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RATGEBER/041: Verletzen bis aufs Blut (welt der frau)


welt der frau 4/2008 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Verletzen bis aufs Blut

Von Michaela Herzog


"Ritzen" funktioniert mit Scherben, Rasierklingen, Messern oder Zigaretten. In der Wahl der Mittel sind Jugendliche, die sich selbst verletzen, nicht zimperlich. Wie mit Autoaggression umgehen?


Lena spürt, wie sich die Unruhe in ihr breitmacht. Wie der innere Druck zunimmt. Sie weiß genau, was nun kommt. Sorgfältig bereitet sie alles vor: Papiertaschentücher und eine Rasierklinge. Sie zieht den Ärmel des T-Shirts hoch und beginnt, die Narben am Unterarm aufzuritzen, bis sie das warme Blut spürt. Lena mag den brennenden Schmerz, wenn sie die Wunde mit Alkohol desinfiziert.

Bis jetzt hat ihr Verhalten niemand bemerkt, obwohl sie regelmäßig "ritzt". Durch Zufall hat die Sechzehnjährige entdeckt, wie gut das Gefühl der Entspannung danach tut. Doch das hält nur kurz. Dann tauchen die Schamgefühle auf. Das Leben spüren "Autoaggression", erklärt Mag.a Christa Schirl-Russegger, Verein Kinderhilfswerk, "hat für die betroffenen Jugendlichen die Funktion, sich in einer Krisensituation lebendig zu fühlen." Ein harmloser Streit mit dem Bruder, Anspannungen in der Schule, Krach mit den Eltern genügen, um bei Jugendlichen Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit zu verstärken. "Wenn sie keinen Ausweg aus ihrer Wut, Angst oder Verzweiflung sehen, kann eine innere Leere, Verunsicherung, Anspannung oder Selbsthass in das unwiderstehliche Gefühl führen, sich selbst zu verletzen." Tendenziell sind die Betroffenen eher weiblich. Die Therapeutin nennt das "Ritzen" an Unterarmen, Oberschenkeln oder am Bauch eine Krankheit, die behandelt werden soll. "Auch wenn keine schwer traumatischen Ereignisse oder familiären Dramen hinter diesem Verhalten stecken, sehe ich jede dieser Verletzungen als Schrei nach Hilfe und Beachtung."

Wie sollen Eltern reagieren, wenn sie das selbstverletzende Verhalten bei ihrem Kind entdecken? Bezugspersonen brauchen Aufklärung und Information. "Am besten wäre ein einfühlsamer Umgang mit dem Kind - statt Panik, Drohungen oder Vorwürfen." Doch aus Erfahrung weiß die Psychologin, dass es in den betroffenen Familien häufig an Grundvertrauen zueinander mangelt. "Unsere Behandlung zielt darauf ab, dass Konflikte und Aggressionen in der Familie oder im Umfeld des Kindes angesprochen und gelöst werden können." Dass sich das familiäre Klima verbessern kann, dazu braucht es die Geduld und Ausdauer aller Beteiligten.

Erste Erfolgserlebnisse

Die hellen Therapieräume des Kinderhilfswerks bieten den geschützten Rahmen für vertrauliche Gespräche. In den Sitzungen ist viel von Lebensvorstellungen, Ideen, Träumen und Wünschen der betroffenen Jugendlichen die Rede. Nicht immer sind da die Eltern mit dabei. Als ersten wichtigen Schritt sieht Schirl-Russegger, innere Spannungen durch harmlose Ersatzhandlungen abzubauen, um Selbstverletzungen so lange wie möglich hinauszuzögern. "Wenn es ein Jugendlicher, der sich täglich geritzt hat, schafft, das zwei Tage nicht zu tun, dann ist das ein echtes Erfolgserlebnis."


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Der Notfallkoffer - gegen den Drang sich selbst zu verletzen

In eine scharfe Chilischote oder in eine Zitrone beißen
Ein Gummiband am Handgelenk schnalzen lassen
Eiswürfel auf die Haut pressen
Einen "Igelball" an Armen oder Oberschenkeln reiben
Die Zeiträume zwischen den Verletzungen ausdehnen mit Musikhören, Malen, Aufschreiben, was durch den Kopf geht
Unbedingt das Gespräch mit einer Vertrauensperson suchen, zum Beispiel Freunde, Verwandte, LehrerInnen, Krisentelefon oder das Kinderhilfswerk (Tel. 070 79 16 17)
Eine Sportart zum Austoben suchen
Versuchen nachzudenken: Warum mache ich das? Welche Möglichkeiten gibt es noch, außer mich selbst zu verletzen? Was könnte mir jetzt Freude machen? Möchte ich es wirklich? Hilft es mir? Mögliche Folgen? Möchte ich mit diesen Folgen leben?

Verein Kinderhilfswerk, Beratungsstelle
Stifterstr. 28/4, 4020 Linz, Tel. 0732 791617
Unter www.kinderhilfswerk.at sind Kooperationspartner
in einigen Bundesländern angeführt.

Mag.a Christa Schirl-Russegger leitet seit drei Jahren den Fachbereich Therapie und Prävention des Kinderhilfswerks.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 4/2008, Seite 10
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
Redaktion: Welt der Frau Verlags GmbH
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Die "welt der frau" erscheint monatlich.
Jahresabonnement: 29,- Euro (inkl. Mwst.)
Auslandsabonnement: 41,- Euro
Kurzabo für NeueinsteigerInnen: 6 Ausgaben 8,70 Euro
Einzelpreis: 2,42 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2008