeinsam informieren sie über die Wirkung von Alkohol und machen deutlich, wann und wie Eltern das Thema ansprechen sollten, um riskantem Konsum vorzubeugen. Auch erfahren die Leser, wie sie auf Exzesse ihres Nachwuchses reagieren können. Die Autoren empfehlen weder lange Moralpredigten noch strikte Verbote, vielmehr befürworten sie »überwachtes Ausprobieren« und raten Eltern, bei passenden Gelegenheiten mit ihren Kindern über Alkoholkonsum und seine Gefahren zu sprechen. Wie das ablaufen kann, zeigen sie an Beispielgesprächen, die mitunter etwas konstruiert wirken, aber nützliche Anregungen geben. Leider liefern sie selten wissenschaftliche Belege für ihre Aussagen und präsentieren zudem mehrfach unvollständige oder fragwürdig interpretierte Statistiken. Das Buch kann vielen Betroffenen helfen - doch harte Fakten vermittelt es kaum.

Melanie Nees
Bewertung: durchwachsen

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Ellen Mersdorf
Alles nur in meinem Kopf
Leben mit Obsessionen und Zwangsgedanken
[Balance, Köln 2014, 136 S., € 14,95]



Alltag einer Getriebenen
Wenn Zwangsvorstellungen das Leben dominieren

»Was wäre, wenn ich meinen Partner nicht mehr lieben würde?« Dieser Gedanke befällt die Autorin, die unter dem Synonym Ellen Mersdorf schreibt, kurz nach ihrem Examen. Bald kommen andere Ängste hinzu: »Ich könnte lesbisch sein« und »Ich habe bestimmt Krebs«. Erst Jahre später, nach erfolglosen Therapien und Psychiatrieaufenthalten, erfährt sie, dass sie an einer Zwangsstörung leidet. Diese manifestiert sich bei ihr in obsessiven Gedanken - nicht aber in Zwangshandlungen wie ständigem Händewaschen.

Lebhaft, persönlich und trotz des Themas oft humorvoll schildert Mersdorf ihre Krankheitsgeschichte. Dabei benutzt sie für Zwangsgedanken das Bild eines »Ohrwurms«, der sich im Kopf eingenistet hat. Diese Vorstellung scheint ihr dabei zu helfen, ihre Ängste als krankhaft zu betrachten - also nicht insgeheim zu glauben, dahinter stünden reale Bedrohungen. In dieser Einsicht liege ein wichtiger Schritt hin zur Besserung, schreibt die Autorin. Allerdings treibt sie den Ohrwurmvergleich so weit, dass man beim Lesen fast den Eindruck gewinnt, die Ursache der Störung sei tatsächlich ein Parasit. Psychopharmaka bezeichnet sie beispielsweise als »Wurmmittel«.

Vom Alltag in psychiatrischen Einrichtungen berichtet die Autorin ausführlich und überwiegend negativ. Auf Menschen, die selbst vor einer entsprechenden Behandlung stehen, dürften diese Schilderungen abschreckend wirken. Therapeuten dagegen kann das Buch helfen, sich in die Betroffenen einzufühlen und sensibler mit ihnen umzugehen - zumal Mersdorf auch Positivbeispiele nennt und darlegt, wie sie sich einen gelungenen Umgang zwischen Patient und Therapeut vorstellt.

Das Buch unterstützt Betroffene und ihre Angehörigen, indem es sie zum konstruktiven Gespräch über die Störung anregt und klar macht, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind. Mersdorfs Fall belegt: Trotz Zwangserkrankung kann ein annähernd normales Leben gelingen. Trotz wiederkehrender Rückfälle hat die Autorin mittlerweile zwei Kinder und arbeitet als Medizinjournalistin.

Mersdorf hat fachliche Hintergründe ihrer Krankheit recherchiert und gibt das gesammelte Wissen in dem Buch weiter. Leider verzichtet sie auf Quellenangaben und Literaturtipps. So kann man kaum unterscheiden, welche Informationen unter Experten anerkannt sind und welche nur den persönlichen Erfahrungen der Autorin entspringen. Zudem zeigt sie für viele Probleme, die sie thematisiert, kaum Lösungen auf. Wer einen Ratgeber erwartet, wird daher enttäuscht sein. Als eindringlicher Erfahrungsbericht ist das Buch jedoch lesenswert.

Elena Bernard ist Wissenschaftsjournalistin in Dortmund.
Bewertung: durchwachsen


Schaufenster - weitere Neuerscheinungen

Hirnforschung und Philosophie
- Häusel, H.G.: Top Seller Was Spitzenverkäufer von der Hirnforschung lernen können [Haufe, Freiburg 2015, 208 S., € 19,95]
- Johann, L.: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die Werbung [Grin, München 2015, 112 S., € 39,99]
- Northoff, G.: Wie kommt die Kultur in den Kopf, Eine neurowissenschaftliche Reise zwischen Ost und West [Springer Berlin, 2015, 248 S., € 19,99]
- Schymanski, I.: Im Teufelskreis der Lust, Raus aus der Belohnungsfalle [Schattauer, Stuttgart 2015, 264 S., € 24,99]

Psychologie und Gesellschaft
- Danzer, G.: Europa, deine Frauen, Beiträge zu einer weiblichen Kulturgeschichte [Springer, Berlin und Heidelberg 2015, 354 S., € 34,99]
- Rabhi, P.: Glückliche Genügsamkeit [Matthes & Seitz, Berlin 2015, 155 S., € 18,00]
- Schulz, C., Schnell, M.: Dem Sterben begegnen, 30 junge Menschen sprechen mit Sterbenden und ihren Angehörigen [Huber, Bern 2015, 169 S., € 19,95]

Medizin und Psychotherapie
- Buchenau, P., Nelting, M.: Burnout, Von Betroffenen lernen! [Springer Fachmedien,Wiesbaden 2015, 200 S., € 17,99]
- Fietze, I.: Über guten und schlechten Schlaf [Kein & Aber, Zürich 2015, 220 S., € 19,90]
- Holm-Hadulla, R.M.: Integrative Psychotherapie, Zwölf exemplarische Geschichten aus der Praxis [Klett-Cotta, Stuttgart 2015, 144 S., € 21,95]
- Marquardt, M., Demling, J.H.: Psychotherapie und Religion, Eine Erhebung unter Psychotherapeuten in Süddeutschland [LIT, Münster 2015, 374 S., € 34,90]
- Pollak, A.: Auf den Spuren Hans Aspergers Fokus Asperger-Syndrom: Gestern, Heute, Morgen [Schattauer, Stuttgart 2015, 65 S., € 14,99]

Kinder und Familie
- Brost, M., Wefing, H.: Geht alles gar nicht, Warum wir Kinder, Liebe und Karriere nicht vereinbaren können [Rowohlt, Reinbek 2015, 256 S., € 16,95]
- Joeres, A.: Vive la famille, Was wir von den Franzosen übers Familienglück lernen können [Herder, Freiburg 2015, 223 S., € 16,99]

Ratgeber und Lebenshilfe
- Bodenmann, G., Fux, C.: Einfach glücklich, Das Geheimnis einer erfüllten Partnerschaft und starken Beziehung [Stiftung Warentest, Berlin 2015, 224 S., € 19,90]
- Wawschinek, G.: Charisma fällt nicht vom Himmel, Wie Sie mit Coretelling andere für sich begeistern [Goldegg, Wien 2015, 248 S., € € 19,95]



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Quelle:
Gehirn und Geist 6/2015, Seite 80 - 86
URL: http://www.spektrum.de/pdf/80-86-gug-06-2015-pdf/1344234
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2015

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